Die »Legalos« von Kreuzberg.


Sabine Rosenbladt

Vom U-Bahnhof Kottbusser Tor ist die Dresdner Straße in Berlin-Kreuzberg gar nicht so leicht zu finden. Davor sperrt sich über drei Häuserblocks hinweg ein Bauwerk, das wie ein quergelegtes Hochhaus aussieht: Das »Neue Einkaufszentrum Kreuzberg« oder NKZ, wie das mürrische Behörden-Kürzel lautet.

Dieses Produkt einer Stadtteilsanierung strahlt alle Tristesse aus, zu der moderner Sozialer Wohnungsbau heutzutage imstande ist. Seit zwischen den Beton-Blumenkübeln immer wieder blutige, sich Stunden oder sogar Tage hinziehende Straßenschlachten ausbrechen, haben »Aldi« und sogar der Spielsalon vorsorglich auch noch ihre Schaufenster zugemauert: In die Spanplatten sind kleine, kreisrunde Gucklöcher geschnitten, die - vergittert - den Blick auf Flipperautomaten freigeben.

Durch diese Zitadelle muß jeder, der in die Dresdner Straße will. Sie, ehemals eine der Hauptverkehrs- und Geschäftsstraßen in diesem Teil Kreuzbergs, ist jetzt tot: Auf den herabgelassenen Rolläden der Geschäfte liegt zentimeterdicker Staub. Nur drei Eigenwillige haben trotzig versucht, die Betonbarrikade zu überleben, die Blumenfrau, der Möbelladen an der Ecke und der Drogist, Werner Orlowsky. Orlowskys Drogerie ist zum Kristallisationspunkt des Widerstandes im Kreuzberger »Kiez« geworden. Hier wird schon lange gekämpft: gegen Sanierungsvertreibung und Wohnungsspekulation, gegen Behörden und Wohnungsbaugesellschaften; aber erst die Hausbesetzungen und, mehr noch, klirrende Fensterscheiben haben das Augenmerk auf die vielen kleinen Mieterinitiativen gelenkt - was Orlowsky zu dem grimmigen Resümee veranlaßt: »Ein einziger Pflasterstein hat doch mehr gebracht als zwei Jahre Sanierungsbeirat!«

Denn auf dem Stühlchen in seinem winzigen Laden hocken immer häufiger Journalisten, die wissen wollen, was es mit der Sanierung im »Planquadrat P IIIIX« rund um das Kottbusser Tor auf sich hat. Orlowsky, beredt und freundlich, erteilt Auskunft und bedient zwischendurch unablässig kleine staubige Türkenkinder, die für fünf Pfennig Kaugummi möchten.

Der Drogist, eigentlich ein abgebrochener Student und »bis zum 30. Lebensjahr Wanderbursche«, wie er selbst sagt, hat sein Lädchen in Kreuzberg seit 22 Jahren. Jetzt ist er 53 Jahre alt, thront behäbig, graubärtig hinter seiner Ladentheke. Um ihn herum stapeln sich Parfümflakons, sind in den Regalen Seifen, Sonnenöle, Waschmittel und Toilettenartikel aller Art bis zur Decke aufgetürmt. Mitglied einer politischen Partei ist er nicht.

Als Orlowsky hier herzog, gab es in der Dresdner Straße noch mehr als 30 florierende Geschäfte. In den mehrstöckigen Mietblöcken - gebaut um die Jahrhundertwende für die »erste Welle« von Gastarbeitern aus Oberschlesien und Polen wohnten immer noch vorübergehend Arbeiter - die typischen Berliner Hinterhöfe waren ideal für kleine Handwerksbetriebe. Das Viertel zwischen der Mauer und dem Kottbusser Tor war kein vornehmes, aber ein sehr lebendiges Quartier mit vielen Eckkneipen. Wer keinen großen Komfort suchte konnte hier eine billige Wohnung finden.

Doch dann begann, was Kreuzberger heute als den »Krieg der Baugesellschaften gegen die Bewohner« bezeichnen: 1963 wurde der Stadtteil K 36 (so genannt nach der postalischen Numerierung) zum »förmlich festgelegten Sanierungsgebiet« nach dem Städtebauförderungsgesetz erklärt. Wegen »einer Fülle von Mißständen«, so der damalige SPD-Senat, sollte die Gebäudesubstanz innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre grundlegend erneuert werden.

Sanierung bedeutete jedoch nicht behutsame Stadterneuerung und Reparatur, sondern Kahlschlag. Mit öffentlichen Geldern subventioniert, kauften gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften ganze Häuserblocks im Sanierungsgebiet auf, um sie, ebenfalls staatlich gefördert, abzureißen und an ihre Stelle Neubauten zu setzen. Auch private Sanierungsträger entdeckten lukrative Verdienstmöglichkeiten in Kreuzberg: Mit Subventionen für Kauf und Abriß und Steuervorteilen für Kapitalanleger durch Abschreibung und Berlin-Förderung ließen sich hier saftige Gewinne erwirtschaften.

Folge dieser Sanierungspolitik: Billiger Wohnraum wurde hemmungslos vernichtet. Zum Beispiel waren von den 16000 Wohneinheiten, die 1963 als sanierungsbedürftig ausgewiesen worden waren, zehn Jahre später 2400 abgerissen, aber nur 1400 neu errichtet und ganze vierzehn renoviert.

Die »Blockentkernung«, der Abriß der Hinterhöfe, bedeutete das Ende für zahllose kleine Gewerbebetriebe. Und von den angestammten Bewohnern, die vor der Sanierung Quadratmetermieten um zwei Mark bezahlt hatten, waren die neu gebauten oder aufwendig modernisierten Wohnungen nicht mehr zu bezahlen.

Ein Massenexodus begann. Wer durch die Baumaßnahmen nicht sowieso schon seine Wohnung verloren hatte, der zog aus Furcht vor der drohenden »Umsetzung« in andere Stadtteile - wie etwa die neuerbauten Betonslums Märkisches Viertel oder Gropiysstadt - in dieser Zeit aus Kreuzberg weg. Auch die kleinen privaten Hauseigentümer wurden verdrängt: Heute ist im Sanierungsgebiet 96 Prozent der Gebäudesubstanz im Besitz von städtischen oder privaten Wohnungsbaugesellschaften.

