Der Berliner Kessel

Die Einkesselung von über 500 Menschen am Freitag, dem 12. Juni 87 auf dem Tauentzien beschreibt eine der Eingeschlossenen:

Um ca. 14.30 h näherten wir uns zu Fuß der Kreuzung Kudamm/ Joachimstaler Str., um an einer Kundgebung gegen den Reaganbesuch teilzunehmen. Am Ort teilten die dort anwesenden Polizeikräfte mit, daß die angekündigte Veranstaltung im letzten Moment verboten worden sei und die sich dort versammelten Personen vom Kreuzungsbereich entfernen sollten. Spontan bildete sich ein kleiner Zug von Leuten, die auf der rechten Fahrbahn des Kudamms in Richtung Breitscheidplatz zogen. Sofort folgten die Polizeikräfte dem Zug und bildeten rechts und links ein Spalier, ließen den Zug aber weiter in Richtung Wittenbergplatz laufen. Die Teilnehmer/innen an dem spontanen Demonstrationszug liefen in Reihen, die Stimmung war ausgesprochen friedlich. Mit Sprechchören wurde gegen die US-Politik und das massive Polizeiaufgebot protestiert. Es handelte sich weder um überwiegend schwarz gekleidete noch um maskierte Personen.

Auf dem Tauentzien formierte sich eine Polizeikette. Der Zug stoppte, drehte spontan um und zog wieder in Richtung Joachimstaler Str.. Nach erneutem Wenden des Zuges vor dem Kreuzungsbereich Joachimstaler Str. liefen ein paar Leute aus dem Zug zum Bürgersteig auf dem Breitscheidplatz zwischen Gedächtniskirche und Ladenkarre (Tschibo, Nanu Nana usw.). Ein paar Polizisten liefen in dieselbe Richtung. Der Demozug stoppte für einen Moment, ging dann aber friedlich weiter Richtung Tauentzien.

Auf der Kreuzung Tauentzien/Nürnberger Str. wurde der Zug von Polizei endgültig gestoppt, indem sie ihn von allen Seiten einschlossen. Die eingeschlossene Gruppe versuchte durch Zureden der sie umringenden Polizisten und durch Rufe »Lasst uns frei!« in Freiheit zu gelangen. Durch Drücken und Schieben, aber ohne Gewaltanwendung von Seiten der Eingeschlossenen wurden die Polizisten an einer Stelle zur Seite gedrängt. Die Eingeschlossenen fanden sich jedoch lediglich in einem nun noch größeren von der Polizei abgeriegelten Kessel wieder, in den auch alle umstehenden Personen eingeschlossen waren.

Von Seiten der Polizei gab es keinerlei offizielle Anweisungen oder Durchsagen an die am Ort befindlichen Menschen, noch gab sie Informationen über ihr weiteres Vorgehen. Das Einschließen erfolgte um ca. 15.00 h. Es dauerte bis ca. 17.00 h, bis die erste Megaphondurchsage der Polizei abgegeben wurde. In der Zwischenzeit kam es zu folgenden Ereignissen:

Etwa 350 Menschen waren eingeschlossen. Um ca. 16.00 h durchfuhr ein Mannschaftswagen der Polizei ohne ersichtlichen Grund die Absperrungen, aus Richtung Breitscheidplatz kommend, und bewegt sich in die Menge der Eingeschlossenen. Daraufhin schlugen ein paar Leute mit den Händen auf das Fahrzeug, das kurze Zeit zum Stehen gekommen war. Aus der gegenüberliegenden Richtung (Nürnberger Str.) stürmte ein Trupp behelmter Polizisten mit langen Knüppeln in den Kessel hinein und schlug minutenlang auf die am Boden liegenden, um Hilfe bittenden und »Aufhören«-rufenden Menschen in der Nähe des Polizeiwagens ein. Zugleich wurden viele der am Rande befindlichen Leute von den in den Kessel stömenden Polizisten ebenfalls ohne erkennbaren Grund mit Knüppelhieben versehen. Eine Gruppe von Leuten fiel in dem Gedränge vor der Apotheke Ecke Nürnberger Str. zu Boden. Sie lagen kreuz und quer übereinander. Die sie umringenden Polizisten schlugen und traten blindlings auf sie ein. Mit dem Schlägerkommando verließ das Fahrzeug den Kessel.

In der Zeit bis 17.00 h gab es unzählige Versuche am Rande, von den Polizisten Gründe für die Freiheitsberaubung zu erfahren, oder durch Erklärungen, daß man zufällig in den Kessel geraten sei (was augenscheinlich oft zutraf), freigelassen zu werden. Fragen nach Dauer und Grund wurden ebensowenig beantwortet wie Fragen nach Dienstnummer, wenn jemand zu heftig versucht hatte in Freiheit zu gelangen und dafür Schläge und Stockhiebe einstecken mußte.

