irgendwann 1988


Wie war das gewesen vor unserer Premiere? Als ich mit Isabel und Silvio zusammengesessen hatte, in der Küche, und wir überlegt hatten, was passieren sollte? Was zu tun war, wenn es wieder losging? Wenn sie wieder Häuser räumten, wenn all das Demonstrieren und Protestieren wieder einmal nichts genützt hatte, wenn feiste Gesichter ihre dreisten Sprüche klopften in Presse und Fernsehen. Wenn ich die »Morgenpost« ansah und jede Zeile mich anschrie, mir ins Gesicht spuckte, mich verhöhnte. Nur die Wahrheiten waren darin, die sich gegen uns verwenden ließen, aus allen Winkeln zusammengekehrt, und gab es einen Grund, anzunehmen, daß es bei den Meldungen zu anderen Themen nicht genauso war? Lügen, Verdrehungen, Behauptungen sprangen frech aus den bedruckten Seiten. Nein, »Lügen« war eine Verharmlosung, eine andere Wirklichkeit wurde hier geschaffen. Unsere Wirklichkeit sollte vernichtet werden, die Herrschaft formte sich dagegen ihre Realität. Die Alptraumfantasien ihrer Realität wurden uns angedichtet, ihr Foltern, Morden, Verstümmeln, Vergewaltigen, Hängen, Zerstückeln, Verbrennen, Vergiften, Kastrieren, von dem sie sich reinwaschen wollten in ihrer Realität, wurde über uns ausgegossen. Ihr Erpressen, Bestechen, Infizieren, Quälen, Knebeln, Gehirnwaschen, Mutieren, Erdrücken sollte uns gespritzt werden. Sie stahlen die Seele, stießen sie herum, zertrampelten sie, erschlugen sie mit Gewehrkolben, Paragraphen und Argumenten, und nun sollten auch wir ihr Werkzeug werden.

Diese kleinen, ekelgeilen Männer, die feisten Gesichter, die FDGO und Volksgerichtshof, Grundgesetz und Isolationshaft, Folter und Menschenrechtskommissionen, UND und Napalm, Hexenjagd und Gleichberechtigung erfunden hatten und sie überall verteilten, äußerst freigiebig. Während sie japsten über roten oder sonstigen Terror und sich wichtigtuerisch über lange Tische zum Mikrophon beugten, zertraten sie nebenbei mit dem rechten Absatz einen, zerquetschten sie mit der linken Hand auf dem Tisch eine, verschluckten sie einen, bepißten sie eine. Während sie ihr Beileid ausdrückten, wurde hinter dem Haus die aktuelle Form der Todesstrafe vollstreckt; während sie die »Anti-Folter-Konvention« unterzeichneten, übergossen ihre Söhne Menschen mit Benzin, wälzten ihre Töchter Akten über Verdächtige, wurden Stromregler aufgedreht und Stiefel angezogen, zum Treten, zum Treten. Mit Zeitungen und Kommentaren wurde geschlagen und in Notwehr von hinten erschossen. Alle waren sie unschuldig. Das war objektiv. So viel Unschuld war gar nicht mehr erfaßbar. Es war einfach ergreifend. Diese Unschuldigen waren eine Mehrheit, die schreiende Mehrheit.

Es gibt einen blinden Haß, der sich selbst nicht kennt, der sich verbraucht, der den freien Willen und die Selbstverantwortung zerstört. Das ist eine Sackgasse, an deren Ende die Führer und Demagogen warten. Doch es gibt auch einen sehenden Haß, der darum nicht weniger wütend sein muß. Ich hätte jederzeit gehen können, als ich die Absperrgitter und Polizisten vor dem ICC sah. Ich hätte gehen können, als ich die Polizisten mit Helm und Schild am Rande der Demo sah. Ich hätte die Zeitung weglegen können, als wieder mal ein Mensch grundlos erschossen worden war. Ich hätte abhauen können, als die Bullen im Dezember am Oranienplatz die Knüppel schwangen, als neben mir eine Bullenfaust genau in ein Gesicht traf, als auf der Gneisenaustraße die langen Holzknüppel losprügelten, als sie mit den Wannen in die Menschenmengen fuhren, als sie mit Tränengasgranaten auf Köpfe zielten, als die Wannen schaukelten, und wir standen hilflos daneben, hörten von drinnen nur die Schreie, sahen in den kleinen Seitenfenstern die auf- und niedergehenden Schlagstöcke. Ich wollte nicht abhauen. Ich wollte die Wasserwerfer sehen, deren Strahl die Beine wegriß und die Rippen eindrückte, ich wollte die Panzerwagen sehen, die Gefangenentransporter, die Video-Dokumentations-Fahrzeuge, Plexiglas, Stahl, Knüppel, Knarren, Gewehre, MPs, Gas. Ich wollte den Haß, einen bewußten, sehenden Haß. Alles andere wäre Selbstbetrug gewesen. Was ich gesehen hatte, war Wirklichkeit, und was hätte es mir genützt, mich davon abzuwenden? Ich hätte dennoch gewußt, daß es geschah, und daß es mir nicht egal sein konnte. Haß ist ungerecht, aber niemand hat Gerechtigkeit anzubieten. Haß fragt nicht nach der eigenen Mitverantwortung, nach unseren Steinen, Stahlkugeln, Mollis. Im Gegenteil, er will mehr davon. Ich wollte den Haß, weil er sein mußte, nicht, weil er meinen Träumen entsprach. Er war notwendig, um die Kraft zu haben, die feindliche Realität wegzuräumen, die mich niederdrückte, nicht nur einen Teil davon, sondern alles, bis ich mich davon befreit hatte. Mit dem Verschwinden der feindlichen Realität würde auch der Haß verschwinden.

