1.4 1989-95: Hausbesetzungen in Ost- und Westdeutschland

1.4.1 Hausbesetzungen in Ostdeutschland

Während die HausbesetzerInnenbewegung im Westen der Republik seit Mitte der achtziger Jahre stagniert, stellt sich die Situation in Ostdeutschland (bis zum 3.10.90: DDR) völlig anders dar. Im Zusammenhang mit der sehr speziellen Umbruchsituation kommt es zwischen Dezember 1989 und September 1990 vor allem in den großen DDR-Städten wie Ostberlin, Leipzig oder Dresden zu hunderten von Hausbesetzungen, die von den Behörden meist geduldet werden. Mit der ‘Wiedervereinigung’ BRD und DDR am 3. Oktober 1990 ändert sich diese Situation, wie das Beispiel der (halb)militärischen Räumung der Mainzer Straße in Berlin im November 1990 zeigt. Nach einer Schilderung der Verhältnisse in der DDR 1990 beschreiben wir im folgenden die Besetzungen auf der Mainzer Straße und im Leipziger Stadtteil Connewitz.
Nach vereinzelten Wohnungsbesetzungen seit Anfang der achtziger Jahre wird im Sommer 1989 das erste Haus in Ostberlin besetzt. [1372] Diese Besetzung wird allerdings erst im Oktober 1989, in der Umbruchphase der DDR, öffentlich gemacht. Die öffentlichen Reaktionen auf diese Besetzung sind fast durchweg positiv. Die Medien berichten ausführlich über die Ziele der BesetzerInnen und über Treffen zwischen VertreterInnen des Hauses und staatlichen Stellen. [1373]
Durch den Zuspruch der Öffentlichkeit und die Verhandlungsbereitschaft kommunaler Stellen ermutigt, werden bis zum Frühjahr 1990 allein in Ostberlin ungefähr 120 Häuser instandbesetzt, davon 15-20 im Bereich der Straßen Niederbarnim-, Kreutziger- und Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain. [1374] Auch in etlichen anderen DDR-Städten, etwa in Dresden oder in Leipzig [1375], wo im Stadtteil Connewitz ganze Straßenzüge besetzt werden, kommt es im Winter und Frühjahr 1989/90 zu unzähligen spontanen Besetzungen von Häusern. Auch hier zeigen sich die verantwortlichen DDR-Behörden, meist kommunale Wohnungsgesellschaften, überwiegend verhandlungsbereit. Bis zur ‘Vereinigung’ BRD-DDR am 3. Oktober kommt es, wenn überhaupt, nur zu vereinzelten Räumungen von besetzten Häusern auf dem Gebiet der noch existierenden DDR, obwohl beispielsweise für Ostberlin schon am 24. Juli 1990 die ‘Berliner Linie’ [1376] verkündet wird. In Ostberlin stehen 1990 schätzungsweise 25.000 Wohnungen leer [1377], “mehr als doppelt so viele Menschen drängen sich auf dem Wohnungsmarkt, und ca. 1.000 Wohnungen haben BesetzerInnen wieder bewohnbar gemacht .”[1378]
Bis zur Räumung der Mainzer Straße am 14. November 1990 sind weniger Konflikte mit staatlichen Stellen als vielmehr die zahlreichen Übergriffe von Neonazis und Hooligans auf besetzte Häuser und deren BewohnerInnen das zentrale Problem von HausbesetzerInnen in der (Ex)DDR. Es existieren zahlreiche Berichte aus ostdeutschen (Klein)Städten, in denen BesetzerInnen, oft (linke) Jugendliche , “Waves, Punks und Normalos [1379], massive Angriffe auf von ihnen besetzte Häuser beschreiben. Jugendliche BesetzerInnen eines Hauses in Zerbst rekonstruieren die Ereignisse der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990: “Danach kam eine