Mai 1980


»Was soll die Scheiße!?«

Neben mir hatte jemand geschrien, aber mir war zuerst nicht klar, wer oder was gemeint war. Ich versuchte, inmitten der Menschenmassen zu erkennen, was da vor sich ging. Es mußte in unmittelbarer Nähe sein, aber alle drängten in dieselbe Richtung, und ich konnte zwischen den Leuten keine Gasse finden. Plötzlich stolperte ich fast, denn direkt vor mir kniete jemand und fuhrwerkte am Boden herum. Als er einen hastigen Blick nach oben warf, sah ich, daß es ein Mann war, mit langen Haaren und einem Halstuch, das über Mund und Nase hochgezogen war. Er hatte einen Schraubenzieher in der Hand und war damit beschäftigt, Pflastersteine auszugraben. Der Boden war hart und trocken, und er hatte seine Mühe damit. Als ich mich umsah, fand ich noch einige andere Leute mit Tüchern vor dem Gesicht. Maskierte also. Dann kam einer von hinten, einer ohne Tuch, und zerrte den knieenden Mann am Arm hoch. Ich erkannte die Stimme von eben wieder.

»Hör auf mit dem Scheiß!« rief er. Der Kniende riß seinen Arm los und machte weiter. Von allen Seiten drängten die Menschen, manche mit, manche ohne Tücher. Ich stand mitten im Geschehen. Der Mann ohne Tuch fing wieder an, den Maskierten am Arm zu ziehen. Eine Frau nahm ihr Tuch herunter und ging dazwischen.

»Laß den doch in Ruhe«, sagte sie, »was willst du eigentlich?« »Daß ihr aufhört damit«, sagte der Mann, »verdammt, was soll denn das? Was soll dieses verdammte Steineschmeißen immer?«

»Warte, bis die Bullen kommen, und dann frag noch mal«, gab die Frau zurück.

»Was interessieren mich die Bullen? Die machen doch gar nichts. Die machen erst was, wenn ihr mit Steinen schmeißt! «

»Ach wirklich?« höhnte die Frau, »du scheinst dich ja echt gut mit Demos auszukennen. Erzähl doch so was mal den Leuten, die den Holzknüppel auf den Kopf kriegen, weil sie nicht schnell genug rennen können, egal, was sie vorher gemacht haben.«

»Warum sollte mir einer auf den Kopf hauen? Ich hab nichts gemacht. Aber ihr.«

»Meinst du im Ernst, die knüppeln erst, wenn wir anfangen?« rief die Frau. »So blöd kannst du doch gar nicht sein!«

»Laß den doch«, sagte ein Maskierter, »der erzählt doch bloß.«

»Der erzählt überhaupt nicht«, mischte sich eine andere Frau ein, »sondern der hat ganz recht, und ihr laßt gefälligst eure Steine liegen. Wenn die Polizei bis jetzt ruhig geblieben ist, dann machen die auch nichts, es sei denn, ihr fangt jetzt mit Krawall an.«

»Und was war in Hamburg mit Olaf Ritzmann?« fragte der Maskierte. »Wo war denn da der Krawall im S-Bahnhof, wo sie ihn vor den Zug gejagt haben?«

»Ich weiß doch nicht, was in Hamburg war«, sagte die Frau,

»aber ich weiß, was hier ist. Wir lassen uns nicht die Kundgebung kaputtmachen von euch, verstehst du?«

»Wir machen eure tolle Kundgebung kaputt, was?« sagte die erste Frau. »Habt ihr die gepachtet oder was? Merkst du überhaupt, was du da redest? Wo stehen denn unsere Gegner?«

»Das hat doch damit gar nichts zu tun. Überhaupt nichts«, sagte der erste Mann, »und wenn die Bullen tausendmal eure oder unsere Gegner wären, braucht ihr hier nicht mit so was anzufangen.«

»Laß es sein«, sagte ein anderer Maskierter zu der Frau, »hör doch auf, mit denen zu reden, die schnallen es eh nicht. Laß uns die anderen suchen. Hier ist es sinnlos.«

»Aber ihr müßt doch ... ach, du hast recht. Ist für'n Arsch«, sagte die Frau. Der Kniende erhob sich. Die Maskierten drängten sich durch die Umstehenden und verschwanden irgendwo in der Menge. Alle sahen ihnen nach und redeten durcheinander.

»Die wissen doch gar nicht, was sie da machen«, sagte die Frau.

