August 1983


Als wir erst einmal angekommen waren, lief alles schnell. Die Hochhäuser schlafend. Die Straßen still. Keine Fußgänger. Alles war wie eingefroren, bewegte sich nicht, wartete auf uns. Die Sekunden zogen sich auseinander. Silvio und Isa gingen voraus, ich ein Stück dahinter, ich sah mich um, hierhin, dorthin, es war nichts, ich zitterte. Mein Herzschlag füllte den ganzen Körper aus, mir war heiß geworden, ich ballte die Hände zu Fäusten; jetzt würde es gleich geschehen, wir würden es tun, noch ein paar Sekunden, dann war es soweit, ganz gelassen bleiben, Tomas, gleich tun wir's, da vorn ist es schon. Ich biß die Zähne aufeinander, war mir etwas anzusehen? Die anderen beiden sahen ganz ruhig aus, Silvio stolperte, und die Eisenstange rutschte ihm aus der Jacke, er konnte sie gerade noch auffangen. Ihr Scheppern wäre sicher noch drei Straßen weiter zu hören gewesen. Silvio atmete sichtbar auf. Die anderen waren genausowenig gelassen wie ich.

Vor uns war er, der Flachbau, ein paar Meter weiter nur. Erst die Drogerie und danach die Bankfiliale, große, fahl schimmernde Scheiben, ein paar Laternen spiegelten sich darin. Es war wie in einer anderen Zeit, ein anderer Raum, da war die Bank. Hinter dem Glas Heizkörper, Reklametafeln, Teppichboden, Schreibtische, aufgebaut wie in einer Puppenstube. Wir standen davor. Wir sollten hier nicht rumstehen. Es mußte ganz schnell gehen. Ich atmete tief und unterdrückte das Zittern. Silvio unklammerte die Stange, Isa holte den einen Molli aus ihrer Jacke und stellte ihn vor sich auf den Boden, ich hockte mich neben sie und stellte meinen dazu. Ich nahm das Feuerzeug hervor. Der Himmel hellte schon auf.

»Was ist, machen wir's?« fragte Silvio.

»Los, mach schon«, sagte ich.

Ein Automotor brummte in der Nähe. Silvio senkte unschlüssig die Eisenstange. Ich fummelte an dem Feuerzeug herum; die Handschuhe behinderten mich. Rechts und links war alles ruhig. Das Motorengeräusch verlor sich.

»Jetzt aber«, sagte Isa.

»Komm, mach schon«, sagte ich.

»Soll ich?« fragte Silvio.

»Ja, los, los, mach.«

»0.k., ich mach's.«

»Nun los, mach hinne.«

»Also, es geht los. Alles bereit?«

»Ja, alles klar, los jetzt.«

Rechts und links war alles ruhig. Ich spürte, wie sich alles in mir anspannte. Isa griff ihren Molli. Silvio holte aus und schlug zu. Der Lärm war unglaublich. Er schlug noch mal in die Scheibe. Es krachte und klirrte, die Scherben prasselten herunter. Einen Moment waren wir wie betäubt von dem Krach. Silvio rief etwas, ich verstand nichts, aber jetzt hatte ich das Feuerzeug an, und Isa hielt ihre Lunte dran, das Tuch brannte, sie schmiß das Ding rein. Die Flammen zischten bis zur Scheibe, als der Molli platzte. Ich wollte meinen anzünden, er brannte nicht richtig, ich hatte die Lunte nicht gut getränkt vorher. Egal. Ich schmiß ihn einfach hinterher, alles war ganz hell plötzlich. Ich stand da und starrte auf das Feuer. Es war hell wie am Tage. Überall Flammen. Isa riß mich los.

»Los, komm weg!« rief sie, irgendwo war ein anderes Geräusch, vielleicht ein Fenster. Wir rannten wie die Bekloppten, um drei Ecken, es brannte, es war zu geil, ich hätte am liebsten gesungen und geschrien. Da war das Auto, wir sausten hin, saßen drin, Silvio würgte den Motor ab, dann aber ging's los, weg waren wir. Die Straßen hatten sich nicht verändert, sie lagen uns stumm zu Füßen und ebneten unseren Fluchtweg. Wir lachten und jubelten und schmissen die stinkenden Handschuhe einfach aus dem Fenster und redeten durcheinander. Es hatte geklappt, das mußte gefeiert werden, ich liebte Isa, und ich liebte Silvio und mich selbst, denn wir hatten es gepackt. Keine Bullen waren zu sehen, bis wir zurück im Kiez waren. Da waren wir. Alles glattgegangen. Der Himmel war hell, als wir ankamen.