Gruppe von 200-250 Leuten auf das Haus zu. Mit Sprüchen wie ‘Sieg Heil’, ‘Oi Oi Oi’, ‘Steckt die roten Schweine an’ und und und ... (...) Es gab auf beiden Seiten Verletzte, zum Teil erhebliche Körperschäden. Als sie um 22.45 Uhr es immer noch nicht geschafft hatten, gelang es drei Rechten im Erdgeschoß (...) mit Hilfe von Sprit ein Feuer zu legen. Dieses Feuer konnte schnell übergreifen bis in den letzten Stock. Wir mußten uns auf das Dach zurückziehen, aber selbst dort kämpften wir noch weiter mit Steinen und Mollis (...). Wir hatten, weil doch noch immer keine Sirene zu hören war, uns darauf vorbereitet, da oben zu verbrennen. Wir hatten schon Rasierklingen verteilt, damit wir nicht bei vollem Bewußtsein verbrennen mußten. (...) Doch dann hörten wir die Sirene. Die Feuerwehr kam und beim Springen vom Haus verletzten sich 5 unserer Leute so schwer, so daß sie sofort ins Krankenhaus kamen .”[1380] Nach Aussagen der BesetzerInnen aus Zerbst, aber auch aus anderen DDR-Städten, greift die Polizei bei derartigen Vorfällen meist nicht ein : “Die Polizei hatte die ganze Zeit aus Entfernung zugeguckt und die Hilfe verweigert .”[1381] In anderen Städten werden allerdings teilweise ‘Sicherheitspartnerschaften’ zwischen Polizei und linken HausbesetzerInnen vereinbart, so etwa in Leipzig-Connewitz oder in Berlin-Friedrichshain, wo besetzte Häuser zumindest zeitweilig von Polizeikräften gegen die Angriffe von faschistischen Jugendbanden geschützt werden. [1382]
Ein bis 1990 unbekanntes Phänomen sind Hausbesetzungen von rechten, neofaschistischen Gruppen. Das bekannteste Beispiel ist das Haus Weitlingsstr. 122 in Ostberlin, das Faschisten eine Zeit lang als Zentrale und Ausgangspunkt für Krawalle und brutale Angriffe auf besetzte Häuser, ‘Linke’ und ArbeitsmigrantInnen dient. Aufgrund der dürftigen Quellenlage werden wir jedoch auf diesen Punkt nicht weiter eingehen. [1383]

1.4.1.1 Die Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain

Im April 1990 werden in der Mainzer Straße und umliegenden Straßenzügen ca. 20 leerstehende Wohnhäuser von einer überwiegend aus Westberlin stammenden Gruppe [1384] besetzt. In Verhandlungen mit der Bezirksverwaltung und dem Magistrat (Ost) versuchen die BesetzerInnen, Nutzungverträge für ihre Häuser abzuschließen.
Nach monatelangen, ergebnislosen Gesprächen werden die Verhandlungen am 8. Oktober - fünf Tage nach der ‘Wiedervereinigung’ - vom Magistrat abgebrochen. Kommunale Stellen machen die ‘nicht vorhandene Verhandlungsbereitschaft’ der BesetzerInnen für das Ende der Gespräche verantwortlich - die BesetzerInnen ihrerseits werfen den zuständigen Stellen mangelnde und nicht geklärte Kompetenz(en) - bedingt durch ständig wechselnde GesprächspartnerInnen - vor. Außerdem, so die BesetzerInnen, habe der Magistrat “auf Weisung von oben [1385] die Verhandlungen abgebrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die BesetzerInnen “verschiedene Einrichtungen der Szene, z.B. das Infocafe, die Food-Coop, Antiquariat, Laden, Vesammlungsräume, mehrere Kneipen [1386], aufgebaut. Nachbarn und Interessierte besuchen die Häuser, etliche bringen Verpflegung und Einrichtungsgegenstände vorbei.
