September 1989


Die Monate im Knast häuften sich geadezu sichtbar an in meiner Zelle; sie konnten aus ihr ebensowenig entweichen wie ich selbst. Die Haftbedingungen waren ein bißchen lockerer geworden, was sich aber schon fast darin erschöpfte, daß ich ab und zu Kontakt zu anderen Knackis aufnehmen konnte, ohne dafür gleich eine Hausstrafe zu riskieren. Mit dem Prozeß ließ man sich Zeit, was etwas ärgerlich war, weil die Bedingungen der Strdhaft voraussichtlich nicht so streng sein würden wie die der U-Haft. Die Tage schleppten sich nicht weniger lahm dahin als zu Anfang; darin bewiesen sie eine erstaunliche Ausdauer. Ich wußte schon nicht mehr so recht, welches Datum wir hatten, und ich hörte Radio, um zu wissen, wie spät es war, obwohl das eigentlich so egal war.

Einen ziemlich fröhlichen Tag hatte ich hinter mir, denn ich hatte auf verschlungenen Wegen von Mitgefangenen ein kleines Bröckchen Haschisch bekommen, und als ich richtig schön breit war, war alles erträglich, die Musik aus dem Radio und die Aussicht aus dem Fenster und die Aussichten überhaupt, und ich tanzte, sang dummes Zeug und schrieb lustige Briefe, und die Zelle war ein bißchen größer geworden und die Luft ein wenig freier. Es war ein einmaliger Höhepunkt, denn aufheben wollte ich das Zeug lieber nicht, wegen der immer noch hin und wieder vorkommenden Zellenrazzien. Also hau weg, den Scheiß, und schließlich war ich soweit, daß ich mich nur noch aufs Bett legen und Kekse kauen konnte, und die Gedanken schwirrten kreuz und quer durch meinen Kopf und ersparten es mir, selbst zu denken.

Einen Tag später kam ich vom Hofgang zurück und auf dem Tisch lag meine Post, besonders auffällig dabei ein blauer, dicker Umschlag, das war die Anklageschrift. Die Essenz der Akten sickerte zwischen meinen Fingern hindurch in den Raum und durch meine Augen in meinen Kopf. Ich las das Zeug durch und warf es auf den Tisch und weinte auch ein bißchen, weil da auf dem Tisch fünf oder acht Jahre oder eher zehn Jahre Knast lagen, klein und kompakt, extra für mich, und bei den anderen würden die jetzt genauso auf dem Tisch liegen.

Ich hatte einen Kloß im Hals, aber wenigstens geschah jetzt wieder etwas. Heute oder morgen setzten sich die Anwälte in Bewegung, die nicht gedacht hatten, daß es so schnell gehen würde, oder sie hatten sich in Zweckpessimismus geübt. Und bei Haftsachen arbeiteten unsere werten Gerichte ja bekanntlich ungemein rasch, es konnte sich also nur noch um Monate handeln, bis der Prozeß begann. Na, und wenn schon. Ich wollte nicht reagieren wie all die Knackis, die gebetsmühlenartig von Anklagen und Prozessen und Revisionen etcetera redeten, Tag für Tag. Mir konnte das egal sein. Prozesse kannte ich nun wirklich inzwischen genug, von verschiedenen Positionen aus betrachtet. Der hier würde das Prunkstück der Sammlung werden.