Vielleicht dachten wir nicht alle gleich, damals in der Küche, vielleicht waren die Gedanken nicht einmal ähnlich, aber wir fühlten dasselbe. Was bisher geschehen war, genügte nicht, um den eigenen Haß auszudrücken, um für alle sichtbar zu machen, worum es uns ging, um die eigene Entschlossenheit zu verdeutlichen. Es genügte nicht, wenn es darum ging, sich gegen den ständigen Angriff der Realität zu wehren, ihn zurückzuschlagen, die befreiten Gebiete in den Häusern und Körpern gegen ihn zu verteidigen. Vielleicht redeten wir nur ganz wenig. Vielleicht sagten wir einfach nur »diesmal muß es sein« oder »jetzt reicht's aber« oder »wollen wir's nicht mal ausprobieren«. Wir mußten nicht mehr sagen, weil alles schon bereit war in uns. Für uns war die Frage nicht, ab die Gewalt legitim war, sondern es kam darauf an, sie richtig einzusetzen. Richtig, gemessen nicht am Vernichtungskalkül der Herrschaft, das die Menschen und ihre Träume taktisch berechnend für Macht und Profit verarbeitete, sondern an unseren Maßstäben. Genau die, die Verantwortung trugen, sollten getroffen werden. Nicht physisch, aber doch materiell. Dabei war unser Kampf natürlich symbolisch oder höchstens der Anfang eines wirklichen Kampfes, Militanz bedeutete, daß Gewalt nicht um ihrer selbst willen eingesetzt wurde, sondern als Vehikel des Kampfes, genauso wie ein Flugblatt, eine Demonstration, eine öffentliche Debatte. Es ging uns darum, in die Wirklichkeit einzufügen, was sowieso untrennbar mit unseren Gedanken verbunden war: der unbedingte Wille, die feindliche Realität nicht hinzunehmen.

Ich fragte mich, warum immer das Bittere in unseren Worten um einiges klarer, schärfer war als das Bessere, das wir wollten. Das Unerträgliche war zu sehen, darum war es leichter zu benennen als das Unbekannte, das Neue. Was nutzte es, von besseren Zeiten zu reden, wenn es erst einmal darum ging, die schlimmen Zeiten zu beseitigen. Aber dennoch, das genügte mir nicht, es gab doch auch anderes zu sagen. Wer hätte über das Scheinen der Sonne ohne Unterlaß, über Milch und Honig, über Freiheit, Gleichheit lange Texte, Flugblätter schreiben mögen? Das Schöne langweilt schnell, wenn es beschrieben wird. Wer zu viel Wert auf all die Schönheit der Zukunft legt, wird allzu träumerisch. Ich wollte ein Träumer sein, aber nicht naiv. Was gut war, mußte gelebt werden, das war mehr wert als Flugblätter. Schon viel früher, als ich das Bessere, von dem ich träumte, gar nicht hätte beschreiben können, war es als Gefühl vorhanden. Trotz Wut und Haß, Gewalt und Kampf war es da, wurde gerade darin geboren, stieg aus der schmutzigen Verpuppung strahlend empor, ich konnte es auch jetzt nur bruchstückhaft beschreiben. Aber es war da, das Bessere, es war der eigene, selbst eroberte Wert, der gefundene Weg, der Geruch des Neuen, Freien, der gemeinsame Aufbruch mit vielen anderen. Der Unterschied zum Alten war der freie Blick, auch auf die Wunden, die geschlagen wurden, die frische Luft, der freundschaftlich gesonnene Boden. Es war wie ein Wandern durch Wälder, mit Licht und Schatten, Blüte und Fäulnis, nach dem langen quälenden Weg über Beton und Asphalt. Es waren Gesichter, die durch das Suchen, das Kämpfen, schön geworden waren, in denen der Haß sich nicht eingegraben hatte, sondern lebendig in den Augen funkelte. Es war der Blick und die Verwandtschaft angesichts des Abenteuers, sich vom Strom abgewandt zu haben, neben ihm zu stehen. Es war das Gefühl, die Träume von der besseren Zeit zu kennen, nicht irgendwie und diffus oder als Parole, sondern - bei aller Schwierigkeit, sie auszudrücken - genau, die Bilder gesehen zu haben und jetzt versuchen zu können, ihnen ähnlich zu werden. Wie sollte ich so etwas sagen? Wer sollte das verstehen, ohne meine Träume zu kennen? Es mußte selbst erfahren werden. Das Schöne war das, was erlebt wurde. Das Schöne steckte überall drin, in der Gewalt, im Haß, in der Bewegung, in unserer Realität, die wir der anderen entgegengesetzten. Ständig.

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