Am 12. November kommt es in dem Ostberliner Bezirk Lichtenberg zu ersten polizeilichen Räumungen der besetzten Häuser Pfarrstr. 110 und 112, die noch relativ friedlich verlaufen. Nur einige Stunden später versucht dann die Berliner Polizei, die Häuser auf der Mainzer Straße zu räumen. Im Verlauf des Montag Vormittag dringt ein großes Polizeiaufgebot mit Wasserwerfern, Panzern und Spezialfahrzeugen in die Mainzer Straße ein. Innerhalb kürzester Zeit errichten die BesetzerInnen daraufhin Barrikaden aus Baumaterial, Stahlträgern und Gehwegplatten. Nachdem sie Verstärkung angefordert haben, versuchen die Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern, die Barrikaden zu stürmen. Angesichts der plötzlichen Eskalation herbeigeeilte politische FunktionsträgerInnen, wie Senatsabgeordnete oder der Bezirksbürgermeister, versuchen, zwischen den ‘Fronten’ zu vermitteln. Die Polizeiführung lehnt allerdings alle Gesprächsangebote ab - der Bezirksbürgermeister wird sogar durch Wasserwerferbeschuß gezwungen, in die abgesperrte Mainzer Straße zu flüchten. “Noch am Montagnachmittag habe die Friedrichshainer Wohnungsbaugesellschaft versichern lassen, es gebe keine Räumungsbegehren für die Häuser in der Mainzer Straße. Dienstag nachmittag habe dann plötzlich ein Räumungsbegehren vorgelegen [1387], berichtet Bernadette Kern vom Bündnis90 in Friedrichshain. In der anschließenden, fast 15 Stunden andauernden Straßenschlacht gelingt es den BesetzerInnen, die Polizei zum vorläufigen Rückzug zu zwingen. [1388] Noch während der Nacht vom 13. auf den 14. November werden in Friedrichshain tausende von PolizistInnen zusammengezogen, darunter Hundertschaften aus den SPD-regierten Bundesländern NRW und Niedersachsen sowie Spezialeinheiten des Bundesgrenzschutzes. [1389] “In den Morgenstunden des Mittwochs begann dann der Sturmangriff von 3.000 Polizisten mit Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern .”[1390] Die Polizei geht dabei äußerst brutal vor - selbst vor Schußwaffengebrauch wird nicht zurückgeschreckt. [1391] Nach ca. 2 Stunden ist die ‘Schlacht um die Mainzer Straße’ beendet, ungefähr 300 BesetzerInnen sammeln sich in mehreren Häusern. Obwohl die BesetzerInnen sich nicht mehr wehren, berichten AugenzeugInnen, daß etliche Polizisten “ sich brutal an allen aus [tobten], die sie erwischen konnten. In einigen Häusern schlugen sie auf alle Anwesenden ein, sie zertrümmerten ihnen Arme und Beine, ein Milzriß, viele weitere innere Verletzungen usw. (...) Es ist schwer, diese Brutalität hier zu beschreiben. Das Wort ‘menschenverachtend’ ist zu harmlos dafür .”[1392] Nach Polizeiangaben sind bei den Auseinandersetzungen fünf Polizisten und 15 HausbesetzerInnen verletzt worden. 300 bis 400 BesetzerInnen werden festgenommen. Noch am selben Nachmittag erklärt der Regierende Bürgermeister Berlins, Walter Momper (SPD), auf einer Pressekonferenz, “das Verhalten ‘der militanten Hausbesetzer’ in der Mainzer Straße sei ‘eine der schwersten Herausforderungen für die Landesregierung und die Berliner Polizei’ gewesen .”[1393] Der direkte Verantwortliche für den Polizeieinsatz, SPD-Innensenator Pätzold, erhält Rückendeckung von der gesamten SPD-Fraktion.
