September 1981


Wir standen alle auf dem Winterfeldtplatz und warteten in br'ütender Hitze und hofften, daß nicht mehr lange geredet werde. Vor der Kirche hatten sich die Prediger aufgebaut und ließen ihre Stimmen über den Platz hallen, und die einen klangen matt und brav (das waren die mäßigen Gemäßigten), die anderen trocken und grell (das waren die Unseren), und es hörte von denen, die die Sprache verstehen konnten, sowieso niemand zu. Die Leute an den Fenstern der Wohnhäuser am Platz hörten vielleicht zu, oder sie versuchten es wenigstens, aber wahrscheinlich warteten auch sie vor allem darauf, daß jetzt etwas passierte oder alles sich zerstreute. Weit und breit war kein Bulle zu sehen. Es war eigentlich ein Tag, um an den See zu fahren oder auf dem Heinrichplatz rumzuhängen.

Auf dem Klohaus hatten sich einige versammelt und bemühten sich redlich, Fahnen zu verbrennen; eine US-amerikanische, eine sowjetische. Irgendwann brannten sie dann auch glücklich, und die Fotografen hatten endlich ein lohnendes Motiv. Die Motorradmasken, die sich langsam vermehrten, illustrierten wirksam die Stärke und Bedrohlichkeit der militanten Bewegung; die einen damit beruhigend, die anderen beunruhigend. Im Laufe des Jahres hatte sich allgemein die Ansicht durchgesetzt, daß Halstücher zum Maskieren nicht ausreichten: Bekanntlich verfügte das BKA über Methoden, eine Person durch Gesichtsvermessungen und ähnliche Feinheiten zu identifizieren. Wirklich sicher waren nur die Masken, und als angenehmer Nebeneffekt stellte sich das Gefühl der Stärke ein, das jede Uniformierung mit sich bringt. Viele ärgerten sich über militaristische Tendenzen, über paramilitärische Fantasien, die sie hinter den Masken und Lederjacken vermuteten, und nicht wenige entdeckten dahinter die Wirkung von System und Gesellschaft; Mackertum, Militarismus, Uniform - waren die »Straßenkämpfer« (niemand außer dem »Spiegel« nannte sie so) am Ende etwa gar nicht besser als ihre Gegner? Verbarg sich Soldateska hinter den schwarzen Masken? Die wirkliche Soldateska hätte solche Gedanken wohl eher zum Lachen gefunden.

Der friedliche Verlauf der großen Demo war bestenfalls eine Ouvertüre gewesen, wir hatten uns etwas warmgelaufen. Daß ein paar an einem Hotel erbeutete Nationalflaggen nicht der Höhepunkt gewesen sein durften, war klar. Aus Rücksicht auf die vielen friedlichen Demonstrierenden war es im Verlaufe der Demo ruhig geblieben, aber für uns stand die eigentliche Demo erst bevor. Der Spätsommer war heiß, die Kraftprobe zwischen Senat und besetzten Häusern lief, seit das Ultimatum und unsere Reaktion darauf den Tagesablauf bestimmten. Senat: Räumung von acht Häusern am zweiundzwanzigsten September!