Durch den Vorfall mit dem Polizeifahrzeug waren einige so heftig durch knüppelnde Beamte verletzt worden, daß die anwesenden Demo-Sanitäter überfordert waren. Eine Frau und zwei Männer hatten Kopfverletzungen, die stark bluteten, ein Mann krümmte sich nach Tritten in die Nierengegend am Boden, einem Mann wurde der Arm verbunden. Zunächst wurde nur ein Krankenwagen von der Polizei in den Kessel gelassen, erst zögerlich dann noch weitere. Eine verletzte Person mußte eine halbe Stunde auf das Einlassen des Krankenwagens warten.

Zwei AL-Abgeordnete versuchten mehrmals vergeblich über ein Megaphon Kontakt mit der Polizeiführung aufzunehmen. Während der ganzen Zeit waren einige Kamerateams und viele Fotografen anwesend. Als ein Kamerateam der Polizei auftauchte, zogen zum ersten Mal wenige Leute ein Halstuch vors Gesicht.

Die Durchsage der Polizei um ca.17.00 hatte den Inhalt, daß die Eingeschlossenen in 10 bis 15 Minuten den Platz verlassen und in Richtung Lietzenburger Str. abziehen könnten. Eine halbe Stunde passierte daraufhin nichts, außer das die AL-Abgeordneten über Megaphon versuchten nachzufragen, wie die Abzugsmodalitäten aussehen und daß die Polizeikette ca. 20 Meter zurückging.

Um ca. 17.15 sagte ein AL-Sprecher, daß die Polizei die Leute nur einzeln herauslassen würde, wobei sie sich aber vorbehalten wollte, einzelne Leute nach Augenschein fetszunehmen. Er, der Sprecher habe einen »Kompromiss« ausgehandelt, wonach die Leute in 10er Gruppen gehen dürften, wobei die Polizei sich aber ebenfalls vorbehält, sich einzelne herauszupicken. Das wurde von der Menge mit dem Ruf »Alle oder keiner« beantwortet. Währenddessen kam an der Ecke Nürnberger Str. (Berliner Bank) ein unbewaffneter älterer Polizist ohne Helm in den Kessel und rief den Umstehenden ohne Megaphon zu, daß diejenigen, die ohne Absicht in die Absperrungszone geraten seien, sich dort einfinden sollten. Dies wurde von den wenigsten verstanden und niemand folgte seiner Aufforderung, zu deren Befolgung auch nur wenig Zeit bestand, da eine Minute später ein schon lange außerhalb der Kette weilender Polizeitrupp in grauen Uniformen (SEK) plötzlich durch die Polizeiketten stürmte.

Willkürlich wurden aus der am Boden sitzenden Gruppe von Eingeschlossenen nacheinander etwa 10 Menschen - auch mit Hilfe von Schlagstockeinsatz - aus der Menge gegriffen und in den Bereich ausserhalb des Kessels geschleppt. Teilweise zogen die Polizisten die Ergriffenen an den Haaren oder schleppten sie an Händen und Füßen über den Asphalt. Es war nicht zu sehen, was mit den Leuten weiter geschah, weil die riesige Menge von Polizisten und die dahinterstehenden Fahrzeuge die Sicht versperrten.

Als diese Aktion beendet war, es muß gegen 18. - 18.30 h gewesen sein, hatte es schon eine ganze Weile angefangen zu regnen und der Regen wurde immer heftiger. Viele Leute waren nur mit dünnen T-shirts und Sandalen bekleidet. Auch die etwas dicker Bekleideten waren mittlerweile bis auf die Haut durchnässt. Es schien, daß die Menge der Eingeschlossenen langsam abnahm.

Währenddessen kamen Polizisten ins Innere des Kessels und durchsuchten den Grünstreifen in der Mitte der Fahrbahn. Sie fanden einige durchnässte schwarze Mützen (ca. 10) und 2 bis 3 Paar Arbeitshandschuhe.

An einer Stelle der Kreuzung Tauenzien/ Nürnberger Str. wurden Leute einzeln abgeführt, die sich vorher in eine sich langsam durch Regen und Polizeispalier bewegende Schlange anstellen mußten. Die Polizisten trugen mittlerweile fast alle Regencapes und wurden mehrfach abgelöst.

Nach gründlicher Leibesvisitation - Männer und Frauen getrennt - und nach Personalienüberprüfung und -aufnahme (auf einem Formular wurde neben Angaben aus dem Personalausweis folgender Text notiert: »Teilnahme an einer verbotenen Demonstration und Widerstand«) wurden die überprüften Personen in der Passauer Str. in Richtung Lietzenburger Str. freigelassen.

Die Überprüfung geschah bei mir um ca. 20.15 h. Als ich den Kessel verlassen konnte, befanden sich noch etwa 100 Personen in den Polizeiketten.

Hinzuzufügen wäre noch, daß es von Seiten der Teilnehmer an der Spontandemo sowie von den später Eingekesselten während des gesamten Nachmittags und Abends keinerlei gewalttätige Aktionen gab.

Gedächtnisprotokoll vom 14.6.87


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