Dagegen herrschen bei Ostberliner PolitikerInnen Verärgerung und Frustration vor. Der stellvertretende Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Zoels erklärt , “die SPD habe sich wohl kurz vor den Wahlen noch einmal als ‘Saubermann’ präsentieren und ein paar Häuser räumen wollen .” Zoels weiter: “‘Wir interessieren die überhaupt nicht, (...) wir sind letztlich ein okkupiertes Land .”[1394]
Die martialische Räumung der Häuser war in der Tat ein Alleingang der SPD. Noch nicht einmal der Koalitionspartner der SPD, die Alternative Liste (AL), war von den geplanten Räumungen unterrichtet worden, was zu einem Austritt der AL aus dem als ‘Reformkoalition’ angetretenen Bündnis führt. [1395]
Bei den ersten gemeinsamen Wahlen in Ost- und Westberlin im Dezember 1990 verlieren SPD und Grüne die absolute Mehrheit. Stärkste Partei wird mit 40,4 % die CDU, die nun mit der SPD (30,4 %) eine Große Koalition bildet. Die FDP erreicht nur 7,1 % und eignete sich damit nicht als Mehrheitsbeschafferin. Die AL schafft mit 5,0 % gerade eben den Wiedereinzug in den Senat. Erstmalig ist auch die PDS mit 9,2 % der WählerInnenstimmen, die sie fast ausschließlich im Ostteil der Stadt erhält, vertreten. [1396]

1.4.1.2 Leipzig-Connewitz

Exemplarisch soll an dieser Stelle auch kurz auf die Entwicklungen in der zweitgrößten Stadt der ehemaligen DDR, Leipzig, eingegangen werden. 1989 verfügt Leipzig über die - negative - Spitzenposition “ unter allen Großstädten der DDR als die mit der morbidesten technischen Infrastruktur, der höchsten Umweltbelastung und den kompliziertesten Verkehrsverbindungen (...). Hinzu kommen der katastrophale Verfall der Altbausubstanz, eine deprimierende Versorgungslage und ein vor dem eigenen Kollaps stehendes Gesundheits- und Sozialwesen .”[1397] Auch beim Neubau von Wohnungen herrschen katastrophale Zustände. Am 23. Oktober 1989 informiert der letzte Bauminister der DDR, Wolfgang Junker, nach “einer Beratung mit Vertretern des Rates des Bezirkes und Oberbürgermeister Ernst Seidel über die weitere Entwicklung der zweitgrößten Stadt der DDR (...), daß für 1990 der zusätzliche Neu- bzw. Ausbau von 300 bis 400 (!) Wohnungen vorgesehen ist ”.[1398] Gleichzeitig zerfällt ein großer Teil der Bausubstanz in der Innenstadt zusehends.
Noch zu DDR-Zeiten planen die Behörden, in Alt-Connewitz einen Großteil der alten Häuser für die Neubebauung mit Plattenbauten durch die Nationale Volksarmee abreißen zu lassen. Schon zu dieser Zeit kommt es, wie auch in Berlin, zu ersten ‘stillen’ Besetzungen. Im Frühjahr 1990 werden in der Stöckartstraße in Connewitz über 14 Häuser besetzt, die als Verbund Connewitzer Alternative von der Stadt Leihverträge für die Häuser erhalten. Die Abrißpläne werden durch die Besetzungen und die unsichere weitere Entwicklung in Stadt und Land ebenfalls in diesem Frühjahr gestoppt. Im Verlauf des Jahres 1990 kommt es zu mindestens 13 Überfällen von Faschisten - teilweise in Gruppen von mehreren hundert Personen - auf besetzte Häuser in Connewitz. [1399] Nach längeren Verhandlungen werden zwischen Stadt und den BewohnerInnen der Connewitzer Alternative 1992 schließlich Mietverträge mit nur fünfjähriger Laufzeit abgeschlossen. Gleichzeitig verkündet die Stadt die ‘Leipziger Linie’, die besagt, daß keine Neubesetzungen mehr geduldet werden. Die Stadt wendet diese ‘Linie’ in den folgenden Jahren bei allen nicht ‘still’ besetzten Häusern und Fabrikhallen (Kulturprojekten) konsequent an. Vor allem in den Jahren 1992 und 1994/95 kommt es deshalb zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei, die teilweise in Straßenschlachten münden. “Die Widersprüche werden sich im Zuge der Stadtsanierung und des Auslaufens der befristeten Mietverträge 1997 für den Großteil ehemals besetzter Häuser verschärfen. (...) Die Stadt fährt zur Zeit eine Befriedungspolitik. Über alles kann ja geredet werden. (...) The future is unwritten! [1400]

1.4.2 Hausbesetzungen in Westdeutschland

Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre sind die großen Zeiten des Häuserkampfes, in denen Hausbesetzungen noch von einer Massenbewegung getragen wurden, vorbei. Zwar kommt es vor allem in Großstädten wie Hamburg, (West)Berlin oder Köln immer wieder zu Hausbesetzungen, die allerdings meistens von einer relativ überschaubaren Szene durchgeführt werden. Sie besitzen lange nicht mehr die Sprengkraft früherer Besetzungen, wie z.B. 1981 in West-Berlin. In den meisten Städten werden neu besetzte Häuser bereits nach kurzer Zeit wieder geräumt. Die meisten Überbleibsel der Häuserkampfbewegung der achtziger Jahre sind längst mit Mietverträgen ‘ruhiggestellt’.