»Eigentum?« sagt Orlowsky zu der. Finanzierung dieser Käufe aus Steuermitteln, »ich habe ernste Schwierigkeiten, auch nur im Kreise meiner Familie zu vermitteln, daß von >Eigentum< und >Eigentümern< gesprochen wird im Zusammenhang mit der Begründung dieses Eigentums aus mindestens 70 Prozent Geldmitteln, die von uns allen stammen.« Als Kreuzberger hat er jahrelang erlebt, wie mit dem Eigentum von seiten der Gesellschaften umgegangen wurde. Denn bei den vom Kahlschlag vorerst verschonten Häusern wirkte sich noch eine andere Senatsentscheidung verheerend aus: »Zur Verhütung volkswirtschaftlicher Verluste« war den Eigentümern und zuständigen Behörden überlassen worden, »welche baulichen Maßnahmen (insbesondere Instandsetzungen und Modernisierungen) noch vorgenommen werden können« bis zur anstehenden Sanierung beziehungsweise »unterbleiben sollen«. Das war der Freibrief dafür, den noch intakten Wohnraum gezielt verkommen zu lassen. Entgegen der gesetzlich bestehenden Instandsetzungspflicht wurde, so Orlowsky, »einfach zehn Jahre lang überhaupt nichts mehr gemacht an den Häusern«. Von den Fassaden blätterte der Putz, kaputte Toiletten wurden nicht mehr repariert, durchgequollene Fenster blies der Wind, es gab keine Treppenhausbeleuchtung mehr, in den Hinterhöfen tummelten sich Ratten. Die Schäden, die in ganz Berlin durch die jahrzehntelang unterlassene Instandhaltung an Altbauten entstanden sind, beziffert ein Vertreter der Senatsbauverwaltung heute auf rund drei Milliarden Mark.

Die Behörden sahen dieser Praxis tatenlos zu. »Wenn ein Mieter«, berichtet Orlowsky, »beim Wohnungsaufsichtsamt eine Mängelrüge aufgeben wollte, dann kamen die meistens noch und sperrten die Wohnung wegen Unbewohnbarkeit.« So wurden die Mieter zu Störfaktoren einer Stadtplanung vom Reißbrett, zu lästigen Hindernissen für eine Städtebaupolitik, die sich nicht nach den Bedürfnissen der Bewohner, sondern eher nach den Interessen von Spekulanten und Bürokraten ausrichtete. Dabei geriet denn auch der Versuch einer »Bürgerbeteiligung« rasch zur Farce. Das »Berliner Modell der Betroffenen-Beteiligung« an der Sanierung war unter solchen Umständen zum Scheitern verurteilt.

Nach diesem Modell war im Sanierungsgebiet Kreuzberg ein »Sanierungsbeirat gebildet worden, in dem vier Vertreter der Mieter (ein Arbeitnehmer, ein Gewerbetreibender, ein Mieter und einer der wenigen noch übriggebliebenen privaten Hausbesitzer), je ein Vertreter der vier Parteien (CDU, SPD, FDP und Alternative Liste), der Bezirksstadtrat für Bauwesen, Vertreter der Sanierungsträgergesellschaften und des Senators für Bau und Wohnungswesen saßen. »Weil die Mehrheitsverhältnisse in diesem zwölfköpfigen Ausschuß von Anfang an immer klar waren«, so Orlowsky, »nämlich 7: 5 zugunsten der Betroffenen, entsprachen die Ergebnisse der Beratungen nicht den Erwartungen der Verwaltung. Und man hat dann versucht, das Ganze leerlaufen zu lassen. Diese bittere Erfahrung hat dazu geführt, daß der Sanierungsbeirat von der Vorsitzenden, einer Mietervertreterin, nicht mehr einberufen wurde. Denn das war dann nichts anderes mehr als die Zusammenkunft zum Palaver, da ja auch nach dem Städtebauförderungsgesetz nur angehört wird, aber keine Mitbestimmung oder schon gar keine Selbstbestimmung herrscht.« Vor der offenen Tür der Drogerie hält, während Orlowsky das erzählt, ein schwarzer BMW. Der Fahrer steigt aus, fragt: »Sind Sie Werner Orlowsky?«und übergibt einbraunes DIN-A-4-Kuvert. Vom Bausenator der Stadt Berlin. Der Briefumschlag enthält einen Verhandlungsvorschlag für eine Treuhandverwaltung der besetzten Häuser, Indiz, daß sich einiges verändert hat in Kreuzberg: Seit die von der Kahlschlagsanierung betroffene Bevölkerung sich nicht mehr damit zufrieden gibt, angehört zu werden, seit es Widerstand gibt gegen die verfehlte Sanierungspolitik, sind die Politiker gezwungen, mit einem Drogisten zu verhandeln wie mit dem Repräsentanten einer fremden Macht.

Das war noch nicht so, als das »Neue Kreuzberger Zentrum« entstand, das die Dresdner Straße zur Sackgasse machte. »Ausgerechnet der erste Bau, der ein Signal setzen sollte«, sagt Orlowsky, »hat den Verfall und die Verelendung beschleunigt. Dieses Spekulationsobjekt, das dann mit 100 Millionen Mark Subventionen in sozialen Wohnungsbau umfunktioniert wurde, hat die Straße kaputt gemacht, Existenzen vernichtet, es sind Leute darüber krank geworden und sogar gestorben.« »Harnröhre« nennt er verächtlich den engen, nach Urin riechenden und mit wuterfüllten Wandparolen vollgeschmierten Durchgang, der den Bewohnern der Dresdner Straße als Zugang zum Kottbusser Tor noch geblieben ist.

Orlowsky selbst ist durch diese Erfahrung mit der Sanierung »konkret stutzig« geworden. Er hat viele nach dem Städtebauförderungsgesetz vorgeschriebenen Erörterungsveranstaltungen miterlebt, in denen die Betroffenen zu den geplanten Maßnahmen gehört werden sollen, und er hat sie als Farce erlebt: »Da thronten dann immer die Experten oben auf dem Podium, und es hieß: Vertraut uns, wir kennen eure Probleme besser als ihr.«

Irgendwann hat der Drogist erkannt, »daß es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man steigt aus und zieht weg, oder man bleibt und nimmt die Dinge in die eigene Hand«. Vor zwei Jahren hat sich im »Mieterladen Dresdner Straße« eine Betroffenen-Vertretung zusammengetan. Orlowsky hat sich zum Sprecher der Gewerbetreibenden wählen lassen. Die Vertreter der Mieter haben ihr Mandat in Hausversammlungen erhalten. Und obwohl solche Vertretungen nach dem Berliner Modell für die Sanierungsgebiete vorgesehen sind, »hatte die Gruppe große Schwierigkeiten, als Betroffenen-Vertretung anerkannt zu werden. Die Entstehungsweise so ganz von unten war den Herren wohl nicht genehm«.

Im Gebiet zwischen Mauer und Kottbusser Tor hatte sich die Bevölkerung inzwischen völlig umstrukturiert. Nach dem Auszug der Wohlhabenderen waren die sozial Schwächsten zurückgeblieben: Arbeitslose, Rentner, kleine Gewerbetreibende, für die der Aufbau einer neuen Existenz anderswo nicht mehr lohnte. Nicht umsonst erreicht das Pro-Kopf-Einkommen in Kreuzberg heute mit rund 600 Mark nur die Hälfte des sonstigen Berliner Durchschnitts.