Wir frühstückten spät an diesem Tag, die Küche war leer, alle anderen sonstwo unterwegs. Ein Radio gab es nicht, wir mußten also noch warten bis zur triumphalen Siegesmeldung. Wenn es eine gab. Vielleicht verschwiegen sie die Sache ja. Oder es war wieder ausgegangen. Nein, dazu hatte es zu stark gebrannt. Den Laden konnten sie vergessen.

»So, und jetzt machen wir 'ne Erklärung«, verkündete Silvio großsprecherisch und vollmundig.

»Was, ernsthaft?« fragte Isa.

»Natürlich«, sagte ich, »zum Beispiel so: Heute haben wir mit dem Kampfkommando Christian Klar die West-Berliner Counter-Insurgency-Zentrale angegriffen ...«

»Genau, hoch-die-nieder-mit«, sagte Isa kauend.

»Unter der Führung von Ernst Aust wird der Senat hinweggebraust!« skandierte ich.

»Nee, ganz ernsthaft«, sagte Silvio, »ich meine, wir sollten was schreiben.«

»Hä, wieso denn?« sagte Isa. »Die Sache ist doch völlig klar. Die haben ein Haus geräumt gestern, für jedes geräumte Haus kriegen sie 'ne Rechnung präsentiert, das verstehen doch alle. Was willste denn da noch zu schreibende«

»Für jede Räumung eine Million Sachschaden, haben wir mal gesagt«, ergänzte ich, »und das reicht doch wohl.«

»Naja, schon«, sagte Silvio, »aber trotzdem. Schaut mal, wir könnten doch was zur Deutschen Bank schreiben, was die für Schweinereien macht und so.«

»Könnten wir schon, hm, aber da müßte man erst mal nachsehen. Ich meine, was die nun wirklich genau alles machen«, sagte ich.

»Das wissen wir doch«, sagte er, »hier finanzieren sie Atomkraftwerke und so'n Kram, und nach Südafrika schieben sie ihr Geld rüber, und in den Großunternehmen sitzen sie auch drin, Rüstungsindustrie, das reicht doch aus.«

»In welchen Großunternehmen denn?« fragte ich.

»Na, Großaktionär bei Daimler und bei Kraus-Maffei, die machen zum Beispiel Panzer, und bei Holzmann, die bauen an der Startbahn in Frankfurt mit, und bei Karstadt und bei VEW, das sind die Elektrizitätswerke von Westfalen, und noch bei viel mehr solchen Dingern.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte Isa, »ich find so was nicht nötig. 'Ne gute Aktion ist doch grade 'ne Aktion, wo du nichts zu schreiben brauchst. Eine, die sich von selbst erklärt.«

»Bei Banken mußt du doch sowieso nichts mehr groß sagen«, erwiderte Silvio, »das versteht doch heute jeder, daß es gegen Banken geht. Alle haben doch was gegen Banken.« »Ob deswegen alle gleich Anschläge gut finden ...« sagte ich. »Nicht gut, von mir aus, aber da mußt du nicht mehr viel rechtfertigen, daß so was abgebrannt gehört. Aber da muß doch mehr dazu gesagt werden. Damit die Leute mal kapieren, daß es um mehr geht als so 'ne lausige Bankfiliale und hunderttausend Mark Schaden. Den zahlt wahrscheinlich eh die Versicherung. Allianz, übrigens, da steckt die Deutsche Bank auch mit drin.«

»Aber du kannst doch in die Erklärung schlecht reinschreiben: Alles nur symbolisch, eigentlich meinen wir dies und das. Auch wenn's so ist, es klingt komisch«, sagte Isa.