1.4.2.1 Die Hamburger Hafenstraße II

Der erste Teil der sehr speziellen Geschichte der Hafenstraße ist im Kapitel über Hausbesetzungen in den achtziger Jahren beschrieben worden. Wir werden uns nun mit der auch in den neunziger Jahren sehr wechselvollen und konfliktreichen Geschichte der ehemals besetzten Häuser beschäftigen. Interessant finden wir vor allem die jüngsten Entwicklungen: Die GenossInnenschaftsgründung und die bevorstehende Übernahme der Häuser durch diese GenossInnenschaft.
Im Mai 1990 erklärt der Hamburger Verfassungschef Lochte erneut, unter den BewohnerInnen der Hafenstraße befänden sich UnterstützerInnen der RAF. Bei einer Hausdurchsuchung war Material gefunden worden, das die Äußerungen Lochtes belegen sollte. Trotz einer sofortigen Gegendarstellung der BewohnerInnen erhält der zur Räumung der Häuser entschlossene Teil der Hamburger Bürgerschaft neue politische ‘Munition’. Am 7. Januar 1991 erklärt eine Zivilkammer des Hamburger Landgerichts die dritte von insgesamt fünf fristlosen Kündigungen der städtischen Hafenrand GmbH gegen den Verein Hafenstraße für rechtmäßig. “Damit hat der seit April 1989 währende Rechtsstreit um die ‘schwärende Wunde’ (Voscherau) ein vorläufiges Ende gefunden .”[1401] Die Stadt will die BewohnerInnen so schnell wie möglich räumen lassen und die Häuser unmittelbar danach abreißen. Allerdings bezweifeln MietrechtsexpertInnen, ob die Stadt - die lediglich den Räumungstitel gegen den Verein Hafenstraße in der Tasche hat - auch die einzelnen MieterInnen räumen lassen darf. Dazu “müßten Räumungsurteile gegen jeden einzelnen Bewohner vorliegen ,”[1402] so ein Experte des Vereins ‘MieterInnen helfen MieterInnen’.
Am 4. November 1991 bestätigt das Oberlandesgericht Hamburg die im Januar gerichtlich festgestellte Rechtmäßigkeit der Kündigung des Pachtvertrages. In der Urteilsbegründung heißt es, “schon die mehrfache Weigerung des Vereins Hafenstraße, Namenslisten aller Bewohner herauszugeben, sei ein ‘wichtiger Grund’ für eine fristlose Kündigung .”[1403]
Allerdings müssen nun in über 100 Einzelklagen gegen namentlich bekannte BewohnerInnen gerichtliche Räumungstitel beschafft werden, bevor geräumt werden darf. Bereits bei dem ersten Prozeß gegen fünf UntermieterInnen des Vereins Hafenstraße erleidet die städtische Hafenrand GmbH eine Schlappe: Das Hamburger Amtsgericht weist die Räumungsklage am 13. Februar 1992 als nichtig ab. [1404] Nachdem der neue Hamburger Verfassungsschutzchef Ernst Uhlau am 21. Februar “Entwarnung für die Hafenstraße [1405] meldet und sich vor Gericht eine weitere Schlappe für die Stadt anbahnt [1406], signalisieren Teile der Hamburger SPD vorsichtige Gesprächsbereitschaft.