Wir mußten uns noch auf eine gemeinsame Strategie einigen, aber eines war zumindest klar: Es gab hier keinen Deal, keine letzte Chance, keine Bewährung, es gab nur Knast, und ob es ein paar Jahre mehr oder weniger waren, wrden wir wahrscheinlich nicht sonderlich beeinflussen knnen. Warum also nicht auf dem Tisch tanzen, die Hosen runterlassen, denen zeigen, was wir von ihren Prozessen hielten? Ich hatte es mir lange genug aufgespart, solange ich immer noch eine Aussicht sah, davonzukommen. Am liebsten wäre ich sowieso mit falscher Nase, Hornbrille und struppigem schwarzen Schnurrbart aufgetreten, mit Narrenkappe und Trte und Konfetti oder mit Lederhose und Gamsbart am Hut als Schuhplattler oder als Napoleon, und meine Angaben zur Person hätte ich gesungen oder gemorst, und als Entlastungszeugen hätte ich die Monty Pythons und den Papst benannt, und den Staatsanwalt hätte ich als Außerirdischen entlarvt, der die Menschheit versklaven will unter dem Vorwand, neue Harmonie auf unseren Planeten zu bringen, und die Zeugen hätte ich ins scharfe Verhr genommen, bis der Richter mir das Wort entzogen hätte, weil das nicht zur Sache gehöre, ich hätte aber zurückgezogen, und dann htte ich ihn selbst verhört, und das Publikum hätte Stullen und Thermoskannen ausgepackt, und zuletzt hätte der Richter ein umfassendes Geständnis abgelegt und der Staatsanwalt seine Maske und das Publikum die Kleider, und die Beisitzer hätten vom Landungssteg abgelegt, und das Regiment des Unsinns wäre schließlich errichtet worden in den heiligen Hallen des Gerichtes. Die Eingangshalle wollte ich aber stehenlassen, denn die war wirklich ein Kunstwerk, und damit ließ sich viel machen; da waren Figuren zu verzieren, Kletterpflanzen und ganze Bäume unterzubringen, Feste zu feiern und Konzerte zu veranstalten und geschichtsträchtige Versammlungen abzuhalten, wo oppositionelle Gruppen von den Treppen und oberen Emporen her brüllten, während unten, auf alten Kisten stehend, andere versuchten, eine Rednerliste zu erstellen, und die weiter entfernt Sitzenden und Stehenden sahen durch den ganzen Rauch den Eingang nicht mehr, und alle riefen »nicht rauchen« und alle rauchten trotzdem, wie bei John Reed in seinen »Zehn Tagen ...«, und hinterher würde ein Film gezeigt, und all das konnte mit dieser großen, leeren Halle im Kriminalgericht noch gemacht werden. Der Rest des Gebäudes aber mußte wohl leider abgerissen werden, waren ja alles nur kleine, tote, ausgetrocknete Büros und Gerichtsäle; da war Abriß einfacher als Sanierung von den alten Giftstoffen, die sich dort überall festgesetzt hatten. Je näher der Prozeß rückte, desto mehr versuchte ich, mich ihm zu entziehen. Klar, da war viel vorzubereiten, zu überlegen, zu erarbeiten, und ich konnte auch schlecht sagen: du bist der Anwalt, es ist dein Job. Er war ja nicht nur mein Anwalt, sondern auch ein Freund, und auch derjenige, den ich hier im Knast am häufigsten sah, abgesehen von den sympathischen Burschen, die gemeinhin Schließer genannt wurden und die ich nicht mitzählen wollte. So arbeitete ich mich also auch an den Akten ab, suchte Widersprüche und Schwachpunkte und überlegte, wie wir am besten unsere Prozeßerklärung machen sollten, alle einzeln oder gemeinsam, und so weiter. Natürlich war es nicht uninteressant, herauszuarbeiten, daß die in Tatortnähe gefundenen Handschuhe erst drei Tage später sichergestellt worden waren, und daß es keine kompetente Bewertung der Funkgeräte gab, was zum Beispiel deren Reichweite anging, und daß unklar war, wo die angeblich Boris zuzuordnende Haarsträhne gefunden worden war, ab im Auto oder am Tatort. Und natürlich gab es eine Beweislücke, weil wir nicht auf frischer Tat gestellt worden waren, und theoretisch hätte es auch eine geheimnisvolle Bande von Unbekannten gewesen sein können, die zuschlug, während wir die Funkgeräte im Wald gefunden hatten und die Benzinspuren an Judiths Schuhen vom Tanken herrührten. Das war alles keine sehr ermutigende Arbeit; selbst ein unvoreingenommener Richter - wenn es so was gäbe - hätte da wohl einiges an Erklärungen erwartet.

Mehr als einmal legte ich den ganzen Papierkram zur Seite und nahm mir vor, ihn nicht mehr anzusehen. Ich mochte nicht mehr daran denken, wie es in dieser Nacht gewesen war, mit den Knarren am Hals und den Bullen, von denen ich nicht so genau wußte, was sie alles mit mir vorhatten. Natürlich, vorher war es gut gewesen, hatte großen Spaß gemacht. Aber viel war nicht kaputtgegangen bei der Genotec, weil sie ja so schnell dagewesen waren, Bullen und Feuerwehr. Hätten wir den Abend doch gemütlich am See verbracht oder im Kino oder in der Kneipe. Da hätte ich mich dann mit Hassan auf die neuesten Flugblätter gestürzt, wir hätten uns erst kaputtgelacht, was da alles wieder verzapft wurde, und dann hätten wir uns hingesetzt und ernsthaft darüber diskutiert ... Dann hätten wir uns zusammen über das Kinoprogramm gebeugt und festgestellt, daß wir alles schon kannten und daß es sowieso fast nur Schrott gab. Und vielleicht wären wir doch noch losgefahren zum Doppelprogramm ins »Sputnik«, raus in den Wedding, wo die Schering-Burg dräute ... Hassan würde wie üblich wie ein Verrückter fahren, über rote Ampeln und mit zu wenig Abstand, und dabei nach seinen Kippen fingern, und Anna würde ihn, ebenfalls wie üblich, wegen seines Fahrstils anmachen, und hinten säße ich neben Carmen, Boris und Judith, die den letzten Tratsch erzählten und mich an der Türe zerdrückten, und drückte zurück und Hassan fuhr Schlangenlinien und lachte, und Judith streckte die Beine zum Fenster raus.