»So was wie unser Teil ist symbolisch, sicher«, sagte ich, »da muß schon mehr passieren, um wirklich Schaden anzurichten.«

»Ob's das überhaupt schon mal gegeben hat?« fragte Silvio. »Vielleicht, als die RAF damals den Computer der US-Army erwischt hat, der die Bomberflüge für Vietnam gesteuert hat ... So was sind Ausnahmen. Irgendwann klappt's ja vielleicht mal, hier wirklich etwas Wichtiges zu zerstören. Aber jetzt isses nichts anderes als eine Form von Öffentlichkeitsarbeit, und deswegen find ich's gut, mehr dazu zu sagen. Weil du da 'ne Chance hast, etwas zu vermitteln, verständlich zu machen.«

»Daß die Deutsche Bank ein Haufen Mist ist, gut«, sagte ich, x aber wenn die Leute was gegen Banken an sich haben, dann wissen die das schon. Da brauch ich's ihnen nicht mehr zu sagen.«

»Ja, aber die meisten wissen doch gar nicht genau, warum«, widersprach Isa jetzt. »Denen muß erst mal gesagt werden, was die Typen da für Dreck am Stecken haben. Und die Deutsche Bank ist ja nun echt ein Paradebeispiel, weil die nun mal fast überall, bei jeder Sauerei, mitmischen. An anderen Stellen ist das nicht so einfach. Da mußt du dann einfach was zu schreiben, um die aus ihrer Anonymität rauszuholen. Aber hier ...«

»Hauptsache, die Leute verstehen es«, sagte ich, »und es ist nicht so ein abgehobenes Gequatsche wie von der RAF. Da könnten sie ja die Erklärungen im Fernsehen zeigen, weil die eh nur abschrecken und alle denken, hier sind die vollen Spinner am Werk.«

»Von mir aus schreib was«, sagte Isa, »aber ich glaub nicht, daß es viel bringt. Ich les die Erklärungen in der >Radikal< auch, gut, aber da steht ja auch immer dasselbe drin, und das klingt auch so, als ob es nur für uns geschrieben ist. So, wie die RAF-Erklärungen eben klingen, als wenn sie nur für die eigenen Leute gemacht sind. Ich meine, wer soll denn die Sprache sonst verstehen, unsere genauso? Wer kriegt so was überhaupt sonst zu lesen? Omi Meier von nebenan bestimmt nicht.«

»Vielleicht nicht«, sagte Silvio, »aber wenigstens diese Linken, die >taz< lesen oder so was, so Leute, die jetzt noch gewaltfrei sind. Die müssen ja auch mal überzeugt werden, daß das mit der Gewaltfreiheit auf die Dauer nichts bringt.« »Das kapieren die immer noch am besten, indem sie selbst was erleben«, sagte ich, »aber nicht, weil sie was Kluges lesen. Sonst müssen die ganzen Intellektuellen ja längst alle voll revolutionär sein. Mit Schreiben überzeugst du keinen.« »Glaub ich aber doch«, sagte Silvio, »es ist möglich, und wenigstens müssen wir's versuchen. Auf jeden Fall, damit klar ist, daß wir uns was dabei gedacht haben und nicht so blindlings losgeschlagen haben.«

»Also, ich hätte auch 'ne Berliner Bank genommen«, sagte Isa.

»So meinte ich das ja auch nicht«, sate Silvio. »Also, ich schreib was, und dann seht ihr euch das mal an. Ich schreib was von den Räumungen und daß sie sich nicht einbilden sollen, daß hier Ruhe herrscht, wenn sie die Häuser abgeräumt haben. Und daß die ganzen Verhandlungen um Legalisierung nur ein Versuch sind, uns ruhigzustellen und zu befrieden und uns in den Häusern mit Selbsthilfe zu beschäftigen, damit wir nicht mehr zum Krawall machen kommen. Und daß die Häuser eh nur ein Teil sind, ein kleiner Teil von dem ganzen Kampf, und daß es schon immer um viel mehr gegangen ist als um die Häuser, undsoweiter. Und dann was zur Deutschen Bank, wo die drinsteckt, in was für Sauereien, und daß sie dafür viel mehr verdient hat als nur so 'nen kleinen Brandanschlag. In Ordnung? «