Nach mehreren gerichtlichen (Teil)Räumungsverfügungen - z.B. am 5. November 1993 durch das Hamburger Landgericht [1407] - und (Teil)Räumungen durch die Polizei - z.B. am 25. November 1993 in der Hafenstr. 110 [1408] - kündigt sich Ende Dezember 1993 eine Entspannung der Situation an. Der Chef des neuen SPD-Koalitionspartners ‘Statt-Partei’ drängt auf eine friedliche Lösung des seit Jahren schwelenden Konflikts. “‘Die Gespräche werden weitergeführt’, sagt Markus Wegner, dessen Statt-Partei intensiver als die SPD-Fraktion an einem Dialog mit den Alternativos am Hafenrand interessiert ist .”[1409]
Bereits im Frühjahr 1993 werden erstmals Pläne der Stadt bekannt, in den Baulücken zwischen den Hafenstraßen-Häusern Sozialwohnungen zu bauen. [1410] Als Reaktion gründen die Hafenstraßen-BewohnerInnen im Juni 1993 eine GenossInnenschaft, die ein alternatives, stadtteilnahes Bebauungskonzept für das Gebiet erarbeiten will. [1411]
Nach Jahren des Kleinkrieges vollzieht SPD-Bürgermeister Henning Voscherau, dem die Hafenstraße stets auch persönlich ein Dorn im Auge war, am 25. Februar 1994 eine 180-Grad-Wende. “Ein ‘spürbarer Stimmungsumschwung’ in der Stadt und eine unzweifelhafte ‘Entspannung’ in und um die Häuser lege es nahe, sich ein dem ‘Grundsatz der Verhältnismäßigkeit’ verpflichtetes, ‘zweckentsprechend aktualisiertes Verfahren’ zu überlegen .”[1412] Bei dieser Entscheidung dürfte sowohl der im Koalitionsvertrag mit der Statt-Partei festgeschriebene Räumungsverzicht als auch der tatsächliche ‘Stimmungsumschwung’ in der Hamburger Bevölkerung eine Rolle gespielt haben. [1413] Allerdings wird städtisches ‘Wohlwollen’ unmittelbar von der Duldung der Bebauungspläne (Sozialwohnungen) durch die Hafenstraßen-BewohnerInnen abhängig gemacht.
Am 25. März 1994 stellen die Hafenstraßen-BewohnerInnen in einem Schreiben an Voscherau die Forderung nach Überlassung der Häuser an die GenossInnenschaft auf. Die BewohnerInnen “wollen, daß die ‘Genossenschaft St. Pauli Hafenstraße’, in der sich mehr als 650 Menschen zusammengefunden haben, die Häuser und die dazwischen liegenden Freiflächen überschrieben bekommt, und wir wollen sie unter diesem Dach selber verwalten .”[1414] Die Verträge mit Versorgungsunternehmen wie Wasserwerke oder Stadtreinigung sollen auf die GenossInnenschaft überschrieben werden und die seit etlichen Jahren geleisteten Mietzahlungen an die BewohnerInnen “zurückgehen, damit sie endlich in die Häuser fließen .”[1415] Den Sozialwohnungs-Plänen der Stadt stellen die BewohnerInnen, zusammen mit anderen TeilhaberInnen der Genossenschaft St. Pauli Hafenstraße , ein Konzept entgegen, “das über den Aspekt wirklich ‘sozialen’ Wohnungsbaus hinaus auch Werkstätten und Gewerberäume sowie im Viertel dringend benötigte soziale Einrichtungen vorsieht, z.B. eine KITA, eine Stadtteilversammlungshalle mit Stadtteilvolksküche, ein öffentliches Bade- und Waschhaus, Sport- und Musikräume .”[1416] An diesem Konzept haben, so die BewohnerInnen, alle im Stadtteil vertretenen sozialen Einrichtungen mitgearbeitet: PastorInnen und Altentagesstätte genauso wie LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, die Drogenberatungsstelle oder das St. Pauli Museum - neben unzähligen Nachbarinnen und Nachbarn. Bürgermeister Voscherau wird vorgeworfen, er unterstütze den viel zu teuren, von den StadtteilbewohnerInnen nicht gewünschten Sozialwohnungsbau primär aus politischen Gründen. Wenn die Stadt das Wohnprojekt Hafenstraße schon nicht zerstören kann, so soll doch zumindest die Ausdehnung der politischen und sozialen Aktivitäten unter den Dach eines selbstverwalteten Neubauprojekts in unmittelbarer Nähe zu den Häusern verhindert werden. Voscherau wird in dem Offenen Brief vorgeworfen: “Sie spielen sozialen Wohnungsbau gegen sozialen Wohnungsbau plus Beteiligung des Stadtteils plus soziale Einrichtungen plus Arbeitsplätze aus .”[1417]
Im November 1994 kommt es nochmals zu ‘Scharmützeln’ zwischen Voscherau und der Hafenstraße, als Polizeibeamte bei ihrem Versuch, ein verbotenes Symbol aus dem kurdischen Befreiungskampf von einer Hauswand zu entfernen, behindert werden. Voscherau erklärt wieder einmal, “daß er die Bewährungsfrist für die Hafenstraße für abgelaufen hält .”[1418] Nur kurz danach erklärt er allerdings, daß die Alternative zur Räumung auch die Privatisierung der Häuser sein könne. [1419] Die von den BewohnerInnen angestrebte genossenschaftliche Lösung [1420] rückt damit in greifbare Nähe.