Oder ich hätte auch mit Hassan die Nacht durchmachen können, durch Sechsunddreißig und Einundsechzig ziehen, zu Fuß natürlich, zwanzig Minuten vom Mehringdamm zum Kotti, und wir hätten über alles mögliche gequatscht, über unsere Beziehungsprobleme und wie wir als Männer überhaupt damit fertig wurden, mit dem ganzen Patriarchatsscheiß überall und in uns selbst, und worauf wir Bock hatten und wo die Grenzen waren und wer alles Unsinn redete und wer in Ordnung war und wer ganz toll war und überhaupt, und dann wären wir morgens um sieben an einer Bank vorbeigekommen und hätten ganz spontan da die Scheiben eingeworfen, und neben uns hätte ein junges Pärchen gestanden und der Mann hätte gesagt »Komm, wir gehen besser, da kommt jetzt sicher gleich die Polizei«, und das hätte uns gefreut, und wir wären noch irgendwo was trinken gegangen.

Oder aber, noch besser, wir hätten unsere Sachen gepackt und uns aus dem Staub gemacht, raus aus der Umzingelung der Mauern: im Osten der Beton, im Westen die »freie Stimme der freien Welt«, die im Radio ihre Mauern hochzog, wenn es auch so klingen sollte, als würden sie niedergerissen; und ab durch das fremde Land DDR, dem all der Dreck noch bevorstand, der sich bei uns im Westen schon angehäuft hatte. Dann hätten wir uns gewundert über freundliche Zöllner an der Ostseite und unfreundliche Zöllner an der Westseite, aber nicht über die vielen Bekloppten, deren befreite Füße nach zweieinhalb Stunden »Tempo hundert« plötzlich ganz schwer aufs Gaspedal herabsanken und die zwischen Helmstedt und Braunschweig an uns vorbeijagten, als ob ihnen jemand wegliefe. Das Leben wahrscheinlich, was keine so neue Gedankenverbindung war. Und schließlich, endlich, würden wir den freiesten Staat auf deutschem Boden hinter uns lassen, ganz weit hinter uns lassen. Mit Anna und Hassan saß ich auf den Steinen um unsere äußerst bescheidene Kochstelle, wo nicht mehr als Kaffee entstand, über einem fast unsichtbaren Feuer. Hier waren wir sicher. Niemand saß jetzt in irgendeinem Kellerraum, mit Kopfhörern, an Knöpfen und Schaltern hantierend, um uns besser verstehen zu können. Kein Computer schaltete automatisch das Band ein, wenn die programmierten Schlüsselwörter in unserem Gespräch fielen. Keine Wohnung gegenüber, in der auf Stativen Richtmikrofon, Fernglas, Kamera, Nachtsichtgerät standen. Kein Fremder, der sich in der leeren Kneipe just an den Tisch neben uns setzte. Kein Auto, das hinter unserem blieb. Keine unterbrochene Telefonleitung, wenn sie woanders gerade das Band wechselten. Keine Abschriften auf den Schreibtischen von Dezernatsleitern, Kriminaloberräten, Sachbearbeitern, Führungsmännern des Verfassungsschutzes.

Hier gab es nur die Steine, die rote Erde, die Pinien, Korkeichen und Zypressen: den Geruch von Lavendel, Thymian, Rosmarin, Wacholder; Mandeln und Stechginster, Maccia und staubige Wege voller Quarzbrocken, träges Wasser, ruhige Luft. Wir waren entkommen aus unserem geliebten Heimatland und am Ziel aller Wünsche. Wasser oder Wein, Weißbrot, Käse, Knoblauch, Zwiebeln; Eis, wenn wir die Zivilisation streiften. Ansonsten das, was bei uns daheim nicht ging, Zeit, um sich auszudehnen, zu wachsen, ein bißchen so zu fühlen, als sei alles nicht so arg, ein bißchen die Träume wahrzumachen.