»Mach ruhig«, sagte ich, »von mir aus.«

»Aber schreib nichts drunter«, sagte Isa, »oder jedenfalls nichts so Angeberisches von wegen Kommando oder Gruppe oder so ein Scheiß. Ich kann das nicht ab, diese Protzerei.« »Wie du befiehlst«, sagte Silvio, »ich mach das nachher. Jetzt müssen wir erst mal zu Ende feiern. War ja sozusagen 'ne Premiere, und dafür isses doch prima gelaufen. Es fehlt nur der Sekt.«

»Arbeiter, meide den Schnaps«, zitierte ich, »halte dich lieber an Sekt. Wir haben leider keinen, du mußt dich mit Kaffee begnügen.«

»Was meint ihr«, sagte Isa, »ist doch alles ohne Probleme abgegangen oder?«

»Alles eins a gelaufen«, sagte ich, »ich sage euch, ich hätte nicht gedacht, daß das so locker geht. Und wenn mir das jemand vor 'n paar Jahren prophezeit hätte ...«

»Na, ich dachte ja schon lange, daß es mal fällig ist«, meinte Isa, »aber da fehlte immer so der letzte Kick bei mir.«

»Daß es passieren müßte, war mir auch schon länger klar«, sagte ich, »logisch, so rein theoretisch, im Kopf. Wenn du erst einmal gut findest, was andere machen, ist es ja mehr 'ne Frage der Zeit, bis du es auch mal probierst. Ist nur konsequent, vor allem, wenn mit Massenmilitanz nicht mehr viel los ist. Irgendwo muß der Widerstand ja weitergehen.«

»Meinst du, daß Anschläge ein Ersatz sind für Massenmilitanz?« fragte Silvio. »Das finde ich überhaupt nicht. Das gab's doch schon immer nebeneinander. So, wie es in El Salvador 'ne Guerilla gibt und gleichzeitig Demos.«

»Da gibt es aber nicht mehr viele Demos, weil da nämlich gleich reingeballert wird mit scharfen Waffen«, sagte ich, »und in so 'ner Situation hast du natürlich keine Wahl mehr, wenn du militanten Widerstand leisten willst. Kannste aber doch mit hier nicht vergleichen. Hier gibt's keine Guerilla, gut, die RAF nennt sich so, aber ohne Massenbasis kann doch von >Guerilla< keine Rede sein. Und wenn hier Anschläge laufen, dann deswegen, weil einzelne Leute sich von der Massenbewegung, von der Militanz auf der Straße, wegentwickeln. Bei vielen ist das 'ne rein persönliche Angelegenheit. So meinte ich das gerade.«

»Ja, du siehst einfach, mit Randale schaffst du es nicht, oder es wird immer schwieriger und immer riskanter. Da versuchst du's halt so«, sagte Isa.

»Na, ich denke, das eine ohne das andere bringt nicht viel«, sagte Silvio.

»Das denke ich auch«, sagte ich. »Entscheidend ist doch eins, wenn die Schranke im Kopf erst mal gefallen ist, was die Formen von militanter Politik angeht, dann ist es eigentlich unwichtig, ob du Anschläge machst oder Krawall. Das mit den Anschlägen scheitert bei vielen eh nur daran, daß sie es nicht geregelt kriegen, so was vorzubereiten.«

»Von wegen fallenden Schranken«, erwiderte Isa, »da würde ich aber trennen zwischen Anschlägen wie unserem und Schüssen von RAF oder so. Da gibt's für mich noch 'ne ziemlich wichtige Schranke dazwischen, und die will ich auch behalten.« »Verstehen tu ich es schon, was die RAF macht«, sagte Silvio, »die sind eben absolut konsequent, die sagen, das hier muß alles weg, mit allen Mitteln, da gibt's keine Kompromisse mehr.«

»Ja, Schwein oder Mensch, und so«, sagte ich, »also da sind die doch wirklich etwas abgedriftet. Sehen überall allmächtige NATO-Strategen und geheime Kriegszustände und verlieren völlig den Blick für den Normalzustand.«

»Sie reden halt für sich und für die Anti-Imps«, sagte Isa, »und der Rest der Leute ist ihnen egal. Von denen erwuten sie, daß sie die Texte einfach verstehen, oder sonst sind sie Schweine oder so was. Ich möchte mal wissen, was da für 'ne Strategie dahinter sein soll.«