Anfang November 1995 läßt das städtische Liegenschaftsamt Wertgutachten erstellen, die die Grundlage des Verkaufs der Häuser an die GenossInnenschaft bilden. Nach Auskunft des Pressesprechers der Stadtentwicklungsbehörde muß der Senat den Verkauf billigen.
Die Pläne der GenossInnenschaft, ein Stadtteilzentrum mit Volksküche, Wasch- & Badehaus etc. zu errichten, sind jedoch mittlerweile obsolet, da eine der Baulücken schon bebaut wird: Die Stadt errichtet dort - wie geplant - Sozialwohnungen und eine Kindertagesstätte. [1421]


[1372] “Der Sozialismus reagierte darauf [auf Instandbesetzungen; d.V.] allerdings nicht mit Polizeieinsätzen, sondern mit Beschlüssen zur Legalisierung von Instandbesetzungen bei Nachweis einer freistehenden Wohnung. Es ist gesetzlich fixiert: Wer eine leerstehende Wohnung bei der kommunalen Wohnungsvermittlung meldet, dem muß innerhalb von 14 Tagen nachgewiesen werden, daß in Kürze eine Nutzung der Wohnung erfolgt. Ist dies nicht möglich, darf er in diese Wohnung einziehen ”, MSB Spartakus, Lieber instandbesetzen..., 1981, S. 21.
[1373] Vgl. Antifaschistisches Info Blatt Nr. 13, Winter 1990/91, S. 2 (Beilage).
[1374] Ebenda, S. 2 (Beilage).
[1375] Nach Informationen der OrganisatorInnen des bundesweiten BesetzerInnenkongresses in Leipzig am 14. Mai 1995 stehen zu diesem Zeitpunkt allein in Leipzig 40.000 Wohnungen leer, davon sind über 20.000 in bewohnbarem Zustand. Würden diese Wohnungen - etwa in Form von sozial gebundenem Wohnraum - durch Genossenschaften oder kommunale Stellen vermietet, hätte Leipzig vermutlich kein Wohnungsproblem.
[1376] Damit ist die Politik des West-Berliner Senats gemeint, keine Neubesetzungen von Häusern zu dulden und besetze Häuser innerhalb von 24 Stunden durch die Polizei räumen zu lassen.
[1377] Vgl. Neues Deutschland (ND), 13.11.90.
[1378] Antifaschistisches Info Blatt Nr. 13, Winter 1990/91, S. 8 (Beilage).
[1379] Ebenda, S. 8.
[1380] Ebenda,S. 8 ff.
[1381] Ebenda, S. 9.
[1382] Vgl. Reader BesetzerInnen-Kongreß, 4/95, S. 101 ff.
[1383] Vgl. Siegler, B., Auferstanden aus Ruinen, S. 35.
[1384] Vgl. taz, 28.11.90.
[1385] Antifaschistisches Info Blatt Nr. 13, Winter 1990/91, S. 7 (Beilage).
[1386] Ebenda, S. 7 (Beilage).
[1387] taz, 15.11.90.
[1388] Vgl. Antifaschistisches Info Blatt Nr. 13, Winter 1990/91, S. 3 ff. (Beilage).
[1389] Vgl. ND, 15.11.90.
[1390] Vgl. ebenda.
[1391] Laut ND vom 15.11.90 wurde einem Besetzer kurz nach seiner Verhaftung “ein geschoßähnlicher Gegenstand (wahrscheinlich ein 9-mm-Projektil), aus einer Fußwunde entfernt. Ein Sprecher der Polizei mußte bestätigen, daß einer der Polizisten ‘in einer Notwehr-Situation’ drei Warnschüsse abgegeben habe.”