Wir: »tuwat«-Spektakel! Kommt alle und helft uns! Eine Woche lang Wirbel! Und genau in dieser Zeit ein Besuch von US-Außenminister Haig in der Stadt. Jetzt war er im Rathaus Schöneberg und trug sich ins Goldene Buch ein oder stellte sonstigen Unfug an. Es mußte etwas geschehen, sonst war der Tag verloren. Schließlich, sehnlichst erwartet, erhob sich der Ruf »Hin zum Rathaus!« Und es formierte sich ein Zug, um dem Ruf zu folgen. Ein paar tausend waren es, sie füllten die ganze Goltzstraße, und die ist schmal und hat hohe Häuser, und als wir riefen »Deutschland, Deuschland, alles ist vorbei!«, hallte es mächtig wieder und hörte sich an, als ob es tatsächlich vorbei und nur noch eine Frage der Zeit war, bis hier alles zusammenbrach. Viele trugen Schutzhelme und Masken und einige auch Tränengasbrillen und Knüppel - eben alles, was die Innenminister immer so gern vor und nach den großen Demos präsentieren. Zu Hunderten wurden Pflastersteine gegeneinandergeschlagen und untermalten so die Rufe. Nichts konnte uns aufhalten. Seltsam war nur, daß von den Bullen so wenig zu sehen war. Wir kamen bis in die Grunewaldstraße, breit genug, um mit moderner Kavallerie die marodierenden Horden in ihre Schranken zu weisen. Aber noch bevor es dazu kam, während die Wannen noch weit weg waren und nur ihr Sirenengeheul sich langsam näherte, war der Zug zu Ende, und es begann der Rückzug. Da standen hundert Bullen, ein Trupp, den wir einfach hätten links liegen lassen können, vielleicht, und als ich die Ecke erreichte, prasselten die Steine bereits auf die Schilde und das Blech der Fahrzeuge, so daß niemand mehr die Kreuzung passieren konnte, ohne in den Steinregen zu geraten. Und die Bullen hauten nicht etwa ab, sondern verteidigten sich standhaft, schossen mit Tränengas und warfen mit Steinen zurück. Auch als ein oder zwei Mollis zwischen sie fielen, hielten sie die Stellung. Einige Leute liefen zwischen den Maskierten umher und versuchten, das sinnlose Geplänkel zu verhindern. Nicht, weil sie gewaltfrei waren - unter den vielen, die durch die Goltzstraße gezogen waren, gab es sicher nicht besonders viele Gewaltfreie -, sondern weil die Demo sich selbst den Weg verbaut hatte. Ich war nicht besser, sah die Bullen, wußte, was für ein Unsinn es eigentlich gerade war, und warf dennoch Steine, so viele ich finden konnte. Einer rutschte mir aus der Hand, segelte steil nach oben in die Luft und landete auf dem Kopf eines Mannes. Sanitäter waren gleich in der Nähe, und ich war ganz konfus, was denn nun, so ein Ärger, verfluchter Übermut. Wir hatten Glück, er und ich, denn es war nur eine leichte Platzwunde. Ich stand daneben und sah zu, wie er verarztet wurde. Und während ich noch überlegte, wie ich denn nun weitermachen sollte, was die richtigen Worte zur Entschuldigung waren, wie ich das jetzt wiedergutmachen konnte, ging es schon weiter, wurde ich mitgerissen, und wie von selbst hatte ich die Steine in der Hand und warf weiter. Es nahm kein Ende; die Steine, die die Bullen warfen, hüpften vor mir über den Asphalt, das Tränengas stieg mir zwar dank der Schutzbrille nicht in die Augen, aber in die Nase, es war heiß unter dem Tuch, und die Luft, die ich atmete, war feucht. Die Spitze des Zuges kam zurück, denn das Singen der Sirenen näherte sich jetzt rasch (und hatte nicht die geringste verführerische Wirkung) - niemals wären wir weit gekommen! In der Goltzstraße fielen die Bauwagen, wurden Autos hergestellt, wurden Baustellen zum Barrikadenbau abgeräumt. Es ging zurück. Die Kolonne der Wannen aus der Grunewaldstraße war endlos, und der Tränengasnebel behinderte die Sicht. Aber es war egal, denn da gab es noch die Straße, die wir verteidigen würden, und vielleicht konnten wir ja auch wieder in die Offensive kommen - wer glaubte schon an so was, aber es war einfach zu unangenehm, sich in solcher Weise selbst zum Stehen gebracht zu haben. Der Kampf mußte weitergehen, und die Bullen mußten müde gemacht werden, damit sie nicht so ohne weiteres ihre Rache nehmen konnten. Ihre Rache kam immer, natürlich, aber wir brauchten es ihnen nicht auch noch leichtzumachen. Und da war noch, als letztes Rückzugsgebiet, der Winterfeldtplatz, mit seinen besetzten Häusern und den Resten der großen Demo, die sich da immer noch herumtrieben. Der Tag brauchte nicht zu Ende zu sein. Ich wollte jedenfalls noch lange nicht aufhören.