Außerdem rückten in den freiwerdenden Wohnraum nun »Unterprivilegierte aller Schattierungen« nach, wie ein Kreuzberger Rechtsanwalt es formuliert. Es kamen Studenten, die sich keine hohe Miete leisten konnten, aber auch junge Arbeitslose, Drogenabhängige und Alkoholiker, es kamen Freaks und Punks, deren Lebensgefühl sich in zwei Worten ausdrückte: »No Future«. Keine Zukunft.

Und es kam die »zweite Welle« von Gastarbeitern: Türken. Kreuzberg wurde zu Klein-Anatolien. Im Sanierungsgebiet machten die Südländer mit ihren vielköpfigen Familien bald mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus.

Alle diese Gruppen waren auf billigen Wohnraum angewiesen. »Die, die hier wohnen, können sich keine Sozialbaumieten von fünf Mark pro Quadratmeter leisten«, sagt Orlowsky. Deshalb hatten die Kreuzberger Mieterinitiativen jahrelang immer wieder als wichtigste Maßnahme die Instandhaltung der Gebäude gefordert. Nicht durch aufwendige Wohnungsmodernisierung, bei denen Mieter umgesetzt und die Mieten erhöht werden, sondern durch die Instandsetzung des vorhandenen Wohnraums wäre die Stadtverwaltung den Interessen der Bewohner Kreuzbergs gerecht geworden. Doch das Gegenteil geschah.

An einer solchen Verbesserung zeigten weder die Wohnungsbaugesellschaften noch die Behörden großes Interesse. Im April 1980 wurden bei den Bau-Wohnungsaufsichtsämtern Berlins insgesamt 8751 unerledigte Beschwerden von Mietern registriert. Statt Instandsetzung war die »Entmietung« an der Tagesordnung: Da leerstehende Gebäude bekanntlich leichter abzureißen sind als noch bewohnte, wurden immer mehr Wohnungen einfach nicht mehr vermietet oder von den Behörden für unbewohnbar erklärt.

Ergebnis: Nach offiziellen Angaben standen Ende 1980 in Berlin 7000 Wohnungen leer, der Berliner Mieterverein schätzt die Zahl sogar auf 20000. Demgegenüber waren 80000 Berliner bei den Ämtern als Wohnungssuchende registriert. Im Sanierungsgebiet Kreuzberg zählte die IBA (Internationale Bauausstellung) bei insgesamt 4612 Wohneinheiten 1957 leerstehende Wohnungen.

»He, Chef, du keine Wohnung?« fragt ein älterer Türke in Orlowskys Laden. »Hier« er zieht einen Packen Geldscheine aus seiner Brusttasche, »dir geben dreihundert Mark für Wohnung!« - »Nix Wohnung, nichts zu machen«, radebrecht Orlowsky zurück. Seit die Anatolier das Viertel bevölkern, ist ihm neben dem Verkauf von Toilettenartikeln noch eine Art ehrenamtliche Sozialarbeiterfunktion zugefallen: Türken erscheinen mit behördlichen Benachrichtigungen, Briefen und Schriftstücken, deren Inhalt er ihnen mühsam erklärt.

Besonders gut zu sprechen ist Orlowsky nicht auf die Türken. Er hält sie für nicht integrierbar, weil ihre Kultur zu andersartig ist. »Aber«, fährt er auf, »man kann sie nicht zu Sündenböcken einer verfehlten Stadtpolitik machen. Das sind Sanierungsbetroffene wie wir auch.«

Denn der eigentliche Skandal sei doch, »wenn sie auf ihre unwürdige Situation aufmerksam machen würden, dann käme nicht etwa die zuständige Bauaufsicht oder wer immer und würde sagen: Also die müssen ja dringend die Nachbarwohnung, die nun schon ein halbes Jahr leer steht, dazuhaben, die sie wollen und auch selbst in Ordnung bringen würden. Nicht das wäre die Folge, sondern daß man sie aus der Wohnung, in der sie überbelegt wohnen, noch rausschmeißen würde, um den Leerstand zu haben.«

Solche Erfahrungen haben in Kreuzberg zu den ersten Instandbesetzungen geführt. Die Wortschöpfung stammt von der Bürgerinitiative »SO 36«, die im benachbarten Stadtteil Südost 36, der noch kein Sanierungsgebiet ist, seit vier Jahren Mieterarbeit macht. Die Probleme waren hier wie dort dieselben. »Mitte der siebziger Jahre fing die Sanierung an, sich bis hierher auszudehnen«, sagt Volker Härtig von der Bürgerinitiative, »daraufhin zogen die Leute weg, weil über kurz oder lang saniert werden sollte und an den Wohnungen nichts mehr getan wurde.«

Die Bürgerinitiative SO 36 ist eine von rund 50 Gruppen, die sich zum »Kiez-Bündnis zum Erhalt billigen Wohnraums« zusammengeschlossen haben. Entwickelt hat sie sich aus dem Versuch einer Bürgerbeteiligung. Volker Härtig: »1976 wurde ein Projekt mit dem Titel >Strategien für Kreuzberg< gestartet. Da sollte gemeinsam überlegt werden, was man machen kann, bevor dieser Stadtteil genauso kaputtgeht wie das Sanierungsgebiet.«

In der Projektkommission, die unter anderem über einen Ideenwettbewerb entscheiden sollten, saßen auch »Bürger«. Doch auch dieser Versuch scheiterte, weil die Betroffenen sich von der Verwaltung übervorteilt fühlten. Den Ausschlag zur Gründung der Bürgerinitiative gab die Räumung der »Feuerwache« am 14. Juni 1977. Dieses ungenutzte und leerstehende Gebäude hatten Jugendliche in Besitz genommen und in ein Kommunikationszentrum umgestaltet. Gleichzeitig war gegen den geplanten Abriß geklagt worden: Aber fünf Stunden, bevor das Verwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit eines solchen Eingriffs entscheiden konnte, rückten Räumungstrupps an und rissen die Feuerwache ab. Was den zuständigen Richter immerhin zu dem Ausspruch veranlaßte, man werde der Kreuzberger Verwaltung wohl in Zukunft nicht mehr trauen können.

Die Bürgerinitiative SO 36 begann nun, eine eigene Zeitung, den »Südost-Expreß«, herauszugeben. Im Mieterladen in der Sorauer Straße finden regelmäßig Mieterberatungen statt. Und mit Mängellisten-Aktionen versuchten die Mitglieder gegen Verwahrlosung und drohenden Leerstand anzugehen: ohne Erfolg.

