Schreiben jenseits der Klarheit

 Anlauf zur ambulanten Wissenschaft


"Denken reicht nicht aus, man muß etwas denken." Jules Renard

Der unmögliche Text entzieht sich Machbarkeitsuntersuchungen, Zielgruppenanalysen und dem zu erobernden Marktsegment. Er verkehrt außerhalb gesellschaftlicher Relevanz, Wissenschaftspolitik und Feuilletonkultur. Der unmögliche Text sucht seine Leser nicht, sondern hat sein Thema gefunden. Als Maxi-Essay findet er Wege, um dem Befehl zur Neuerung zu entkommen. Der gepackte Diskurs ist weniger ein Denktank, als eine Waagschale. Er weigert sich, das Vakuum, welches nach Kommunismus und Neuer Weltordnung zurückgeblieben ist, auszufüllen. Er flaniert durch die Leere der Post-Aktualität. Die Denker der Normalität haben die Zukunft verlassen und blicken von den im Bau befindlichen Ruinen nieder auf the sound and fury, die von den medialen Werkstätten aufsteigen. Jungtheoretiker mischen sich von Haus aus nicht in Debatten anderer, sondern wechseln minütlich ihre Überlegungen. Alle überlieferten Denksysteme können kurzzeitige Einblicke gewähren und befinden sich dadurch nie im Widerspruch. Strategische Essentialisten, Authentizitätserlebende, ironische losers, spirituelle Spitzenmenschen aus dem Firmenleben und andere Vagotypen der Moderne laufen dem Denken in einem Labyrinth von Kanälen nicht vor die Füße. Lesen und Schreiben hat mit Fernsehen gemein, daß es keine Identitäten produziert, es löst einen vom Ich und seinen sozialen Nebenwirkungen und Risiken.

Die neue Ernsthaftigkeit will den Essay jedoch zum Diskurs redigieren. Sie fordert klare Ausgangspunkte und unabweisliche Schlußfolgerungen. In Talkshows und Gesprächsrunden kann die Argumentation logisch rekonstruiert werden. Der Text ist wieder zurück bei seinem Gebrauchswert und soll Mitleid mit dem Publikum hegen. Die Skribenten sollten ihren in-vitro- Experimenten abschwören und erkennen, daß da draußen eine Wirklichkeit existiert, die auf intellektuellen Output reagiert. Die demokratische Weltgemeinschaft wartet nicht auf Dummschwätzer, Streber, Querulanten, Brillenschlangen und andere Schriftgelehrte. Sie möchte in einer starken visuellen Präsentation serviert bekommen, wie man all die gegenwärtigen Veränderungen durchschauen kann, ohne dabei seine geistige Umwelt zu verschmutzen. Man möchte gern die Folgen der Umwälzungen zusammengefaßt haben, um persönlichen Konsequenzen vorzukommen. Wie die Welt sich auch verändert, unser Bewußtsein wird nicht mehr dadurch berührt werden, das ist die tiefere Einsicht, die das 20.Jahrhundert gebracht hat.

Die Dekonstruktion ist ebenso wie die Semiotik eine Form des handwerklichen Lesens. Es ist kein intellektuelles Projekt, um die gesamte Kultur zu demontieren, sondern eine Fertigkeit, die man sich nur zu Eigen machen braucht, um danach selbst loszulegen. Sobald alles zerlegt ist, denkt man mit dem nicht- dekonstruierbaren Rest weiter. Die Textzerstörung entfesselt word processing. Die kritische Kasuistik führt in einem vielversprechenden Topos Probebohrungen durch und legt ein manisches Interesse für einen paradigmatischen Splitter an den Tag. Sie versucht möglichst viel über einen möglichst kleinen Anknüpfungspunkt zu sagen, ohne sich groß um das exegetische Feld darum herum zu kümmern. Sie liefert Präzisionsargumente über das Wie und nicht über das Warum der herbeigewehten Phänomene. Disziplinarforschung dagegen beschäftigt sich fulltime mit ihrem expanded theory toolkit, mit dem totalen Durchblick, und stellt allerlei partielle Fragestellungen in einen Zusammenhang, der einsichtig macht, warum etwas als Problem empfunden werden kann. Sie sucht nach einer arbiträren Methodologie, um Zusammenhänge zu suggerieren, die vorher nicht existierten. Sie erhebt keinen Anspruch auf eine Wahrheit und wird daher von den Denkschulen, die sie analysiert, als Pseudowissenschaft abgetan. Das negative Denken, das den Anspruch auf Einmaligkeit und Gültigkeit der real bestehenden Versuche, die Welt zu deuten, bestreitet, ist selbst eine fröhliche Wissenschaft par exellence. Medientheorie lacht sich kaputt über die Verbissenheit, mit der Filmtheorie, Germanistik, Kunstgeschichte oder Theaterwissenschaften ihre spezifischen extensions of man verteidigen und ihre Konkurrenten als Kulturverfall bekämpfen.