Der Arm tat mir weh vom Werfen. Die Schulter fühlte sich ausgerenkt an. Ich versuchte, Steine mit links zu werfen, was aber völlig fehlschlug. Ich konnte froh sein, daß ich niemanden damit traf, und verstand jetzt, wieso die Zeitungen manchmal behaupteten, es seien Fensterscheiben von Wohnungen eingeworfen worden. Es war mir aber ziemlich egal an diesem Tag, was für einen Sinn es hatte, um die Goltzstraße zu kämpfen, und wie das angestellt wurde und wie es weitergehen sollte. Wichtig waren das Tränengas, die Wasserwerfer, die Bullen, die Steine. Mir reichte es sowieso. Alles war nur schwierig zur Zeit, nichts lief, wie es laufen sollte. Was interessierten mich taktische Fragen, wenn meine Wut rauswollte? Wann, wenn nicht jetzt? Die, die da hinter ihren gepanzerten Fahrzeugen hervorlugten und mit Tränengasgranaten in Kopfhöhe auf uns ballerten, hielten Schild und Knüppel bereit für mich. Einen Schild, nicht nur gegen meine Steine, sondern gegen meine Wünsche und Träume. Sie schützten die Realität vor mir, daß sie nicht in Versuchung geriete, und sie spiegelten selbst diese Realität wider: gleichförmig, blaß, graugrün, gehorsam, gepanzert. Das einzig Interessante an dieser Realität war die Suche nach ihren Schwachpunkten, ihren verwundbaren Stellen, den Lücken in ihrem Panzer. Und es gab so wenige zu finden, und sie schienen jedesmal kleiner geworden zu sein als beim vorigen Mal. Wo war die Zeit, um sie zu suchen? Nicht ich bestimmte diese Zeit, sondern sie. Also blieb nichts übrig als die schiere Masse. Irgendwo würde doch eine Lücke sein, und irgendwann würde ich da hinein treffen. Und dann war da noch der Knüppel, mit dem die Realität zurückschlug, der auf mich ausgeübte Sachzwang. Der Knüppel an sich war nichts, oder jedenfalls nicht für mich, denn ich war nie wirklich unter die Räder gekommen. Er war der Arm, die Faust der Realität wie der Strahl des Wasserwerfers und die Tränengasgranate. Er setzte die Bedingungen, die mich hier oder dort festnagelten, er zeigte die Uhrzeit der wehrhaften Demokratie. Wo der Schild schwach werden wollte, kam der Knüppel zur Hilfe. Nicht nur das. Oft kam er zuerst, allzuoft kam er auch ohne erkennbaren Grund. Er gründete nämlich tiefer, denn er schlug ja nicht mich, sondern meine Träume. Das war eigentlich Grund genug. Manchmal, großmütig, hielt er sich zurück. Dann aber wurde er wieder ungeduldig. Und wenn meine Träume gar dreist wurden und Fühler in die Realität ausstreckten, war der Ofen aus. Da kannte der Knüppel kein Pardon, auch nicht der sozialdemokratische. Denn Träume sind eine Sache, die Realität eine andere. Manchmal muß man sich entscheiden, sagt der Knüppel.