»Wir haben Briefe an die Eigentümer geschrieben, zum Beispiel an die städtische Gesellschaft BeWoGe, die hier allein über 300 Wohnungen leer stehen läßt«, berichtet BI-Mitglied Kuno Haberbusch. »Das Ergebnis war gleich Null. Wir haben Pressekonferenzen gemacht - keine Reaktion. Wir haben Abgeordnete angesprochen und über die Gerichte versucht, Mieter in leerstehende wohnungen einzuklagen - aussichtslos.«

Nachdem »alles, was dieser Rechtsstaat hergibt«, ausgeschöpft war, griff die Bürgerinitiative zu einem neuen Mittel: Am 2. Februar 1979 besetzten rund 50 Mitglieder eine leerstehende Wohnung in der Görlitzer Straße 74. Auf einer Pressekonferenz in.dieser Wohnung wurde die Aktion als »Instandbesetzung« bezeichnet.

»Damit wollten wir in erster Linie zeigen, daß Wohnungen billig herzurichten sind«, erzählt Kuno. »Wir haben in Zusammenarbeit entrümpelt, gestrichen, Fenster repariert.

An dem Haus war seit Jahren nichts mehr getan worden, das war total vergammelt.« Verblüffender Anfangserfolg: Nun mochte sich auch der Eigentümer nicht lumpen lassen. Am Morgen vor der Pressekonferenz erschien eine Putzkolonne, die das Gebäude eilig und zumindest oberflächlich auf Vordermann brachte.

Die ersten Kreuzberger Instandbesetzer forderten einen Mietvertrag, den sie auch bekamen. Aber während ihr Beispiel Schule machte - bis Dezember 1980 waren in Kreuzberg schon 21 Häuser besetzt, griffen Eigentümer und Behörden ihrerseits zu schärferen Maßnahmen.

Da wurden leerstehende Gebäude schon mal einfach zugemauert. In Kellern und Dachstühlen brachen auf gänzlich ungeklärte Weise Brände aus. Oder die Behörden gaben das Quartier der US-Army für ein Manöver frei: Bewohner fanden sich ohne Vorankündigung plötzlich schwerbewaffneten GIs gegenüber, die dort ihre Straßenkampfübungen abhielten.

Unter solchen Umständen wandte sich die Sympathie der Kreuzberger Bevölkerung entschieden den Hausbesetzern zu. Denn die holten in Selbsthilfe jetzt nach, was jahrelang versäumt worden war. Sie kauften Farbe und strichen die Fassaden neu. Sie reparierten Türen, Treppenhäuser und Toiletten. »Und das verstehen die Leute, wenn die dann sagen, wir rechnen unsere Arbeitsleistung und die auf eigene Kosten gekauften Materialien gegen die Miete auf und sagen plus minus null«, meint Orlowsky.

Auch sein eigenes Rechtsverständnis hat sich seither gewandelt: »Da ist ja immer gesagt worden, das sind Rechtsbrecher, Hausfrieden gebrochen - wie das? Der Hausfrieden ist durch die Entmietung gebrochen worden! Auf dem Friedhof herrscht auch ein Friede, wenn keiner mehr da ist. Das klafft ja mitunter wirklich erstaunlich auseinander, legal und legitim.« Sagt's und wendet sich einem Kunden zu, der Gewinne für die Tombola in einem nahen Männerwohnheim sucht. Schließlich ersteht der verschiedene Seifen und Rasierzeug

sowie zwanzig Präservative. Während Orlowsky alles liebevoll in rosenbedrucktes Geschenkpapier einwickelt, erläutert er, daß man die Besetzungen »vor dem Hintergrund wirklicher Wohnungsnot« sehen müsse.

Dabei habe zweifellos auch die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters eine Rolle gespielt: »Heute ist einfach der Drang bei den jungen Leuten da, viel früher ihr Elternhaus zu verlassen. Die hätten da vielleicht noch ihr Zimmerchen, aber die wollen früher selbständig werden. Das kann man verstehen, und das ist eben eine Tatsache, der muß Rechnung getragen werden.«

Bis in den Dezember hinein bot die Kreuzberger Szene noch ein eher friedliches Bild. Zwar flogen, so Orlowsky, »manchmal so ein paar Steinchen« aus den Häusern auf die zahlreich vorbeifahrenden grünweißen Polizei-»Wannen«, weil die Besetzer eine Räumung befürchteten. Gleichzeitig aber liefen Verhandlungen mit dem Senat, dem über die städtischen Gesellschaften rund die Hälfte der 21 besetzten Häuser gehörte: Angestrebt wurden »legale« Mietverträge. In ihre »zweite Phase« traten die Beziehungen oder auch Nicht-Beziehungen zwischen Hausbesetzern und Staat am 12. Dezember 1980: Als ein großes Polizeiaufgebot die Besetzung eines Hauses am Fraenkelufer verhinderte, kam es zur ersten heftigen Straßenschlacht in Kreuzberg. Zwölf Stunden lang tobte der Kampf rund um das Kottbusser Tor,rund 150 Demonstranten und 70 Polizisten mußten mit teils schweren Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert werden, Geschäfte wurden verwüstet und geplündert. In dieser Nacht versuchten Vertreter der Bürgerinitiative SO 36 und des Mieterladens Dresdner Straße zwischen Polizei und Demonstranten zu vermitteln. Hier ein Auszug aus dem Protokoll der BI SO 36:

»Gegen 22.30 Uhr versuchten ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36 und zwei vom Mieterladen Dresdner Straße, den Einsatzleiter zu bewegen, daß nur ein vorübergehender Abzug der Polizeikräfte die sinnlose Situation entspannen könne. Er werde sich zusammen mit anderen dafür einsetzen,daß sich die Leute am Mieterladen Dresdner Str. treffen, um die Situation zu überdenken...«

»Ca. 0.30 Uhr: ... Der Laden war mit ca. 150 Leuten völlig überfüllt. Panik brach aus, als weitere Mannschaftswagen auftauchten. Die Beamten verlangten unter wüsten Beschimpfungen, einen angeblichen Steinwerfer herausholen zu können. Ihnen wurde gesagt, sie sollen eine sinnlose Konfrontation vermeiden. Jetzt griffen sie sich vor Augenzeugen einen völlig Unbeteiligten vor dem Laden und führten ihn ab...«

»Ca. 0.45 Uhr: Daraufhin fuhren vier Vertreter der BI SO 36 hinterher, wurden bei einer weiteren Kontaktaufnahme von Beamten angerempelt und mit Prügel bedroht. Sie suchten zum drittenmal den Einsatzleiter am Carl-Herz-Ufer auf. Hier wurde vereinbart, nachdem eine Freilassung des Verhafteten nicht erreicht werden konnte, daß die Polizei von 1 Uhr 15 bis 1 Uhr 45 sämtliche Kräfte abzieht, um eine Beruhigung zu ermöglichen. Statt dessen begann um 1 Uhr 15 die schwerste Konfrontation am Oranienplatz, als Einsatztruppen in die diskutierende Menschenmenge hineinrasten und knüppelten und mit Steinen empfangen wurden.«

