Medien oder Barbarei


Immer öfter wird über 'Medien oder Barbarei' gesprochen. Haben wir es hier mit einer Wahl zu tun, einer Alternative, einer Drohung, einem Schlachtruf, einer Umfrage, einem Luxusproblem oder einem Werbeslogan für eine eigene Meinung?

Falls es sich um eine Wahl handelt, muß das Für und Wider beider Möglichkeiten erwogen und begründet, im folgenden dann die Verdienste der medialen Barbarei und der Gebrauch von Medien durch Barbaren oder von Barbaren durch Medien evaluiert werden, um schließlich eine fundierte und differenzierte Wahl treffen zu können. Die Spezialisten sorgen für Argumente und Hintergrundanalysen und die breite gesellschaftliche Diskussion zieht daraus ihre Schlüsse.

Hier geht es um Definitionen: als Barbaren können entweder alle Elemente betrachtet werden, die nicht an die Medien angeschlossen sind, oder genau diejenigen, die sich den Medien unterworfen haben. Beiden Definitionen gemeinsam ist, daß die Barbaren ihre Verantwortung einer außerpersönlichen Instanz übertragen haben, sei es dem Mythos, sei es den Medien. Zivilisation wird also als eine gesunde, ausgewogene Beziehung zwischen Wirklichkeit und Repräsentation aufgefaßt. Ausschließlich die materielle Wirklichkeit anzuerkennen liefe auf barbarischen Nihilismus hinaus und in blinder Illusion aufzugehen auf weltfremden Irrationalismus. Nur durch ein solides Wertepaket kann eine subtile Balance gefunden werden, sodaß objektives Handeln möglich bleibt. Die Wahl in Worte zu fassen mündet in das Bild des idealen mündigen Bürgers, der alle Verführungen des Totalitarismus in subtilen Synthesen wie aktive Gelassenheit, realistischer Idealismus, kritische Betroffenheit, wahres Interesse, gesellschaftliche Verantwortung, bewußtes Kaufverhalten und die Verbreitung einer differenzierten Meinung, überwunden hat.

Fassen wir Medien oder Barbarei als Alternative auf, dann werden die Medien als das stärkste psychotherapeutische Mittel betrachtet, um den letzten der nicht angeschlossenen Barbaren - von Analphabeten bis Moslems - zu heilen, als ob sie durch das Ansehen von Dallas und Twin Peaks vom Ballast ihrer prämedialen Geschichte befreit und definitiv in die Zivilisation der Marktdemokratie hineingezogen würden. Der Ankunft der Medien haftet immer der Schrecken an, daß ein militärisches Vorgehen oder eine humanitäre Hilfsaktion bevorsteht. Immer mehr Katastrophengebiete verweigern den Medien den Zugang, um das katastrophale Eintreffen der internationalen Hilfsdienste zu verhindern. Werden Kriegsschauplätze und Naturkatastrophen jedoch ausführlich gecovert, schichtet sich die Information zu einer solchen Dichte, daß auch der wohlwollende Bürger keine Konsequenzen mehr damit verbinden kann. Medien haben weder eine zivilisierende Wirkung auf diejenigen, die sie ins Bild bringen, noch auf die Zuschauer zuhause. Wenn Barbaren Medien nicht als Komplexitätsmultiplikatoren betrachten, sondern als Archive voller Beweismaterial, dann packen sie die Medienfrage auf eigene Weise an, die darin besteht, so viele Medienträger wie möglich abzuschießen. Jeder tote Journalist ist ein Sieg im Medienkrieg. Obwohl von Medien im Prinzip eine heilende Wirkung ausgeht, unterscheiden die Krisendenker immer zwischen alten Medien als Kulturträgern und neuen Medien als Barbareiproduzenten. Bücher, Theater, Bildung, Gastronomie, Photographie, Film und Ballett sollen alle schnöden Absichten vergessen lassen, während Computerspiele, Live-TV, Graffity, Video, Reklame, Lifestyle, Fanzines, Rap, House und Techno, Hollywood nach 1955, kurzum 'die populäre Kultur' oder 'die Postmoderne' die Aggression zur Norm erhebt. Die Prediger des guten Inhalts stellen die überraschende Behauptung auf, daß das Medium den Inhalt bestimme: gute Medien verbreiten Kultur, während schlechte Medien die dünne Lage Kultur von der blonden Bestie abschaben. Die postmodernen Relativisten und Simulationsadepten hätten die Grundfesten der westlichen Kultur verraten, weil sie neue und alte Medien als gleichwertig betrachten. Nach der politischen Kollaboration der Intellektuellen mit den falschen Ideologien, begehen sie nun ein vergleichbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem sie einen Pakt mit CNN, Coca- Cola und Nintendo schließen. Wenn die Massen die Medien in die Finger bekommen und das Programmangebot als Machtausübung der Elite entlarven, ist Schluß mit dem kulturellen Auftrag der literarischen Klasse. Die Elite muß sich dann wohl aus Selbsterhaltung hinter die hohen Mauern ihrer neuen Museen, Theater, Opernhäuser, Hauptgeschäftsstellen und Villenviertel zurückziehen. Wenn die Masse nicht aufgeklärt werden will, muß sie unter Bewachung gestellt werden.