Die Realität, das war nicht die Sonne, der Himmel, das Leben. Das war auch nicht reden, denken, hoffen. Die Realität, die mit Schild und Stock daherkam, war ganz anders, fremd, groß, doch eng und begrenzt, sie versuchte, alles auf ihr Maß zusammenzupressen, dafür brauchte sie ein großes Maul, aber das hatte sie auch. Eng war sie nur von innen betrachtet. Sie sorgte dafür, daß alles so viel kümmerlicher wurde, als vorgesehen. Sie fügte die falschen Menschen zusammen, weil sie die falschen Maßstäbe anlegte. Und woher gahmen wir unsere Maßstäbe, unsere eigenen, wenn nicht aus dem kargen Angebot dieser Realität? Was mich selbst anging, so funktionierte nichts richtig. Um mich herum waren die Menschen zu alt oder zu jung, ich wußte nicht, was weniger schlimm war. Wo waren die Richtigen für mich? Wo war der Ort, um zu leben, wenn er schon nicht da war, wo ich es jetzt versuchte? Wohnte ich vielleicht im falschen Haus, und wo war ein besseres? Und welche Frau füllte das Vakuum der vielen unerfüllten Liebesträume? Und was war sonst wichtig, wenn überhaupt etwas wichtig war? Es ging doch jetzt darum, Weichen zu stellen für die Zukunft. Ganz bestimmt war es wichtig, wie ich aus dieser Zeit rauskommen würde. Ganz bestimmt würde mein späteres Leben davon abhängen. Und jetzt lief alles falsch - ich konnte nur hoffen, daß nicht so bald die Entscheidung fallen würde, wie es weiterging, denn dann hätte ich mit ziemlich leeren Händen dagestanden. Wieso hatte ich nichts in den Händen? Das wenige, das sich von meinen Träumen greifen ließ, wurde mir aus der Hand geschlagen. Und von wem ...?

Deswegen mußte es jetzt sein, mußten die Steine fliegen, auf die Reise geschickt werden, mußte die berühmte »Sekunde der Freiheit« zwischen Wurf und Auftreffen wiederholt werden, immer und immer wieder. Gegen diese vielen verschiedenartigen Schläge, die mir die Bruchstücke aus den Händen reißen, die mich vor dem Weitergehen warnen sollten. Der Versuch, mich mit Stummheit zu schlagen oder mir wenigstens die eine, gültige Sprache der Macht zu verpassen. Die Schläge der Uhr, die das Leben einteilt und klassifiziert, die schlagenden Argumente der Sachzwänge. Und schließlich schlug mir das Tränengas auf Magen und Lunge.

Irgendwann war es genug für heute; die Goltzstraße war nach und nach erobert, die Barrikaden von Wasserwerfern beiseite geschoben, ich von oben bis unten naßgespritzt worden, zum Glück ohne großen Druck; dazu hatte ich in ausgleichender Gerechtigkeit auch ein paar Steine abbekommen, nicht von den Bullen, sondern von ähnlich geschickten Werfern wie mir selbst, einen ans Bein, einen in den Bauch, beides war aber nicht so schlimm. Tränengas und Hitze hatten mir den Rest gegeben, die Schlacht war für mich beendet. Die Rache der Bullen sah ich mir als Zaungast aus sicherer Position an; zurückgezogen in eines der besetzten Häuser (die »kriminellen Fluchtburgen« waren zu solchen Zeiten wirkliche Fluchtburgen), sah ich zu, wie unten auf der Straße »Knüppel frei« gegeben wurde, das Knüppel-aus-dem-Sack-Kommando, und je weniger Menschen sich zur Wehr setzten, desto eifriger war die Realität bemüht, sich überall wieder durchzusetzen und jeden Verdacht zu zerstreuen, es habe hier so etwas wie rechtsfreie Räume gegeben. Die Schlagstöcke prügelten diese Räume wieder auf das äußerste erträgliche Maß zurück, und aus dem großen Raum des Winterfeldtplatzes wurden die vielen kleinen Rückzugsgebiete in den Köpfen der Menschen, wo die Knüppel nicht eindringen, jedoch wütend anklopfen konnten. Jede Ansammlung von mehr als drei Personen war schon ein Raum, der sich noch verkleinern ließ.