»Ca. 1.15 Uhr: Damit waren jegliche Vermittlungsversuche gescheitert. Wut, Panik und Zorn kennzeichneten nach diesen Täuschungsmanövern der Polizei und der Verhaftung vor dem Mieterladen alle Beteiligten... Steinhagel... Barrikaden...«

»Ca. 1.45 Uhr: ... kennt die Brutalität der Polizisten keine Grenzen mehr. Zwei VW-Busse fahren zwischen Barrikade und Ampel am Oranienplatz voll in die Menschenmenge. Dabei gibt es viele Verletzte, unter anderen einen Sechsunddreißigjährigen, dem beide Beine gebrochen und ein Oberschenkel zerquetscht werden. Vor Schmerzen, aber auch vor Wut schreiende Menschen bleiben zurück...«

Anfang des Jahres werden zwei der Verhafteten, beide nicht vorbestraft, zu Haftstrafen von 14 und 18 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Daraufhin sind die Besetzer zu keinerlei Verhandlungen mehr bereit. »Eins, zwei, drei, laßt die Leute frei!« ist der Schlachtruf der Szene geworden. »Bambule« ist an der Tagesordnung, nicht nur in Kreuzberg, sondern auch auf dem Kudamm klirren jetzt Scheiben. »Bis zum 12. Dezember hatte es ja eigentlich recht brave Forderungen gegeben«, meint ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36, »danach sind die Leute radikalisiert und politisiert worden.«

In rascher Folge wird nun ein Haus nach dem anderen besetzt, bis Mitte 1981 sind es etwa 170. Ein Kreuzberger Rechtsanwalt schätzt die Szene auf mittlerweile 1000 bis 2000 aktive Besetzer, dazu rechnet er rund 15000, »die bereit sind, auf die Straße zu gehen«, und eine ungeklärte, aber weit höhere Zahl von »Sympathisanten«. Auf einem Flugblatt erklärt der »vorläufige Rat« der »Autonomen Republiken Neukölln/Kreuzberg«. »Der Parlamentarismus ist gescheitert! Wir pfeifen auf Neuwahlen! Wir brauchen keinen Senat, keinen Parteienfilz, keine Postenjäger! Wir brauchen niemanden, der meint, sich auf unsere Kosten die Taschen füllen zu können! Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hände!«

Der Kampf um Instandsetzung und billigen Wohnraum hat eine neue Stoßrichtung bekommen: »Viele Besetzer wollen jetzt nicht mehr legalisiert werden. Denen geht es um neue Strukturen, Freiräume, eine Gegenkultur. Und dann haben sie ja auch gesehen, daß Steine offenbar die besten Argumente sind: Denn was wir heute angeboten bekommen vom Senat, hätten wir damals nicht mal zu fordern gewagt«, kommentiert ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36 die radikale Wandlung der Hausbesetzerszene.

Die BI SO 36 und die Betroffenen-Vertretung im Sanierungsgebiet werden nun zu Vermittlern zwischen dem »Besetzerrat« auf der einen und dem Senat auf der anderen Seite. Obwohl offiziell nicht mehr verhandelt wird, entsteht auf inoffizieller Ebene ein neuer Dialog. Die Besetzer sprechen drei Kreuzberger »Legalos«, wie es im Slang der Szene heißt, ihr Vertrauen aus und machen sie quasi zu Emissären: Mietervertreterin Ilse Mock aus dem Mieterladen Waldemarstraße, Volker Härtig von der BI SO 36 und Werner Orlowsky.

Berührungsängste gegenüber der militant gewordenen Szene hat der Drogist nicht, denn »im Grunde wollen die Besetzer keine Auseinandersetzungen. Sie reagieren nur auf Gewalt, die zunächst vom Staat ausgeht. Die kann ja ganz subtile Formen haben, es muß ja nicht immer der Polizeiknüppel sein, der da wahllos auf die Köpfe von Leuten niedersaust, sondern wenn ein olles Muttchen dauernd bedrängt wird, sie soll endlich ausziehen ins Altersheim, damit die Wohnung leer wird. Oder dauernd Briefe >hier wird demnächst saniert<, das ist ja auch schon eine Art von Gewaltausübung«.

Seine Einschätzung der Bewegung unterscheidet sich erheblich etwa von der des RCDS, der eine Spendenbitte an eine Mieterin in der Dresdner Straße mit dem Satz einleitete: »Von kommunistischer Hand zentral gesteuert finden in diesen Tagen über ganz Deutschland verteilt Hausbesetzungen statt...« »Kommunisten«, sagt Werner Orlowsky, »sind das nun allemal nicht. Wenn die überhaupt ein reflektiertes politisches Bewußtsein haben, dann sind sie eher im Ursprungssinn des Wortes Anarchisten, denn sie wollen nicht die Diktatur eines Polit-Büros errichten, um die Staatsmaschinerie zu übernehmen, sondern sie wollen keinen Staat: >null Bock< auf den Staat. Die wollen einfach in Ruhe gelassen werden und ihre utopischen Vorstellungen realisieren, und dazu brauchen sie halt auch die Häuser. Und das ist neben der Wohnungsnot auch ein weiteres Motiv gewesen.«

Einzelne Gruppen haben allerdings schon »Bock« auf weitere Auseinandersetzungen, etwa der vorläufige Rat der Autonomen Republiken Neukölln-Kreuzberg: »Macht es teuer für sie! Die einzige Ebene, auf der sie was kapieren können, ist Geld! Jeder Tag, den unsere Genossen sitzen, soll 1 Million Sachschaden kosten! Randale, was das Zeug hält! « heißt es in einem Kommunique Nummer eins.

Inzwischen sucht der Interims-Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Hans-Jochen Vogel fieberhaft nach einer politischen Lösung für den Konflikt. Am 27. Januar wird unter dem Vorsitz des FDP-Bürgermeisters Brunner eine Kommission »zur Überwindung von Fehlentwicklungen in der Sanierungs- und Modernisierungspolitik und zur Sicherung des Rechts- und Gemeinschaftsfriedens« eingesetzt, der die Senatoren Anke Brunn (Jugend), Peter Ulrich (Bau), Gerhard Meyer (Justiz) und Frank Dahrendorf (Inneres) angehören. Eine Woche später legt der Senat ein Sofortprogramm zur Beseitigung der gröbsten Mißstände in den Berliner Sanierungsvierteln vor: Mit 20 Millionen Mark sollen rund 2000 leerstehende Wohnungen schnellstens instandgesetzt werden. Die Stadtregierung räumt ein, daß »Fehler gemacht« worden sind in der Berliner Sanierungspolitik, etwa daß das »Erneuern von Baumaßnahmen« wichtiger genommen worden sei als die »Erhaltung sozialer Verflechtungen«.

Nun soll also alles anders werden. Die Sanierungsgesellschaften werden aufgefordert, das Entmieten von Häusern einzustellen und bereits leerstehende Wohnungen wieder zu vermieten. Für den Kauf von Sanierungsgrundstücken gibt es vorerst kein Geld mehr. Außerdem soll ein Konzept zur Förderung von Wohnungsmodernisierungen erarbeitet werden, und Selbsthilfegruppen sollen, betreut vom Sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt, sich nunmehr legal als Instandsetzer von eigens ausgewiesenen Objekten betätigen.

