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letzung, übertreibt dabei natürlich und die Bullen sind wirklich besorgt und verunsichert, denn auf welcher rechtlichen Grundlage basiert unsere Festnahme eigentlich? Ich frage mich, was auf der Wache mit uns passieren wird, denke an meine Mutter, die seit der Haig-Demonstration fast täglich aus Westdeutschland anruft und sich Sorgen macht. Ich versuche, Ruhe zu bewahren: Ich bin ein Mensch und die hier sind auch Menschen. Wenn ich stark und aufrecht bleibe, wird mir nichts passieren - und mein Körper kann viel ertragen, wenn ich nur die nötige innere Kraft aufbringe. Ob es im 3. Reich auch so war?" Mit einem Mal hält die Wanne, man gibt uns die Ausweise zurück: "Ihr könnt froh sein, daß wir euch laufen lassen, ihr würdet sonst wegen Hausfriedensbruch und widerrechtlichen Eindringens auf Privatgrundstück eine Anzeige kriegen." Da mein Freund aber nicht laufen kann, fahren sie uns zur nächsten Telefonzelle, geben uns noch 2 Groschen und ich rufe den Notruf an. Meinen Freund setzen sie auf die Straße. Zehn Minuten später ist ein Krankenwagen da, wir landen im Urbankrankenhaus in Kreuzberg, wo die Krankenschwestern etwas von 74 Verletzten innerhalb der letzten zwei, drei Stunden erzählen.

Um vier Uhr morgens bin ich endlich wieder zu Hause, der Spuk ist vorbei - vorläufig, aber wie wird all das weitergehen?"

Kommentar

"Wenn man die Darstellungen der Presse vom 23.9.1981 mit dem tatsächlichen Geschehen vergleicht, werden die Verschweige- und Verleumdungstaktiken deutlich, mit denen die öffentliche Meinung manipuliert werden soll. Die Demonstranten werden als Störer und Politrocker bezeichnet als eine 'Minderheit', die mit der Gewalt begonnen hat, als Chaoten und Krawallmacher ohne geistigen Überbau.

Und genau das ist es, was die heutigen Auseinandersetzungen von denen der 60er Jahre unterscheidet. Nachdem die intellektuelle Revolution gescheitert war, wurden in den 70er Jahren Reformen im Schulwesen durchgeführt, die verhinderten, daß eine neue geistige Elite heranwachsen konnte. Systematisch hat man die Ausdrucksmöglichkeiten der Heranwachsenden geknebelt, sie in rücksichtslosem Konkurrenzkampf unterwiesen und ihre Opposition mit Konsumterror tot gemacht. Der heutigen Jugend sind keine ideellen Werte vermittelt worden, man hat sie nur gelehrt, das Leben mit einem unbefriedigenden materiellen Maß zu messen, man hat ihr Geborgenheit und liebevolle menschliche Zuwendung vorenthalten, man hat ihre Sprache geknebelt und verstümmelt und ihre einzige Möglichkeit, die Sehnsucht nach Liebe auszudrücken, besteht heute darin, Steine zu werfen und sich Straßenschlachten mit den gesetzlichen Vertretern der staatlichen Macht zu liefern.

Dem Resultat ihrer Erziehungspolitik steht die staatliche Macht jetzt fassungslos gegenüber. Nachdem der Staat eine durch und durch organisierte, kontrollierte, bürokratisierte Gesellschaftsordnung geschaffen hat, die für Widersprüche keinen Raum läßt, steht er jetzt einem unkontrollierbaren, ziellosen Ausbruch gegenüber, der die geheiligten Rechte der Wirtschafts- und Gesetzesordnung radikal angreift. Dieser Staat darf jetzt nicht zugeben, daß es längst nicht mehr darum geht, Hausbesetzer am widerrechtlichen Eindringen in 'Privateigentum' zu hindern. Vielmehr versucht er mit allen Mitteln, eine Opposition zu ersticken, die die von diesem Staat geschaffene Lebensform total ablehnt. Ginge der Staat nicht gegen diese Lebensform vor, müßte er eingestehen, daß er mit Hilfe des unbegrenzten Wirtschaftswachstums und rück-

 

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