»Die gibt es bestimmt«, sagte Silvio, »nur, die haben sich selbst in 'ne ganz andere Richtung entwickelt, und zwischen denen und dem Rest der Welt gibt es praktisch keine Brücken mehr. Die haben 'ne eigene Logik, und die versteht eben kaum noch jemand außerhalb. Aber trotzdem, ich fühl mich denen immer noch mehr verbunden als irgendwelchen Gewaltfreien. Immerhin versuchen sie, gegen den ganzen Scheiß hier zu kämpfen, und riskieren dabei alles. Die Gewaltfreien labern nur dumm rum und machen im Endeffekt nichts.«

»Mehr verbunden vielleicht«, sagte ich, »aber auch nicht mehr als das. Wenn da Leute umgeknallt werden, also moralisch ist das nicht das entscheidende Problem für mich, weil es irgendwann auf jeden Fall Tote gibt. Eine Revolution ohne Tote und Blut, davon hab ich vor Jahren vielleicht mal geträumt, aber das gibt's einfach nicht. Aber so weit ist es ja noch lange nicht, und es ist doch was anderes, jetzt Leute zu erschießen. Mal hier, mal da, und warum dieser, warum jener? Einfach sagen >es ist Krieg< und dann loslegen, das ist ja wohl zu einfach. Aber so machen sie's. Du kannst doch nicht alle Amis locker zu Feinden erklären, mit Kind und Kegel, nur weil es bei denen so viele Schweine gibt. Wenn du schon jemanden umlegst, jetzt, wo 'ne Revolution ziemlich weit weg ist, mußt du verdammt schwerwiegende Gründe haben. Das muß schon jemand sein wie Somoza in Nikaragua oder Pinochet in Chile oder meinetwegen auch F. J. Strauß oder ein Neo-Nazi-Führer wie der Kühnen, das fänd ich ja noch in Ordnung. Wobei da natürlich noch die Frage ware, ab das 'ne taktisch sinnvolle Eskalation ware.

Aber wo hat sich die RAF denn mal einer solchen Diskussion gestellt?«

»Ich finde das überhaupt keine taktische Fage«, sagte Isa, »für mich ist das ganz klar, daß du keine Menschen töten darfst. Ich finde, das müßte absolut klar sein, daß so was nicht läuft, daß das 'ne absolute Grenze ist für alle Militanz. « »Naja, jedenfalls so wie es hier heute aussieht.«

»Nee, überhaupt.«

»Und wenn's mal wirklich abgeht?« fragte ich. »Ich meine, wenn hier der Bürgerkrieg tobt, wenn die Revo losgeht, dann passiert es, da kannst du dich auf den Kopf stellen.« »Na gut, vielleicht, aber das ist noch weit weg«, sagte Isa. »Ich meine jetzt den Widerstand, das, was wir hier die ganzen Jahre machen, was hier seit achtundsechzig läuft. Seit damals, finde ich, gab es keine Situation, wo wir hätten jemand töten dürfen. Weil das echt der allerletzte Ausweg ist, den es nur gibt.«

»Finde ich ja auch«, sagte Silvio, »nur, es gibt eben verschiedene Meinungen, wo dieses >Allerletzte< anfängt. Kommt ja auch drauf an, was du eigentlich willst. Wenn du zum Beispiel nur Nutzungsverträge für die Häuser erreichen willst, kannst du schon fast aufhören mit dem Widerstand - die Verträge wirst du wahrscheinlich bekommen. Aber wenn es um mehr geht, wenn du darüber hinaus willst, mußt du mehr machen, und dann haste auch mehr Gegenwind. Am meisten, wenn du hier alles umstürzen willst.« »Also, wie es heute aussieht«, sagte ich, »fängt das >Allerletzte< eindeutig erst bei Notwehr an. Und bis das sich ändert, wird es noch lange dauern, da bin ich sicher.« »D'accord«, sagte Silvio, »völlig d'accord. Ich finde es politisch gesehen auch daneben, wenn die RAF einen umschießt. Obwohl ich mich auch freue, wenn's mal ein richtiges Schwein erwischt, so wie Buback oder Schleyer oder so jemanden ... Aber egal: Es ist falsch, so was heute zu machen. Ich mag nur nicht, wenn das so absolut gesagt wird, so, als ob es völlig unmöglich wäre, jemanden zu töten. Ich glaube, das kann schneller gehen, als man so denkt. Diese ganze Moral, von wegen niemanden töten, keine Gewalt, das ist doch was für bessere Zeiten, für Leute, die es sich leisten können, weil sie nichts zu befürchten haben, denen es gut geht.«