»Das ist alles unpolitisch, diese Gewalt«, sagte der Mann, der sich zuerst geäußert hatte, »nützt doch nur den anderen, dem Strauß und Konsorten, dann gibt's schöne Schlagzeilen von den linken Chaoten und neue Sicherheitsgesetze und Polizeiwaffen. Am Ende sorgen die noch dafür, daß Strauß Kanzler wird. Das ist alles, was sie mit ihren Steinen erreichen. Wieso verstehen die das bloß nicht?«

»Die wollen oder können's nicht«, sagte die Frau. »Mit denen kann man doch gar nicht reden. Die werden doch sofort aggressiv, wenn man mit denen diskutieren will.«

Über dem Gemurmel der Menge lag das hallende Lärmen der Lautsprecheranlage. Irgendwo, weit entfernt, predigte eine unverständliche Stimme. Die Menschen warteten, daß endlich Schluß war. Viele hatten sich schon zerstreut, waren in Richtung U-Bahn gewandert, standen in langen Schlangen am Eingang einer Bäckerei, an Pommesbuden in der Umgebung. Die Polizeiautos, die hier und dort zu sehen waren, standen ruhig am Straßenrand, und ihre Besatzungen daneben, locker, aber mir runden schwarzen Schilden am linken Arm, und mit weißen Helmen auf dem Kopf. Was sie damit vorhatten, war mir nicht recht klar. Die Maskierten waren nicht mehr zu sehen. Was sie mit den Steinen wollten, war mir ebenso unklar.

Irgendwo blinkte ein Blaulicht. Die Menge um mich her lichtete sich langsam. Ich ging zur U-Bahn, während zwischen mir und dem grauen Himmel die blecherne Stimme über dem Platz lag. Ihre zerfetzten Lautreste folgten mir bis auf den Bahnsteig.

Später saß ich irgendwo mit Petra und anderen; um ihr nahe zu sein, nutzte ich auch Diskussionen über Politik (nicht gerade ein Privileg pubertärer Erfindungsgabe, wie ich in späteren Jahren feststellte). Da saßen, wie meistens, ältere Menschen um mich herum, und ich hoffte, von ihnen irgendwie meine widersprüchlichen Fragen und Antworten erklärt zu bekommen. Vielleicht konnte ich ihnen ja wenigstens etwas abgucken. Ich wollte, daß alles anders wird, soweit war ich schon. Anders sollte die Welt werden, passender, richtiger, und dann würden sich die Widersprüche auflösen, auch die in mir selbst verborgenen. Aber einer dieser Widersprüche war eben der Weg zur Veranderung - wie kam ich aus dieser absurden Schleife heraus? Doch meine Hoffnungen wurden meistens enttäuscht, denn die dort saßen, waren zwar älter als ich, doch darum noch lange nicht weise, und soviel sie über theoretische Probleme zu sagen hatten, sowenig konnten sie mir in der Praxis weiterhelfen. Petra war da keine Ausnahme.

»Wie stellst du dir denn das vor?« fragte sie. »Alles wird einfach anders? Alle lieben sich plötzlich, und es herrscht Frieden auf Erden? «

»Ich weiß ja auch nicht«, sagte ich, »ich weiß nur, es muß ohne Gewalt gehen. Wer Gewalt anwendet, um seine Ziele zu erreichen, ist nicht besser als seine Gegner.«

»Das sehe ich aber anders«, sagte einer, »mal ganz abgesehen davon, daß diese Gegner - also unsere Gegner, sag ich mal - sicher nicht solche Diskussionen führen wie wir hier. Ich finde nicht, daß Gewalt gleich Gewalt ist. Es gibt Unterschiede.«

»Und welche sind das?« fragte ich. »Woran unterscheidest du denn gute und schlechte Maschinenpistolen?«

»An denen, die sie benutzen«, erwiderte er, »für mich ist es wichtig, was derjenige sich denkt, der schießt. Deshalb habe ich auch mehr Verständnis für Attentate der RAF als für ballernde Polizisten.«

»Aber das kann ja wohl nicht alles sein«, sagte Petra, »was Tomas meint, ist doch, daß Gewalt zuerst mal ein moralisches Problem ist. Da brauchst du doch gar nicht mit solch einem Hammer wie Attentaten zu kommen. Sich dir einfach 'ne Demo an, was da abgeht.«

»Genau«, sagte ich erleichtert, weil ich das auch gemeint hatte und fürchtete, den Faden zu verlieren. »Wenn ich da Leute sehe, die Steine schmeißen, frag ich mich doch, wie die mal eine gewaltfreie Gesellschaft machen wollen, oder ob sie's überhaupt wollen.«

»Na gut, bleiben wir mal allgemein«, sagte der Mann, der Tom hieß, »und reden wir nicht von Taktik oder so etwas, obwohl das auch eng mit der Gewalt zusammenhängt. Ich halte ja zum Beispiel auch nichts davon, wenn auf Demos Steine geworfen werden, aber eben nicht aus moralischen Gründen, sondern aus politischen. Ich sehe mich als Revolutionär, ja? Als Kommunist, und ich glaube nicht an eine friedliche Veränderung der Gesellschaft ...«

»Ist das 'ne Glaubensfrage?« fragte ich dazwischen.