Die Angst hinter der Frage 'Medien oder Barbarei' ist, daß die Menschheit ohne Vermittlung ganz schnell entgleist, und daß sie bestialische Triebe zeigt, wenn sie keine Bilder mehr bekommt, um sich davon abzulenken. Einerseits hielten die Medien die Meuten von der Straße fern, und es steht ihnen, in ihrer Eigenschaft als Opium für das Volk, ein lobenswerter Staat zu Diensten. Andererseits verdürben die Medien das Volk und stifteten es zur Gewalt, zum Satanismus und Natur- und Kulturvernichtung an. Die Beziehung zwischen Ursache und Folge wird wieder einmal völlig übersehen. Die Relativitätspraxis hat für eine virale Umwertung aller Werte gesorgt. Nicht der Übermensch hat sich angeboten, sondern der Untermensch ist in großer Zahl angetrabt gekommen. "Wenn die Summe aller materiellen Verwahrlosung mit der Summe aller Nachlässigkeit bei der Verteidigung von Anstand und Redlichkeit multipliziert wird, resultiert daraus der Krieg um die Straße, und dann steht jetzt schon fest, das der Anstand verlieren wird." Das Bürgertum fährt, solange es noch kann, mit den wildesten Ideen auf, zum Beispiel Zensur, Subventionsstop, Verbannung in die frühen Morgenstunden, Selbstkontrolle, pädagogische Kategorisierung, Altersempfehlung, Kodierung von Nacktbildern, ein Piepston über unzüchtigen Wörtern und andere Formen, um schädliche Daten zu verdecken. Die moralische Panik um anderer Leute Bewußtsein erhält jede Freiheit, um die schnöden Pläne des Mitmenschen, von Inzest, Betrug, Korruption, Drogenkonsum und Serienmord bis zu Autodiebstahl, außerehelichem Sex, Nationalismus und rassistischen Bemerkungen zu vereiteln. Man hält die Medien für imstande, aus dem Mitmenschen einen Barbaren oder ein sittliches Wesen zu machen. Die seichten Medien müssen wieder Tiefgang erhalten und die Frage ist, wieviel Gigabyte Aufklärung dazu nötig sind. Das Bestreben von political correctness geht nicht dahin, daß man selbst korrekt ist, sondern daß der andere korrigiert wird.

Aus dem Schlachtruf 'Medien oder Barbarei' der antimedialen Bewegung sprach noch eine echte Achtziger-Jahre-Mentalität, der Traum von der Vernichtung eines kommunikativen Weltreiches. Die Abreißer von Teleports und Mediaparks glaubten, daß ein kleiner Schuß negativer Energie der Demokratie gut täte. Ihre Devise wurde nun durch die aufkommenden Medienökologen zur Gleichschaltung 'Medien = Barbarei' gegeißelt und umgeformt. Alle Scheiße, die durch das Zusammenleben strömt, kommt aus den Medien. Eine Emissionsreduktion des i-smog soll zu einem sichtbaren Rückgang der multikulturellen Mißstände führen. Man arbeitet von außen nach innen: Gewalt und Verbrechen seien Geisteskrankheiten, die durch eine richtige und ausgewogene Datennahrung gebändigt werden können. Information macht den Menschen brünstig und das vielfältige Frequentieren von Multimedia verursacht eine Aufreizung, die ihren Ausweg in Richtung Mitmensch sucht. Nur die Implantation von innerer Ruhe kann das vermeiden. Nudistische Daten kommen ohne Dekoration aus (so wie Design) und streben nach einer natürlichen Erscheinungsform in einer geschützten Umgebung. Datendiätler möchten wieder einmal zu ihren höchst eigenen Kreationen kommen, ohne ständig von anderer Leute Tragödien und Ungeheuern belästigt zu werden. Seit die Information von der öffentlichkeit losgelöst und dem Markt für einen Apfel und ein Ei verkauft wurde, ging, den Medienökologen zufolge, alles grundlegend schief. Nur eine Diktatur kann das noch rückgängig machen, und dieses Dilemmas ist man sich gründlich bewußt. Die stringenten Maßnahmen können daher nicht mehr vom Propagandaministerium durchgeführt werden, sondern müssen durch die Denkpolizei erfolgen. Die Pressefreiheit hat die Grenzen der Demokratie durch die ungezügelte Verbreitung von Porno, Horror, Sensation, Klatsch, personality, soap, reality-tv, Quizsendungen und Skandalen erreicht. Die Qualität der Existenz wird durch die Quantität von pulp angegriffen. Der freie Markt muß gebändigt werden, ohne seine Prinzipien anzutasten. Man will die Auswüchse bekämpfen und dafür gern die Freiheit von anderen einschränken. Man kann Medien nicht verbieten, jedoch ihre Benutzer behindern, nicht durch Erziehung, sondern durch Disziplinierung. Demokratie ist Repression mit Zustimmung der Unterdrückten, das ist eine alte Wahrheit und die neue Einsicht.