Mir reichte es nicht aus, einen ehrenvollen Rückzug erkämpft zu haben. Goran lachte mich aus und bot mir einen Joint an. Er hatte sich fast zur selben Zeit verzogen wie ich. »Man muß wissen, wann man zu gehen hat«, sagte er. »Solange es Spaß macht, gut und schön, aber wenn erst mal die Menschenjagd beginnt, bin ich lieber aus der Schuß-linie.«

»Es sind eh immer die anderen, die's erwischt«, sagte ich, »sich dir das an, wie sie da unten rennen. Die Verhaftungen und blutigen Köpfe gibt's doch immer erst hinterher. Die Schaulustigen werden für die Statistik geprügelt.«

»Weil sie eben immer nur schauen, anstatt mal selber was zu machen«, sagte Goran. »Die haben einfach kein Gefühl zu dem Ganzen, keinen Überblick. Und natürlich keine Schutzhelme und all den Scheiß, kein Wunder, daß sie was vor den Kopp kriegen. Wenn sie mitmachen würden, wüßten sie auch, wann es gefährlich wird. Und nachher ist das Jammern wieder groß, wie viele Verletzte, und Festnahmen, und so.«

Mir fiel ein, daß ich diesen Wechsel der Perspektive vor nicht einmal einem Jahr erlebt hatte.

»Ich hab vorhin auch einem vor'n Kopp gegeben«, sagte ich. »So ein blöder Stein ist mir ausgerutscht, und er knallt natürlich einem voll auf den Kopf, Scheiße!«

»Und was hast du gemacht?« fragte Goran.

»Dumm danebengestanden, wie ein Sani ihn versorgt hat. Ich wollte ja seinen Namen wissen, um ihn hinterher sprechen zu können, aber da war alles so hektisch, mit den Bullen direkt in der Nähe. Also, ich habe eigentlich nichts gemacht «

»Nicht so gut«, sagte Goran.

»Ich wußte einfach nichts zu sagen«, meinte ich, »soll ich sagen >tut mir echt leid, du, also ehrlich<, oder was? Daß es 'ne Schwachsinnsaktion war, wissen wir beide, der und ich, gut genug.«

»Und jetzt machst du dir Vorwürfe«, sagte Goran, »so nach dem Motto >der hätte tot sein können<, oder wie?«

»Ach was«, entgegnete ich, »hast du beim Steinewerfen jemals an so was gedacht? Ich meine, einen Stein, den wirfst du doch nicht um jemanden zu töten. Das geht doch nicht so schnell.«

»Naja, wenn du Pech hast, kann's schon ins Schwarze gehen«, sagte Goran nachdenklich, »aber das ist ja wohl die absolute Ausnahme, und in den letzten Jahrzehnten haben eigentlich immer die Bullen für die Toten gesorgt, soweit ich Bescheid weiß. Mann, überleg mal, wo die ganzen Schä-delbrüche herkommen! Von Steinen oder von Bullenknüppeln?«

»Ja, schon klar, du hast ja recht.«

»Außerdem, war das irgendein Passant oder was?« fragte Goran. »Ich meine, wenn ich da bewußt mitten im Krawall rumlaufe, weiß ich auch, daß ich was abkriegen kann. Die Bullen schmeißen ja auch und schießen ihre Gaspatronen auf meinen Kopf. Ich hab auch Steine abgekriegt heute. Da kann ich mich ja wohl nicht drüber beschweren, ausgenommen über die Idioten, die aus fuffzich Meter Entfernung werfen und mich damit von hinten treffen.«

»War kein Passant, glaub ich«, sagte ich, »aber es war wirklich volle Hektik da. Ich glaube, er hatte auch ein Halstuch.« »Mußte halt nächstes Mal besser aufpassen«, sagte Goran, »das war ja wohl mehr ein Unfall, und davor hab ich immer noch weniger Angst als vor diesen Leuten, die nichts blicken und keine Erfahrung haben und loslegen, ohne sich um was zu kümmern, oder die ihre Steine am liebsten werfen, während sie schon vor den Bullen wegrennen.«

»Naja, andererseits«, sagte ich, »irgendwann fängt jeder mal an. Ich hab immerhin auch mal keine Erfahrung gehabt und trotzdem losgelegt, und davor hab ich auch 'ne ganze Weile am Rand gestanden und mir das alles angesehen, ohne mitzumachen. Das kommt halt nicht alles auf einmal.«

»Wieso? Ich hab schon mit sechs Jahren Steine geschmissen. Ist doch völlig klar«, tönte Goran.