Die »Hausbesetzer«-Kommission des Senats macht in der gleichen Woche weitere Vorschläge: Fortan sollen bei der Sanierungspolitik »die Bedürfnisse der Menschen dieser Stadt im Mittelpunkt stehen«. Dem »spekulativ bedingten Wohnungsleerstand« soll durch die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen (!) und der Ablehnung öffentlicher Förderung begegnet werden. Leerstehende Wohnungen sollen Sanierungsbetroffenen, aber auch Jugendlichen und »Wohngruppen mit alternativen Wohnbedürfnissen« angeboten werden. Bereits geräumte Wohnungen sollen bis zur Modernisierung genutzt werden können. Mieter, die ihre Wohnung selbst modernisieren, sollen dafür Fördergelder im Rahmen des Landesmodernisierungsprogramms bekommen. Eigenhilfe und Eigengestaltung sollen unterstützt und die »friedliche Erprobung alternativer Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten« soll gefördert werden.

Damit ist der erste Schritt in Richtung auf eine Politik getan, die sich, so die Kommission, »in Zukunft durch eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mieter« auszeichnen soll. In einem Zehn-Punkte-Programm werden die Vorschläge festgehalten.

Wie große Wohnungsbaugesellschaften sich die Lösung des Problems vorstellen, macht allerdings zur selben Zeit Albert Vietor, Chef der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat«, in einem Interview mit der »Bild«-Zeitung deutlich. Unter der Überschrift »Mein großer Plan gegen die Wohnungsnot« tönt Vietor: »Mehr Marktwirtschaft muß eingeführt werden« und »Der Weg zu höheren Mieten muß frei werden«. Denn: »Es geht nicht, daß ähnliche Wohnungen hier 3,50 Mark je Quadratmeter kosten, dort 10,50 Mark. Eine Anpassung nach oben ist unumgänglich.«

»Die Anforderungen sind zu hoch geworden«, hat der »leidenschaftliche Golfspieler« laut »Bild« erkannt, »Wohnungen müssen nicht mehr 90 bis 100 Quadratmeter groß sein. 70 bis 75 tun's auch. Und eine Wohnung muß nicht zwei Bäder haben, so gut wie das auch ist. Irgendwo müssen Grenzen sein.« Wo hat die Neue Heimat wohl jemals Wohnungen von 100 qm und mit zwei Bädern gebaut?

Grenzen werdender Befriedungspolitik des Berliner Senates auch von anderer Seite gesetzt. Die Justiz hat ihre eigenen Vorstellungen vom Umgang mit Hausbesetzern. Zwar gibt es nach den ersten, extrem harten Urteilen nun auch milde: So stellt Anfang Februar das Amtsgericht Moabit das Verfahren gegen 11 Hausbesetzer, die wegen Hausfriedensbruchs angeklagt sind, wegen Geringfügigkeit ein und erkennt in seiner Begründung die politischen Motive der Hausbesetzer ausdrücklich an.

Aber die Staatsanwaltschaft will nicht so wie der Justizsenator: Ende Februar kommt es zum offenen Konßikt zwischen Senator Meyer und den Strafverfolgern. Denn trotz Weisung des Senators, gegen die Haftverschonung für einen 23jährigen Studenten keine Beschwerde einzulegen, wird der nach zwei Tagen auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin wieder in Haft genommen.

»Staatsanwälte machen Vogels Milde gegen Hausbesetzer nicht mit«, schreibt die »Welt« triumphierend. Als Meyer es wagt, einen 23jährigen Jungdemokraten, der an einer Hausbesetzung teilgenommen hat, für den FDP-Parteivorstand vorzuschlagen, fordern die 1600 Mitgliederdes Verbands Berliner Justizbeamter seinen Rücktritt. Meyers Stellvertreter Senatsdirektor Alexander von Stahl kommt um seine Versetzung ein. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Polizeipräsident Hübner wegen Verdachts der Strafvereitelung, weil die Polizei einer richterlichen Durchsuchungsanordnung für ein besetztes Haus nicht sofort nachkommt, sondern auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel verweist. Unter solchen Umständen wandelt der Senat mit seiner Suche nach Lösungen auf einem schmalen Grat. Und die Fehler aus mehr als zwei Jahrzehnten SPD-Politik sind so schnell nicht ungeschehen zu machen. Bei den Wahlen am 10. Mai erleiden SPD und FDP in Kreuzberg erhebliche Stimmenverluste. Die SPD sackt von 46,6 Prozent (1979) auf 38,9, die FDP von 6,2 auf 4,5. Dafür holen sich die »Igel« von der Alternativen Liste (AL) beachtliche 14,7 Prozeß der Wählerstimmen. In SO 36, also zwischen Wassertorplatz, Oranienplatz, Spree und Landwehrkanal wählen sogar 18,6 Prozent alternativ, so daß ins Bezirksparlament neben jeweils 19 CDU- und SPD-Abgeordneten sieben »Igel«, einrücken. Und die haben ihre Wahl wohl kaum den Besetzern zu verdanken, denn die, schätzt ein Kenner der Szene, »wählen zu 80 Prozent überhaupt nicht«.

Auch das »20-Millionen-Ding« des Vogel-Senats wird von, den Mieterinitiativen rund ums Kottbusser Tor nicht gerade begeistert aufgenommen. Die »wunderschönen neuen Pläne«, so Orlowsky, sind gar nicht so neu, sondern »die Quintessenz dessen, was wir seit Jahren vorgetragen haben«.

Vor allem eine Kernforderung der Mietervertretungen, wirkliche Mitbestimmungüberdie Verwendungder Instandsetzungsgelder, fehlt jedoch. Bis Ende Februar ist bereits ein Drittel der 20 Millionen vergeben an dieselben Sanierungsträger, die sich durch ihre Entmietungspraktiken bei der Bevölkerung verhaßt gemacht haben und die nun Baufirmen mit den jahrelang versäumten Instandsetzungsarbeiten beauftragen.