Richtig spannend wird die Gegenüberstellung von Medien und Barbarei erst, wenn wir sie als Aufruf zur Entscheidung betrachten. Welches von beiden bildet den Ausnahmezustand, und wer ist der Souverän, der das entscheidet? Ist es der Hauptredakteur oder der Feuilletonschreiber? Ist es die programmachende Minderheit oder die schauende Mehrheit? Oder sind es die Medienmagnaten? Müssen wir auf eine Weltregierung warten, welche über die dringende Frage beschließen wird, ob Russland mehr Medien bekommen soll oder wir uns für einen zweiten Kalten Krieg bewaffnen? Müssen Waffenlieferungen in Dritte-Welt-Länder mit Wohlstand einhergehen, um zu verhindern, daß die Waffen benutzt werden? Die Folgen eines massenhaften Imports/Exports von Medien sind genauso unvorhersagbar wie das Ausfallen der Medien. Alle denkbaren Machtfragen und ökonomischen Analysen hängen in der Luft und haben keine Konsequenzen. Nur wenn 'unterkomplex' argumentiert wird, kann man noch etwas unternehmen, aber das wird von den Kennern "bereits im Vorfeld als naiv beiseite gewischt."

Nur auf Mikroniveau treffen wir noch self-made- Souveräne, die stolz auf ihre erworbene Kontrolle über die remote controle sind. Innerhalb der selbstdefinierten private reality fallen noch verhängnisvolle Nano-Entscheidungen. Die Entscheidung ist innerhalb dieses Reservats eine modische Geste, mit der man sich die nötige Eigenheit verschafft. Es ist das coming out des Entscheidungswillens; kein Beschlußaufschub, sondern ein Beschlußantrag. Staat und Kapitalismus sind plumpe Strukturen und Mechanismen eines monokausalen Gesellschaftssystems aus der Ara vor der Interaktivität, Begriffe aus einer schönen Zeit, als man sich noch über etwas streiten konnte.

Das Auskotzen des zwanzigsten Jahrhunderts ist schon ein gutes Stück vorangeschritten, selbst wenn es noch einiges zu erwarten gibt von diesem so aktiven Zeitalter. Es erhebt sich die Frage, ob die absoluten Barbareirekorde von 1939-45 nun übertroffen werden sollen oder nicht. Es fragt sich, ob die Fluchtgeschwindigkeit, mit der wir das 20.Jahrhundert verlassen können, erreicht wird, und wir auf Reisen gehen werden, oder ob wir in die ewige Wiederkehr des gleichen 20.Jahrhunderts geraten, oder ob das Raumschiff Erde crasht. Nachdem man erst die Moraste trockengelegt hat, um Ackerland zu gewinnen, setzt man nun das Ackerland unter Wasser, um Neo-Moraste anzulegen. Vor mindestens zwanzigtausend Jahren wurde der letzte Barbar zivilisiert. Aller Horror und Genuß ist das Produkt der Firma Zivilisation & Fortschritt. Es ist keine Rede davon, daß etwas von außerhalb in die Zivilisation eindringen könnte. Die Angst und der Wunsch, daß die Zivilisation von innen heraus angegriffen und ausgehöhlt werden kann, ist selbst ein kultureller Höhepunkt, der unter Zuhilfenahme von viel Technik dargestellt wird. Es ist eine alte griechische Weisheit, daß die Tragödie ein wunderbares Theatergenre ist. Kein Dionysos ohne Apollo, kein Sarajevo ohne Dallas. Die Krise ist ein guter Tip, muß es aber nicht sein. Die Frage ist nicht, ob die Barbaren an der Haustür rütteln, sondern was wir mit all der Technik machen wollen, die uns zur Verfügung steht. Sobald die Krise ernst genommen wird, ist man vom richtigen Weg abgekommen und kann nichts tun, als sie zu verinnerlichen und das Ende der Ideologie, der Geschichte, der Feindbilder und den Tod des Subjekts nochmals persönlich zu erleben. Füge das 20.Jahrhundert in dein Medienarchiv und blättere es an einem freien Wochenende nochmals durch. Die Menschen, die künstlich in ihren Perspektiven weiterleben, werben für eine verpaßte Chance, die nie erwünscht war. Die Welt nach den Medien ist nicht voller Barbaren, eher voller business men. Ihre Spekulationsgeschäfte sind die neue Herausforderung.

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