»Ja, du. Aber vielleicht gibt's ja noch andere Leute. Studenten, Sozialarbeiter, was weiß ich, Instandbesetzer, für die ist das doch nicht so leicht.«

»Die werden das auch nie richtig einsehen«, sagte Goran. »Die machen das höchstens mal, weil sie selbst was auf den Kopf bekommen haben, und hinterher tut's ihnen leid. Oder sie sind so richtig empört über die Wohnungspolitik, und wie lange das vorhält, kannste ja auch nicht vorhersagen.« »Aber ohne die könnten wir ja wohl auch nicht viel machen. Die meisten fangen doch genau so an. Muß sich halt irgendwie weiterentwickeln.«

»Na, es geht ja auch weiter«, sagte Goran. »War doch geil heute, der beste Krawall seit langem. Genau das brauchen wir doch: gute Beispiele, um die anderen anzutörnen.«

»Stimmt, heute hat's echt Spaß gemacht«, stellte ich fest, »nur schade, daß der Wasserwerfer mich zuletzt doch noch erwischt hat. Wenigstens kann man mit den alten Wasserwerfern noch gut spielen, vor ihnen rumtanzen und so was, die neuen Modelle spritzen dir ja glatt ein Auge raus oder schießen dir die Rippen kaputt. Aber andererseits, viel erreicht haben wir ja nicht. Da vorne, an der Grunewaldstraße, das war ja nicht eben eine Heldentat.«

»Na und? Bis zum Rathaus wären wir doch eh nicht gekommen. Warum machen wir denn all das? Können wir etwa 'ne Räumung verhindern, langfristig meine ich, nicht nur für einen Tag wie im Mai? Oder den Haig erwischen, oder irgendwelche Staatsbesuche verhindern? Das ist doch alles ein Spiel, wo beide Seiten zeigen, was sie so drauf haben. Klar, eine Milion Mark Schaden pro Räumung, wenn das klappt, ist es 'ne dolle Sache. Aber wichtig ist doch, daß es 'ne Drohung ist, symbolisch. Genau das machen wir in 'ner Weise: Symbolik. Verstehst du?«

»Vorhin hab ich mich nicht sehr symbolisch gefühlt«, sagte ich.

»Ich natürlich auch nicht«, gab Goran zurück. »Aber denk mal nach. Heute ging es doch darum, daß in den Zeitungen was steht wie >Haig in Berlin - schwere Ausschreitungen< oder so ähnlich. Nicht nur hier, sondern auch in den USA sollen die Leute so was lesen. Daß also in der Öffentlichkeit die Verbindung klar ist: Wenn so ein Typ hier aufkreuzt, gibt es Unruhe. Berlin ist heißes Pflaster für solche Schweine. Die Zeiten von John F. Kennedy sind vorbei. Und so weiter. Das ist doch das Entscheidende. Natürlich, ich mach das auch wegen mir. Aber doch nicht nur, es gibt doch auch 'nen tieferen Sinn, verstehst du?«