»Da steht dann acht Tage ein Gerüst am Haus, und es wird gar nicht gearbeitet«, sagt Orlowsky, »eine neue Fassade kostet, wenn eine Firma das macht, Zehntausende von Mark, dabei könnte man sie in Selbsthilfe für einen schlappen Tausender streichen.«

Zu gleicher Zeit haben Mieterräte und der Verein zum Schutz der Blockstruktur aus dem Mieterladen Dresdner Straße einen »Selbsthilfefonds für Instandsetzung« gegründet. Im Gründungsaufruf heißt es: »Wir haben nicht die Absicht, durch unsere Spenden dem Senat und den Wohnungsbaugesellschaften die Steuergelder zu ersetzen, die sie in Abschreibungs- und Spekulationsgeschäften verschleudern. Mit unserer direkten Unterstützung verbinden wir die Forderung, den Betroffenen selbst ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, anstatt diese gegen sie einzusetzen.« Mehr als 75000 Mark werden gespendet, die von den Betroffenen-Vertretungen und dem Besetzerrat verwaltet und verteilt werden. Orlowsky: »Schon mit zwei Prozent der 20 Millionen an den Selbsthilfefonds wäre mehr bewirkt worden als so.« Auch Experten kritisieren die Vergabepraxis des Senats. Denn anstatt die Mittel gezielt dort einzusetzen, wo Reparaturen dringend erforderlich sind, können die Trägergesellschaften pro Wohnung bis zu 10000 Mark beantragen, das heißt zum Beispiel für ein einziges Haus mit 30 Wohnungen runde 300 000 Mark. Aber, so Wulf Eichstädt von der IBA (Internationale Bauausstellung), die in Kreuzberg neue Sanierungsmodelle zu entwickeln versucht: »Wenn man ein Haus vor dem Verfall schützen will, dann reicht ein Drittel bis ein Viertel von der Summe, die da jetzt verausgabt wird, nämlich eine Jahresmiete.« Und: »Dies sollte mit den Bewohnern besprochen werden, damit die sagen, wo es bei ihnen brennt und nicht mit Hauseigentümern, die sagen, wir wissen schon, wie das Geld auszugeben ist.«

»Ein soziales Windei«, nennt der »Südost-Expreß« auch die geplante Förderung von Mietermodernisierungen. Denn gefördert werden nur Maßnahmen von mindestens 2000 Mark pro Wohnung an, und auch die nur, wenn der Vermieter zustimmt, Ersetzt werden dem Mieter 35 Prozent der Kosten (bzw. 70 Prozent der Materialkosten, wenn er die Arbeiten selbst macht). Der Vermieter aber soll, wenn er die Wohnung gleichzeitig instandsetzen läßt, dafür 45 Prozent Zuschuß erhalten. Der »Südost-Expreß« fragt denn auch: »Warum heißen die Richtlinien >Mietermodernisierungsrichtlinien<, wenn der Vermieter mehr bekommt als der Mieter?« Dagegen fordert die Stadtteil-Zeitung: Zuschüsse von 70 Prozent der Gesamtkosten (als ein »bei der umfassenden Modernisierung bisher übliches Maß«), Gewährung zinsgünstiger Darlehen, die Veränderung der Förderungsbeträge entsprechend den Einkommenshöhen der Mieter, die steuerrechtliche Gleichstellung von Mietern und Eigentümern und ein einklagbares Recht auf Mietermodernisierung. Viele Kreuzberger halten es darüber hinaus für falsch, mit dem 20-Millionen-Programm Hauseigentümer zu subventionieren, die die gesetzlich bestehende Instandhaltungspflicht an deg Gebäuden jahrelang sträflich vernachlässigt haben und dafür jetzt in Form weiterer Subventionen nachträglich »belohnt« werden. Die Maßnahmen, ohnehin erst auf massiven politischen Druck durch Hausbesetzungen zustandegekommen." sind für sie ein verspäteter und völlig unzureichender Versuch, begangene Fehler mit bloßen kosmetischen Korrekturen wiedergutzumachen.

Außerdem ist'das Problem der besetzten Häuser durch das Senatsprogramm noch keineswegs gelöst. Instandbesetzungen bleiben illegal, Räumungsfurcht beherrscht die Szene., Und als im Frühjahr am Fraenkelufer ein besetztes Haus »mit: Räumungsfolge, wie es so schön heißt« (Orlowsky) durchsucht wird, drohen auch die Verhandlungsbemühungen des »Vermittlerkreises« mit dem Senat zu scheitern.

Am Tag dieser Durchsuchung nehmen Kreuzberger Mietervertreter und Berlins Bausenator Peter Ulrich in Mainz an einer Fernsehdiskussion über Hausbesetzungen teil. Die Kreuzberger machen keinen Hehl daraus, daß nun weitere Gespräche über eine friedliche Beilegung des Konflikts wohl keine Chance mehr haben werden.

Werner Orlowsky und Bausenator Ulrich fahren am nächsten Morgen gemeinsam im Taxi zum Flughafen. »Er wußte keinen Rat mehr, keiner wußte mehr Rat«, erinnert sich Orlowsky, »und da fiel mir ein, daß man vielleicht einen ersten Schritt machen könnte mit einer selbstbestimmten Treuhand-Verwaltung. Ich hab das kurz umrissen, so wie es mir grade in dem Moment einfiel.«

Kurz darauf teilt der Bausenator in einem Brief an Orlowsky mit, er sei bereit, seinen Vorschlag aufzugreifen, »Wege für eine treuhänderische Verwaltung für die besetzten Häuser - soweit sie im Einflußbereich des Landes Berlin liegen - zu suchen. Auf diese Weise könnte eine rechtliche Basis geschaffen werden, die mittelfristig durch weitere Verhandlungen zu befriedigenden Lösungen führen kann«, schreibt Ulrich.

Im Mieterladen Dresdner Straße wird daraufhin ein Treuhandmodell konzipiert, das nach langwierigen Diskussionen auch der Besetzerrat akzeptiert. Danach sollen die besetzten Häuser ausgeklammert werden aus der bisherigen Verwaltung der jeweiligen Eigentümer und einer Treuhandgesellschaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, die sie verwaltet, instandhält und die Interessen der »Nutzer« nach außen hin vertritt.

»Das wurde dann in vier Verträge gegossen, so schön mit Paragraphen und so«, erzählt Orlowsky, »und die wurden dem Senat zugestellt, der seine Anmerkungen dazu machen wollte. Die Anmerkungen wuchsen sich zu einem Gegenvertrag aus. Wir haben uns von Professor Gerlach von der FU -Berlin beraten lassen, und der meinte, die Unterschiede seien nichtso gravierend, man könnte den wie den Vertrag annehmen.«

- Zur Entwicklung und Vermittlung von betroffenengerechten Instandsetzungs- und Instandhaltungsmaßnahmen« heißt es im Senatsentwurf, »sowie als Beitrag zur Beseitigung des aktuellen Wohnungsleerstandes wird der Treuhänder vorübergehend die Verwaltung und Nutzung von Grundstücken übernehmen und zur Vorbereitung einer einvernehmlichen Regelung über die endgültige Nutzung der verwalteten Gebäude tätig werden«.