[1392] Antifaschistisches Info Blatt Nr. 13, Winter 1990/91, S. 4 (Beilage).
[1393] ND, 15.11.90.
[1394] taz, 15.11.90.
[1395] Vgl. ND, 16.11.90.
[1396] Vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 1994, S. 161.
[1397] Schneider, W., Leipziger Demotagebuch, S. 5.
[1398] Ebenda, S. 72 - Hierzu muß angemerkt werden, daß die Mieten in der DDR äußerst niedrig waren - für Altbauwohnungen eingefroren auf dem Stand von 1936, für neuere Wohnungen nur wenig darüber - was einerseits dazu führte, daß nur ein geringer Teil des durchnittlichen Pro-Kopf-Einkommens für den Mietzins aufgebracht werden mußte. Andererseits wurde so verhindert, “daß private Eigentümer ihre Häuser instand halten konnten. Ein zunehmender Verfall der Bausubstanz war damit vorprogrammiert .” Auch durch staatliche Bauprogramme konnte die Wohnungsnot in der DDR bis 1989 nicht beseitigt werden, weil “sowohl Geld als auch Baumaterial knapp waren ”, Informationen zur politischen Bildung Bd. 230, S. 38., vgl. auch: MSB Spartakus, Lieber instandbesetzen..., 1981, S.20 ff.: Der Wohnungsbau rückte ab “1971 an die erste Stelle im Plan, als mit dem Aufbau einer Schwerindustrie die materiellen Voraussetzungen für eine forcierte Entwicklung des Bauwesens geschaffen waren. Mit dem VIII. Parteitag der SED wurde ein großes Wohnungsprogramm beschlossen, daß die Lösung der Wohnungsfrage zur wichtigsten sozialen Aufgabe bestimmte. Man stellte sich zum Ziel, bis zum Jahre 1990 die Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen .”
[1399] Vgl. Reader BesetzerInnen-Kongreß, 4/95, S. 101 ff.
[1400] Ebenda, S. 101.
[1401] taz, 8.1.91.
[1402] Ebenda.
[1403] Zeitungsname unbekannt, 5.11.91.
[1404] Vgl. taz, Hamburg, 14.2.92.
[1405] Uhlau: “Sie spielt nicht mehr die Rolle, die sie vor zwei oder drei Jahren gehabt hat.” - Hamburger Morgenpost, 22.2.92.
[1406] “Sowohl Amtsrichter Rudolf Gerberding als auch sein Kollege Gerd Palmberger machten gestern unmißverständlich deutlich, daß ihrer Auffassung nach ein Großteil der HafensträßlerInnen (...) über gültige Mietverträge verfügen, sofern die Miete pünktlich bezahlt wurde” , taz, 27.2.92.
[1407] Vgl. Hamburger Abendblatt, 6./7.11.93.
[1408] Vgl. taz, Hamburg, 26.11.93.
[1409] Hamburger Morgenpost, 24.12.93.
[1410] Vgl. taz, 31.3.93.
[1411] Vgl. taz, 30.6.93.
[1412] taz, 28.2.94.
[1413] Es wurden Befürchtungen laut, “Hamburg könne seine internationale Reputation durch Straßenschlachten auf’s Spiel setzen. Voscheraus Zukunft als Bürgermeister oder gar Bundesinnenminister unter Scharping war gefährdet” , taz, 28.2.94.
[1414] Flugblatt ‘Unsere Antwort’, 3/94.
[1415] Ebenda - Die Stadt hatte jahrelang Mieten von den BewohnerInnen kassiert, ohne jedoch Geld in dringend notwendige Instandsetzungsarbeiten an den Häusern zu investieren. Die BewohnerInnen hatten stets sämtliche Reparaturen in Eigenleistung getätigt.
[1416] Ebenda.
[1417] Ebenda.
[1418] taz, Hamburg, 8.12.94.
[1419] Vgl. taz, Hamburg, 9.12.95.
[1420] Jeder GenossInnenschafts-Anteil kostet 100 DM.
[1421] Vgl. Telefonauskunft Bernd Meyer, Pressesprecher Stadtentwicklungsbehörde Hamburg, 2.11.95.


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