»Was erzählst du uns das?« fragte Isa. »Wir sind nicht gegen Gewalt, Silvio, sondern gegen Mord oder gegen Hinrichtung, oder wie immer du das nennst, wenn's um Revolution geht. So was ist einfach unwürdig.«

»Und ich bin nicht wegen der Moral dagegen«, sagte ich, »da rennst du bei mir offene Türen ein. Daß diese Gewaltfreiheits-Moral scheinheilig ist, ist mir schon lange klar. Es geht mir darum, daß Töten nicht so was ist, was man mal eben macht; es ist der letzte Schritt, und du mußt sehr genau überlegen, wofür es sich lohnt, wann es berechtigt ist. Ich glaub schon, daß es Rechtfertigungen gibt, verstehst du, aber die schüttelt niemand aus dem Ärmel, und die RAF schon gar nicht.«

»Und von uns auch niemand«, sagte Silvio, »das dürfte klar sein. Drum zünden wir auch nur 'ne poplige Bank an. Die Frage ist nur, wer rechtfertigt es denn, das Töten?«

»Kein Mensch eigentlich«, sagte ich, »ich denke, das kann nie allein von einzelnen Personen oder 'ner Gruppe entschieden werden. Da muß eine Moral existieren, eine revolutionäre Moral, die Maßstäbe setzt, höhere Werte sozusagen. Die zum Beispiel sagt, daß Menschen, die für Folter oder Massenmord verantwortlich sind, getötet werden dürfen - nicht hinterher als Strafe, sondern währenddessen, meine ich. Das wäre dann zum Beispiel keine Todesstrafen, sondern eine Art Notwehr.«

»Ne komische Notwehr«, sagte Isa.

»Aber wie soll's denn sonst gehen?« fragte ich. »Der ganze Humanismus ist ja gut und schön, und die ganzen Ideale von Gewaltfreiheit und persönlicher Unversehrtheit sollten eine Hauptstütze der revolutionären Moral sein, finde ich. Aber was bedeutet dieser Humanismus, der heute offiziell immer gepredigt wird, denn in Wirklichkeit? Entweder ist er zynisch und berechnend, oder er duldet durch seine Tatenlosigkeit dauernd Mord und Totschlag und alles, und dazu wird gejammert, aber bloß die eigenen Hände nicht schmutzig machen! Ganz zu schweigen von dem ganzen christlichen Betrug, da fallen mir erst mal Waffensegnen und Scheiterhaufen ein. Also, welche bessere Moral siehst du, Isa?«

»Weiß nicht«, sagte Isa, »wahrscheinlich gibt es überhaupt keine Moral. Was ist überhaupt Moral? Ist doch dummes Zeug.«

»Ich schreib's an jede Wahand, neue Werte braucht das Land«, trällerte Silvio und räumte den Tisch ab. »Am besten warten wir den großen Krieg ab und hoffen, daß sie sich gegenseitig killen, die ganzen Schweine.«

»Da kannst du lange hoffen«, sagte ich, »die sitzen nämlich in ihren Bunkern, und wir sind es, die krepieren.«

»Die machen eh keinen Krieg«, sagte Isa, »so dumm sind die gar nicht.«

»Eben, sind sie nicht. Die machen es umgekehrt, die warten, bis wir uns gegenseitig ausdiskutiert haben«, sagte Silvio, »und dann fegen sie gemütlich die Reste zusammen.« »Wir werden uns nie ausdiskutiert haben«, sagte ich, »eher steht die Erde still.«

»Und deswegen bringen wir auch nie wirklich was zustande«, sagte Silvio. »Wie ich uns kenne, werden wir noch über Moral und Tod palavern, wenn wir alle im Konzentrationslager sitzen und im Krematorium der Ofen glüht.«

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