Der Besetzerrat beschließt am 3. Mai, unter welchen Voraussetzungen er das Zustandekommen des Treuhandmodells für »grundsätzlich möglich« hält:

  1. Keine Strafverfolgung wegen Hausfriedensbruch, Paragraph 129 und keine Ubergriffe auf besetzte Häuser
  2. Jedes alte und neue voll- und teilbesetzte Haus muß Mitglied werden können. Direkter Druck auf die privaten Hausbesitzer zur Übergabe an die Treuhandverwaltung: durch Nichtbewilligung bzw. Streichung von Sanierungs geldern, denn das Modell gilt für alle besetzten Häuser oder keine
  3. Wir, die besetzten Häuser, führen bis zur Freilassung der Inhaftierten weiterhin keine Verhandlungen
  4. Die Treuhandgesellschaft nimmt ihre Arbeit erst auf Beschluß des Besetzerrats auf und stellt ihre Arbeit auch auf Beschluß des Besetzerrats ein. Die Besetzer behalten sich in allen anstehenden Fragen den direkten Eingriff in Verhandlungen zwischen der Treuhandgesellschaft und deren Verhandlungspartner vor.«

Das Treuhandmodell selbst wird zwischen den Mietervertretern und Besetzern abgestimmt. Die Geschäftsführung der Gesellschaft soll vom neunköpfigen »Vermittlerkreis« übernommen werden: Dazu gehören neben Orlowsky der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Kreuzberg, Gustav Roth, Volker Härtig von der Bürgerinitiative SO 36, Ilse Mock und Mieterräte aus Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Schöneberg.

Nach außen soll die Treuhandverwaltung die angeschlossenen Häuser gegenüber den Institutionen vertreten, sie soll gich um die erforderliche Instandsetzung kümmern beziehungsweise die Selbsthilfe-Konzepte der Bewohner zusammenfassen und weitergeben. »Die Frage der Finanzierung der notwendigsten Instandsetzungsarbeiten wird zum gegebenen Zeitpunkt geklärt«, heißt es im Modell-Entwurf.

Nach innen soll die Gesellschaft sich auf die »Weitergabe und Koordination der aus der Tätigkeit im Außenverhältnis erzielten Ergebnisse« beschränken: »Die eigentliche Verwaltung der Häuser und Projekte wird, vor allem in allen praktischen Fragen, von de»Nutzern selbstbestimmt vorgenommen. Um den Austausch von Erfahrungen und (Selbsthilfe)-Kapazitäten untereinander sicherzustellen, werden Bewohnergruppen benachbarter besetzter Häuser sich block- bzw. kiezweise zu einem auf dieser Grundlage beruhenden Blockrat zusammenschließen, der Gemeinsamkeiten auch mit allen anderen Blockbewohnern zu entwickeln, darzustellen, zu vertreten und durchzusetzen ermöglicht, ohne die Überschaubarkeit zu verlieren. Der Blockrat setzt sich zusammen aus: Mietern und Mietervertretern, Instandbesetzern bzw. Vertretern der einzelnen Häuser, beteiligten Projekten und Initiativen. Der Blockrat fungiert unter anderem als Kontrollgremium für die Treuhandverwaltung.«

Ausgearbeitet hat dieses Konzept eine Arbeitsgruppe »Selbstbestimmte Treuhandverwaltung« des Vereins zum Schutz der Blockstruktur im Mieterladen Dresdner Straße. »Wir meinen, daß mit dieser Konstruktiori ein erster, entscheidender Schritt auf eine friedliche Regelung der Gesamtproblematik getan ist«, erklären die Verfasser; denn

Gleichzeitig fordert die Arbeitsgruppe die »förmliche Rücknahme aller Strafanträge/Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs«. Solange die Nutzer die Instandbesetzung in Selbsthilfe vornehmen, sollen keine Mietforderungen erhoben werden. »Kiezinitiativen« sollen finanziell gefördert und kein besetztes Haus mehr geräumt werden:

»Keine Räumung - keine Räumungsfurcht. Das wird dazu führen, daß die Sicherungsmaßnahmen in den >besetzten< Häusern schrittweise auf das zur Abwehr von ständig wiederholten Angriffsdrohungen seitens rechtsradikaler Kreise unbedingt notwendige Maß reduziert und die dafür aufgewendete Zeit und Energie zusätzlich in die Arbeit in und an den Häusern investiert werden kann.«

Auf solche Formulierungen läßt sich der Senat in seinem »Gegenvertrag« nicht ein. Allerdings soll dem Treuhänder laut Rahmenvertragsentwurf eine jährliche Kostenpauschale in noch zu benennender Höhe gewährt werden. Und in: dem Musterentwurf für einen Nutzungsvertrag heißt es in Paragraph 3:

»Der Eigentümer überläßt dem Treuhänder die in der Anklage aufgeführten Grundstücke nach Maßgabe folgender Bestimmungen:

  1. Durch bauliche Sicherungsmaßnahmen soll die weitere Beschädigung der Bausubstanz verhindert werden. Zu diesem Zweck werden die oben genannten Gebäude den Treuhändern unentgeltlich zur Nutzung, Substanzsicherung sowie zur Vorbereitung und Durchführung einschließlich der Abstimmung der notwendigen baulichen und organisatorischen Maßnahmen mit den künftigen Nutzern der Gebäude überlassen.

  2. Die für erforderlich gehaltenen baulichen Sicherungsmaßnahmen werden zwischen dem Eigentümer und dem Treuhänder abgestimmt. Der Treuhänder trägt nach Maßgabe dieser Abstimmung Sorge für die Behebung der festgestellten Mängel und Schäden.

Die hierfür erforderlichen Aufwendungen werden dem Treuhänder vom Eigentümer bis zu einem Höchstbetrag von/ pauschal mit/... DM/Wohneinheit erstattet.« Außerdem soll der Treuhänder laut Rahmenvertrag darauf hinwirken, »daß nach einer Übergangsphase Mietverträge abgeschlossen werden«, während das Land Berlin sich verpflichtet, »darauf hinzuwirken, daß dem Treuhänder entsprechende Grundstücke zur Verwaltung dem Gesellschaftszweck entsprechend übertragen werden«.

Konkret heißt das, daß den jahrelangen Forderungen der Sanierungsbetroffenen mit dem Treuhandmodell tatsächlich Rechnung getragen werden soll: Die Verwaltung städtischer Gebäude wäre damit praktisch in die Hand der Bewohner selbst gelegt worden. Sie, nicht die Gesellschaften, hätten über den Einsatz der Modernisierungs- und Instandsetzungsmittel zu entscheiden gehabt. Orlowsky: »Denn daß die Betroffenen hier die besten Experten sind, das hat sich doch schon lange herausgestellt.«

Zu einer Ratifizierung des Vertrages kommt es allerdings nicht mehr. Am 11. Juni übernimmt Weizsäckers CDU-Minderheiten-Senat die Regierung in Berlin. Und obwohl der neue Senat erklärt, die behutsame »Berliner Linie« gegenüber den Hausbesetzern fortsetzen zu wollen, wird bereits elf Tage später das erste besetzte Haus geräumt. Die Zeit der Straßenschlachten ist noch nicht vorbei.

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