Hier war alles möglich. Das Mittelmeer, der Süden, alles war möglich. Es gab keinen Le Pen mit Wahlsiegen in Marseille, es gab keine Wandparolen für den Putschgeneral Tejero in Malaga, es gab keine Faschisten in Rom. Und wahrscheinlich hatte es auch keinen Militärdiktator Papadopoulos in Athen gegeben, gab es keine Folter in Izmir, keine Falange in Beirut, keine Wehrdörfer auf den Golan-Höhen, keine Moslem-Bruderschaften in Alexandria, keine Vertreibung der Sahrauis durch die marokkanische Armee. Das Mittelmeer war die Quelle der Freien. Hier fanden alle das, was ihnen die Freiheit versprach, oder doch zumindest den Abglanz, das Licht der noch nicht aufgegangenen Sonne, das die Wolken über dem Horizont streifte und den Himmel erglühen ließ. Die Hoffnung.

Spanien war ein Traum für mich. Spanien war der geheimnisvolle Ort, wo alles hätte geschehen können und wo immer noch alles geschehen konnte. Spanien war mein Traum. Die Conquista Lateinamerikas vor hunderten Jahren war nichts anderes gewesen als Kolonisation und Völkermord, doch heute war Spanien nun einmal die Quelle dieses Lateinamerikas für mich, und in Lateinamerika waren Gräber und Hoffnungen so vieler Träume; dort trat alles offen zutage, Gutes wie Schlechtes, ohne die raffinierten Maskierungen unserer Heimat. Und Spanien war der Ort, wo das Gute das Schlechte übertreffen sollte, mußte. In Spanien war es, wo die Revolution beinahe triumphiert hätte, wo einmal, ein einziges Mal, bewiesen worden war, daß Anarchie kein Hirngespinst war, daß sie leben konnte. Spanien war das Land, wo gegen den Faschismus gekämpft worden war, bis zum letzten. Spanien war das Land, wo niemand außer dem Staat selbst den Staat mochte. Spanien war das Land, wo Hunderttausende nicht gegen die Raketen neben ihrem Gartenzwerg demonstrierten, sondern gegen die NATO. Spanien war das Land, wo Arbeiter wußten, daß ihnen gegen ihre Ausbeuter nur der militante Kampf helfen konnte. Spanisch war die Sprache der Befreiung.

Auch in Spanien gab es die Realität von ihnen, drang die Europäische Gemeinschaft vor auf der Suche nach neuen Köpfen, die das deutsche Wesen beackern konnte, standen Bürokratie und spitze Hüte der Guardia Civil unverrückbar, wurde gefoltert und gemordet, warfen Kirchtürme und erhobene Faschistenarme ihre Schatten. Aber was war das gegen unsere Heimat, unser geliebtes Land, so fern, doch stets präsent, beispielhaft, alles exportierend, und sei es Leere? Hier gab es Hoffnung, hier gab es Leben, hier war alles möglich. Am liebsten wäre ich niemals hingefahren.

Und dennoch, hier waren wir, und Leben war wieder Leben. Der Lärm der Zikaden war ein einziger Jubel, ein Singen, leben, leben, es gibt nichts anderes, komm zu uns! Ihr Singen machte den Boden warm und die Luft klar, und als es dunkel wurde, machte es die Sterne heller. Hier zu bleiben und sich nie wieder zu bewegen! Vielleicht war das der Sinn von allem.

Trotzdem fiel mir wieder diese Heimat ein. Sollten wir überhaupt zurückfahren?

»Ich frage mich, warum wir das alles machen«, sagte ich. »Was machen?« fragte Hassan abwesend.

»Die ganzen Aktionen.«

»Meinst du Anschläge und so was? Wie kommst du denn jetzt auf so was?« fragt Anna.

»Naja, ich meine, ich sitze hier, und am liebsten würd ich hier einfach bleiben und gar nichts tun.«

Hassan hantierte mit dem Kaffee und schürte das Feuer. Weder er noch Anna sahen aus, als wollten sie etwas dazu sagen. »Vielleicht handeln wir ja wirklich nur aus Ungeduld«, sagte ich. »Aber irgendwer muß ja mal anfangen, irgendwann.« Hassan reichte mir Kaffee rüber und sagte nichts. Anna ging widerwillig auf meine unpassenden Überlegungen ein.