»Naja, letzten Endes natürlich nicht«, sagte er, »du kannst aus der Geschichte 'ne Menge lernen, wenn du dir mal die Zusammenhänge ansiehst. Die friedliche Revolution, so was gibt es einfach nicht. Weil zur Gewalt eben nur einer gehört, und dieser eine - also das Kapital meine ich - wird immer gewalttätig sein.«

»Und deswegen können wir auch draufhauen, meinst du?« sagte ich laut. Das ist doch Quatsch. Wir wollen doch was Besseres. Ich bin kein Christ, und wenn's drauf ankommt, würde ich vielleicht auch ein Gewehr nehmen, ich meine, wenn es wirklich hart auf hart geht ... Obwohl ich glaube, daß ich danach verrückt würde, schizophren oder so etwas. Du kannst doch nicht die neue Zeit mit Schüssen beginnen. Das zeigt doch auch die berühmte >Geschichte<.«

»Aber wie soll es denn deiner Meinung nach gehen?« fragte Petra. »Ohne Gewalt, schön und gut, das will ich ja eigentlich auch. Und weiter?«

»Naja, durch Überzeugung«, sagte ich, »erst müssen sich die Menschen ändern, und dann brauchst du auch keine Gewalt mehr, weil dann die Gesellschaft sich von selbst ändert.«

»Dann sich dir doch mal die Kräfteverhältnisse an«, sagte Petra, »was willst du denn gegen die Bild-Zeitung ausrichten? Diese Überzeugungsarbeit muß sein, und die gibt es doch auch seit ewigen Zeiten. Aber irgendwann reicht das nicht mehr.«

»Warte mal ab«, sagte Tom, »was passiert, wenn all diese Überzeugungsarbeit zu erfolgreich wird. 'Du denkst, weil du selbst friedlich bist, bleibt auch dein Gegner nett zu dir. Aber nur, solange du erfolglos bist! Was meinst du, was hier los wäre, wenn es ein paar Millionen Revolutionäre gäbe in diesem Land?«

»Jedenfalls wäre es dann nicht sehr friedlich hier«, sagte ich, »aber das ist für mich kein Argument. Es läuft doch darauf hinaus, daß du sagst, wenn die Revolution nicht von selbst kommt, muß sie mit Gewalt vorangetrieben werden. Und das heißt, irgendwelche Revolutionäre entscheiden, ob Gewalt richtig oder falsch ist, ob jemand erschossen wird oder nicht. Wer kann denn so was entscheiden? Ich finde, das geht überhaupt nicht. Gibt's dann wieder >wertes< und >unwertes< Leben?«

»Das ist doch Polemik«, sagte Tom, »revolutionäre Gewalt ist doch kein Selbstzweck, und niemand schießt gerne andere tot. Oder jedenfalls sollte das niemand tun; asoziale Trittbrettfahrer gibt es natürlich immer. Aber bleib doch mal realistisch. Was sollten denn die Menschen in El Salvador oder Nikaragua machen? Oder in Südafrika? Sollen die sich foltern, ermorden, ausplündern lassen?«

»Aber das ist Widerstand«, sagte ich, »und es gibt doch auch Notwehr.«

»Also, und wer entscheidet, ab wann etwas Notwehr ist?« fragte Petra. »Was wäre denn zum Beispiel ein Attentat auf Hitler gewesen? Ein Drittel der Deutschen hat den gewählt, und trotzdem wäre es eine Art Notwehr gewesen, ihn zu töten.«

»Und was willst du damit sagen?« fragte ich.

»Ganz klar«, ergänzte Tom, »es gibt eine Grenze. Du kannst dich nicht hinstellen und die Gewalt an sich verdammen. Jeder Mensch weiß, daß es die Grenze gibt, du auch. Gewalt ist nicht etwas, das du allein moralisch behandeln kannst, weil es eben Momente gibt, wo sie einfach sein muß. Wie willst du das Problem lösen? Vom Himmel kommt keine Antwort, die mußt du schon selbst suchen.«

»Ich?« fragte ich. »Da kannst du noch lange warten. Klar, wenn du es so siehst, würde ich sagen, Gewalt darf immer nur das allerletzte Mittel sein. Eben Widerstand, Notwehr, wenn du angegriffen wirst. Aber nicht, daß irgendwelche Revolutionäre, oder was sich dafür hält, losziehen und den Kampf für eröffnet erklären.«

»Vielleicht definieren die Widerstand oder Notwehr nur anders als du«, sagte Petra, »es gibt da doch keine allgemeine Instanz für. Da gibt's doch tausend Abstufungen und verschiedene Wahrnehmungen. Ich wäre da jedenfalls vorsichtig mit meinem Urteil, auch wenn ich von Gewalt an sich wirklich nichts halte. Und, wie auch immer, solange die Gewalt Realität ist, solange die ständig um uns rum ist, müssen wir uns damit auseinandersetzen. Du kannst die nicht einfach durch deine Utopie wegreden.«

Ich sagte nichts mehr dazu. Alles klang so vernünftig, ob für oder wider, so durchgekaut, und wir hätten noch Stunden so weiterreden können. Die Verknotung blieb dieselbe, es ging weder vor noch zurück. Übrig blieb bei mir vor allem Mißtrauen gegenüber logisch klingenden Argumenten. Gegenüber all diesem Gerede von Klarheit, Lehren, Logik, Vernunft, So-und-nicht-anders. Es war immer anders, und nichts war klar.

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