»Ich seh das ja genauso«, sagte ich, »aber wir hätten doch mehr erreichen können. Wenn wir nicht an der Ecke da ...« »Ist mir doch egal, wo ich den Krawall mache«, sagte Goran. »Natürlich ist es besser in der City, wo es auch etwas kaputtzumachen gibt, aber wenn es da nicht geht, müssen wir uns woanders rumschlagen. In der Grunewaldstraße hätten sie uns glatt umgefahren mit den Wannen, also hör schon auf, vielleicht war es sogar besser so. Hauptsache, es kam gut rüber.« »Ich glaube aber nicht, daß viele das so sehen«, sagte ich, »die meisten schmeißen die Steine doch immer noch aus persönlicher Betroffenheit, aus Wut.«

»Oder aus persönlichem Frust von mir aus«, sagte Goran, »sollen sie doch ruhig. Hauptsache, sie machen's überhaupt. Irgendwann schnallen ein paar ja wohl, daß das alleine nicht ausreicht.«

»Mir ist das Warum nicht so egal«, sagte ich.

Goran runzelte die Stirn. »Machst du hier auf moralisch, oder was? Von mir aus können da auch Kerle Steine schmeissen, weil sie Potenzprobleme haben - solange sie keine Scheiße bauen, solange es gegen die Richtigen geht. Entweder sie kapieren irgendwann mal, wo es langgeht, oder eben nicht. Aber fang bloß nicht an zu löchern, warum sie's machen, bis sie 'ne Sinnkrise kriegen und ganz aufhören, etwas zu machen.«

»Irgendwann ist Schluß mit der Symbolik«, sagte ich.

»Vielleicht«, sagte Goran, »aber bis dahin ist es noch weit. Das werden wir nicht mehr erleben.«

»Für viele ist jetzt schon Schluß«, beharrte ich. »Die ganzen Leute, die schon in den Knast gewandert sind, oder die Schwerverletzten ...«

»Ja, für einige ist das so«, sagte Goran. »Und das kann uns doch genauso ständig passieren, wir machen aber trotzdem weiter. Das Risiko steigt, bald haben sie hier Gummigeschosse wie in Zürich, hören wir deshalb etwa auf?«

»Wir vielleicht nicht. Aber trotzdem, irgendwann wird es den ersten Toten geben, und dann zeigt sich, wie viele das noch symbolisch sehen«, sagte ich.

Zehn Tage nach diesem Gespräch starb Klaus-Jürgen Rattay unter einem Bus, den sich die knüppelschwingende Realität als passenden Vollstrecker erwählt hatte. Sein Tod mischte sich unter die Tausende und Abertausende von Toden, die jeden Tag überall gestorben wurden, verblaßte auf den Titelseiten der Zeitungen, fiel aus den Mündern von Nachrichtensprechern auf's Papier und verschwand. Mit ihm verschwand bei vielen der Gedanke, die Begriffe »Symbolik« und »Spiel« wären eine Art Versicherung für die Unversehrtheit oder zumindest das Überleben der Beteiligten. Vergeblich wies Goran darauf hin, daß es ein reiner Zufall sei, daß der Tod ausgerechnet jetzt zugelangt hatte, daß er genauso schon seit Monaten präsent gewesen sei, daß Gewalt niemals den Tod ganz ausschließen könne, und Gewaltfreiheit genausowenig, und daß diejenigen, die jetzt einen Einschnitt und das Ende jeder Symbolik oder gar jeder Bewegung entdeckten, konsequenterweise schon seit langer Zeit dieselben Einwände hätten anbringen müssen, da jeder Schä-delbruch ein Beinahe Tod sei, und von denen gab es viele seit dem zwölften Dezember 1980. Sei etwa das Spiel gerechtfertigt, wenn es nur Schädelfrakturen, Knochenbrüche, Quetschungen, Erblindung, Amputationen, Traumata und Jahre im Knast, nicht aber Tode verursache? Müßten diejenigen, die jetzt entsetzt aufschrien und mit mahnenden Fingern auf die schlimme Gewalt wiesen oder die in Selbstzweifel und Angst vor ungerufenen Geistern verfielen, nicht eher sich selbst anklagen, blind gewesen zu sein, oder in absurder Hoffnung, es werde schon alles gutgehen, etwas mitgemacht zu haben, das sie entweder nicht verantworten oder nicht abschätzen konnten? All seine Argumente prallten ab an der Massivität des Todes, die jedes Differenzierungsvermögen einstampfte. Bei vielen zumindest. Angst war überdies ein Gefühl, das klarer und stärker war als Militanz.