Innerhalb der Akademie für Ambulante Wissenschaften ist Medientheorie einer unter vielen im Aufbau befindlichen Studiengängen. Hier befindet sich auch das Zentrum für Meta-Realismus, den Fachbereich für touristische Epistemologie (mit all seiner Verschmutzung), ein Weltobservatorium, die Stiftung zur Förderung der illegalen Wissenschaften i.A., die Redaktion Geistiges Leben, der Theodor S. Sjerpstra- Fond, ein Nachtasyl, ein kontra-intuitives Politikkommissariat, ein Seitenausgang, das Dokumentationszentrum für verbreitete Quellen, der Rekreationsraum, das Bilwetmuseum, ein Teehaus für Kunstmaler, das Institut für Disziplinarforschung und die Vereinigung für fakultative Kasuistik. Weiterhin gibt es Studierzellen für Drogentheorie, Bewegungslehre, Verkehrswissenschaft und Cyborgologie. Das gemeinsame Programm ist die Expansion der Ambulanz. Der Output erhält das Prädikat 'Garantiert frei von Quengelei'. Hier wird mehr gefordert als ein klarer Blick. Das mittellose Philosophieren über das extra-textuelle Leben liefert Erkenntnisse, die man immer schon haben wollte, aber gerade vergessen hat. Die Akademie strebt nicht nach einer neuen Theorie über Alles und will ebensowenig alle möglichen Forschungsgebiete abdecken. Sie ist als provisorische Assoziation von Heimarbeitern immer darauf aus, das eigene Denken zu untergraben, und so zu verhindern, daß man in einer behaglichen Dissidentenkultur steckenbleibt. Sie möchte weder Kloster noch Burg sein, wo Wissen und Erkenntnis bewahrt und bereichert werden müssen oder von wo aus eine freudige bzw. kritische Botschaft verbreitet wird. Ambulante Wissenschaft stöbert guter Dinge in einem Garten voller Studienobjekte herum, in der Gewißheit, daß auch ein Leben ohne Theorie von Glück erfüllt sein kann.

Nach der Postulierung der Bewegungslehre und der Einrichtung des Medien-Archivs, gibt es nun allen Raum für die ambulanten Wissenschaften. Auf der Klausurtagung 1994 wählte die Akademie vier vorläufige Schwerpunkte: Fernsehen und Medien, der aktuelle Körper, AntiFa-Studien und submodernes Leben. Der Titel für die Frühschriften, den der Herausgeber aus berechtigten kommerziellen Gründen auf dem Umschlag haben wollte, stieß auf den nötigen Widerwillen, der sich als Kritik am modischen Konformismus der Bilwet- Strömung entlud. Der Vorwurf lautete, daß es hier wieder einmal um eine dieser beliebigen Mediengestalten ging, von denen es noch viele Dutzend in uns, unter uns und durch uns gibt. Das Wort 'Daten', das einigen noch aus der beschreibenden Statistik bekannt war, suggeriert, daß Bilwet sich den multimedialen Kapitalgruppen ausgeliefert hat und mit den Technofetischisten paktiert, während der Dandyismus als Tendenz schon vorher in falsche Hände gefallen ist und von den wirklich wichtigen Sachen ablenkt. Unter dem Motto 'es ist nur ein Datendandy' wünschte man dem Umschlag viel Erfolg beim Ablenken vom Inhalt.

Das Auseinanderhalten von Themen ist nicht Bilwets stärkste Seite, und so verfließen die vier genannten Rubriken vollkommen natürlich in diesen temporären Reportagen über Probebohrungen in Theoriefeldern. Es sind einige brisante Dossiers aus dem laufenden Archiv up-to-date gebracht worden. Die Praxis erhält Raum, sich in jede Richtung zu bewegen und wird nicht von ihrem unvermeidlichen Endpunkt aus zurückgedacht. Die Skribenten streben nach Gleichförmigkeit, ohne die Zugänglichkeit darunter leiden zu lassen. Die Quellen werden nicht trockengelegt noch abgeschirmt, sondern für eingehendere Grabungsarbeit erschlossen. Dieses Buch ist eine Ehrenbezeigung für die Fakten, so wie Bilwet sie akzeptiert. Getrieben von der Bitte um mehr Text, entsteht eine Wolke von gegenseitigen Verflechtungen und Zusammenhängen, die nicht vorhersehbar sind.

Alles ist theoriewürdig. Doch muß auf den begrenzten Denkrahmen dieser Originalausgabe hingewiesen werden. Bei der Auswahl der Artikel und geplünderten Quellen, wurde Rücksicht auf den deutschen Kontext genommen, in den Bilwet mit Vorbedacht geraten ist. Von den Niederlanden als Transithafen aus ist das teutonische Hinterland ein textuelles Schlaraffenland, wo sich die Prachtausgaben stapeln. Die prodeutsche Grundeinstellung von Bilwet ist sowohl daheim als auch unterwegs ein exotischer Luxus, der es möglich machte, heikle Themen lustvoll und in aller Un-schuld am Schlaffitchen zu packen. Es wird kein theoretischer Voyeurismus betrieben und die Bewältigung der Vergangenheit anderer ist genausowenig eine Aufgabe für die Polderdenker. Deutsche Texte sind ein ebenso spannendes Material wie das nordamerikanische, turbo- kroatische, belgische oder niederländische. Das Buch dreht sich um die nordatlantische Achse und diese strikte kulturelle Beschränkung schloß in diesem Zusammenhang eine Begegnung mit Frankreich, dem Kaukasus, Bengalen, den Malvinen, Japan, dem Levant (Sizilien) und Italien vorläufig aus. Es ist die Arbeitsweise der ambulanten Wissenschaft, einen Platz gleichermaßen zu erkunden als auch die Weiterreise anzutreten.

 Postscript (gezippt)DownloadPDF-Format 


zurück zum Inhaltsverzeichnis