»Was wir machen, machen wir doch auch für andere«, sagte sie, »auch wenn wir's nicht immer so sehen. Andere sollen das sehen, vieleicht mal nachmachen, aber vor allem merken, daß es da noch andere Wege gibt, als den einen normalen, erwünschten.«

»So 'ne Wege wie den hier, ihr Klugschwätzer«, sagte Hassan und schwenkte die Kanne ins Dunkle, in Richtung Feldweg. »Ich denk nur über Argumente nach«, sagte ich sinnend. Ich dachte aber kein bißchen nach. Ich sah in den Himmel über uns, für den es keine Argumente gab und überhaupt keine Worte, sondern nur noch das Öffnen der Augentore, um ihn in seiner allmächtigen Schönheit einzulassen. Worte und Gedanken legten sich darunter und träumten bizarre Träume.

»Ich frag mich eher was anderes«, sagte Anna. »Nämlich, wie es geht, nichts zu machen. Das ist für mich das große Rätsel.«

»Und wenn 'ne Sternschnuppe fällt, wünsch dir was«, sagte Hassan.

»Ich wünsche mir ...«, rollte ich gemächlich über meine Zunge. Hoch oben flitzte eine Sternschnuppe über den Himmel.

Wir saßen da und tranken Kaffee und schwiegen und hörten den Zikaden zu und dachten vielleicht hin und wieder über militante Politik nach. Aber je mehr ich mich diesen Gedanken näherte, desto unklarer wurden sie. Ich wußte, daß ich meinen Weg kannte und für gut hielt, und ich kannte viele Argumente und Gegenargumente und darauf wieder Entgegnungen, für die es Erwiderungen gab und so fort, ohne Ende, immer weiter fort vom eigentlichen Thema. Alle Konturen verwischten sich, es ging wieder um alles, wie so oft, wenn wir von unseren Träumen, unserer Realität sprechen wollten. Die Begriffe ließen sich nicht greifen, denn sie schleppten zu viel mit sich herum. Ich konnte sie niemandem so einfach überreichen oder in die Tasche stecken, sie sträubten sich, ließen sich nicht handhaben. Am Ende würde wieder alles beim alten sein, weil nichts zu Ende geführt worden war, zu früh abgeschlossen wurde, meistens mit Absicht, weil das Ende nicht abzusehen war. Und zuletzt würde doch wieder nur die Tat oder das eigene Erlebnis anderen die Überzeugung bringen. Warum vermochten die vielen klugen Worte, die Argumente, nicht über die einfachen Gefühle und Vorurteile zu triumphieren? Warum konnten Minuten von Gefühlen stundenlange Gespräche, jahrelange Studien ersetzen? Warum waren Menschen, die durch die klügsten Argumente nicht zu überzeugen waren, durch die primitivsten Erfahrungen anders geworden? War das die Macht der Evolution? War das die Einsamkeit aller Menschen?

Ich saß neben Anna, wir hielten uns an den Händen, warm, es war nicht der Ort für politische Diskussionen. Es war der Ort, sich klein und unbedeutend zu fühlen, glücklich zu sein oder unglücklich, an Höheres zu denken, zu träumen und die Nacht an sich vorbeiziehen zu lassen. Allein mit sich zu sein oder mit anderen, alles auszusperren, was nicht anwesend war, alle Ängste und Hoffnungen. Nicht der Ort, über militante Politik nachzusinnen. Diese Gedanken verloren sich, verwehten irgendwo weit weg. Ich legte mich auf den Rücken, um

Anna wie ein Traumbild über mir zu sehen, eingehüllt in den weiten Nachthimmel. Das Feuer war ausgegangen.

Noch einmal schob sich ein störender Gedanke heran. Du bist ein Mann, kannst du es überhaupt wagen, etwas von einer Frau zu wollen? Eigentlich nicht, oder? Jahrhunderte, Jahrtausende gar, lasten auf dieser Frage und wollen dir die persönliche Entscheidung nehmen. Du kannst gar nicht entscheiden, sagen sie dir, denn deine Gedanken sind nicht deine, sondern fremde, die von ihnen; hier stehst du auf der anderen Seite, bist du der Schlechte, bist der Sozialdemokrat des Patriarchats, ganz egal, wie viele Bücher darüber du schon gelesen und wie viele Gespräche du geführt hast. Es steckt in dir, beherrscht dich. Es ist Teil der großen Ungerechtigkeit. Was du auch tust, ist davon bestimmt. Wähle Isolation, Selbstaufgabe, Zölibat, Taktiererei, um zu entfliehen, aber du entkommst nicht. Und wenn du völlig überzeugt bist, es jetzt verstanden zu haben, oder wenn du genug von allem hast oder wenn du ganz doll in dir selbst herumwühlst, liegst du plötzlich in dieser Nacht auf dem Boden, und über dir siehst du Anna wie ein Traumbild, eingehüllt in den weiten Nachthimmel.

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