Andere sahen es umgekehrt: Es war kein Spiel. Wir haben immer gesagt, daß es kein Spiel ist. In Wirklichkeit waren wir es, die gespielt haben, die Katze mit dem Säbelzahntiger, in der Hoffnung, er ließe sich vielleicht beeindrucken. Oder wir würden einmal ganz viele sein. Oder er würde sich doch als Papiertiger erweisen. Er hatte nicht gespielt, sondern kurz mit der Pranke gewischt und dabei - mehr aus Versehen - einen Tod verursacht. Diese anderen wollten jetzt die Verteidigung Kreuzbergs gegen den befürchteten Großangriff organisieren, und sie waren mehr denn je der Meinung, daß es kein Spiel sei. Aber der Tiger schien doch etwas beeindruckt, denn es blieb für eine Weile ruhig. Innensenator Lummer war so eng mit dem Tod Klaus-Jürgen Rattays verflochten, daß er aus der Schußlinie gehalten werden mußte, wenigstens eine Zeitlang.

»Na gut, jetzt isses eben passiert«, sagte Goran, »irgendwann mußte es ja sein. Und jetzt tun alle ganz überrascht, als hätten sie vorher nichts geblickt.«

»Das mit der Symbolik«, sagte ich, »haben ja auch viele ganz anders gesehen.«

»Tja«, sagte Goran, »fragt sich nur, wie sie das alles jetzt, danach, beurteilen.«

»Was ich dabei nicht verstehe«, sagte ich, »ist, daß diese Selbstzweifel so groß sind, obwohl doch niemand von uns schuld an der Sache ist. Der Klaus-Jürgen Rattay war doch kein Gewaltfreier, der hat doch mitgemacht und kannte die Risiken. Und vor den Bus haben ihn die Bullen getrieben.

Trotzdem klagen viele jetzt genauso, als ob wir schuldig wären, oder »die Bewegung«, oder so was.«

»Ist doch klar, die deutschen Linken können ohne Schuldgefühle nicht leben«, dozierte Goran. »Die haben immer ein schlechtes Gewissen, wenn es sich irgendwie machen läßt. Die suchen immer die Schuld zuerst bei sich. Aber die jetzt so rumklagen, das sind doch eh nicht die Aktiven, wenn's mal drauf ankommt. Das sind doch eher diese Leute, die sich mal empören über etwas, aber wenn's gefährlich wird, sitzen sie schon im sicheren Eigenheim. So Leute wie Niemöller mit seinem Gedicht, die merken immer erst hinterher, was sie eigentlich anrichten, und dann klagen sie sich wieder an und haben neue Schuldgefühle.«

»Viele von uns waren aber auch mal so«, sagte ich.

»Ich jedenfalls nicht«, sagte Goran. »Naja, ich finde die auch nicht alle nur bescheuert, aber ich bin vorsichtig, weil ich weiß, auf die kannst du dich letztlich nicht verlassen, die sind zu liberal. Da sind mir die Kids aus den Spielhallen und von der Straße wichtiger als dieses Lehrervolk, das meistens daherredet. Klar, man darf das alles nicht so absolut sehen.«

»Ich find es nicht so wichtig, wo die Leute herkommen, solange sie mitmachen«, sagte ich.

»Solange alles gut läuft«, sagte Goran, »wenn's schwierig wird, dann wirste schon sehen, wer übrigbleibt.«

Übrig wofür, dachte ich und betrachtete die schimmligen Reste im Abwasch. Das einzige im Haus, was einigermaßen sauber aussah, war die Barrikade im Treppenhaus. Aber warum auch nicht?

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