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10 000 demonstrierten gegen Wohnungsnot und Verhaftungen

Sympathiekundgebung für Kreuzberger Instandbesetzer verlief friedlich

Rund 10 000 Menschen haben gestern nachmittag in Berlin die Forderungen der Hausbesetzer von Kreuzberg nach mehr Wohnraum unterstützt. Außerdem verlangten sie die Freilassung der nach schweren Straßenschlachten am vergangenen Wochenende festgenommenen Demonstranten bis Weihnachten. Nach Mitteilung der Polizei, die etwa 2000 Mann eingesetzt hatte, gab es keine Zwischenfälle.

Der Demonstrationszug begann mittags am Untersuchungsgefängnis Moabit. Die Teilnehmer forderten auf ihrem Marsch zur Gedächtniskirche unter anderem "keine Polizeieinsätze gegen Hausbesetzer." und den Rücktritt von Bausenator Harry Ristock, dem eine verfehlte Wohnungsbaupolitik vorgeworfen wurde, sowie von Innensenator Peter Ulrich und Polizeipräsident Klaus Hübner.

Etwa 20 Festgenommene befinden sich derzeit noch in Haft. Bei den Auseinandersetzungen vor einer Woche hatte es Dutzende von Verletzten bei der Polizei sowie bei den Demonstranten gegeben.

Auf einer Abschlußkundgebung an der Gedächtniskirche wurde erneut der Rücktritt von Ulrich, Hübner und Ristock gefordert. Sprecher der Alternativen Liste, der Bürgerinitiative S036 und eines "Besetzerrates" verlangten die Freilassung der noch Inhaftierten. Vorher könne es keine Verhandlungen mit dem Senat geben. Im übrigen wolle man nicht nur Wohnraum für ein paar Leute, sondern eine Änderung des Sanierungskonzepts von Altbauten. Es wurde aber auch erneut die Drohung ausgesprochen, daß zu Weihnachten in Berlin "nicht nur die Weihnachtsbäume brennen" würden,wenn bis dahin nicht die Gesinnungsgenossen aus der Haft entlassen seien.

Es wurde bedauert, daß bei den Demonstrationen vor einer Woche Schaufenster kleiner Geschäftsleute zu Bruch gegangen und Auslagen geplündert worden seien. Der Senat müsse die Schäden ersetzen, wenn die Versicherungen dafür nicht aufkämen. Der größte Erfolg der Demonstration sei es, daß man bewiesen habe, friedlich für seine Forderungen auf die Straße gehen zu können. Zum Abschluß wurden die Versammelten aufgefordert, zurück in die Stadtteile zu gehen und sich von niemandem provozieren zu lassen. Danach löste sich die Versammlung der - nach Polizeiangaben - etwa 10 000 innerhalb kurzer Zeit auf, ohne daß es Übergriffe oder Krawalle gab.

Zuvor waren die Demonstranten über beide Fahrbahnen des von vielen Passanten und Schaulustigen bevölkerten Kurfürstendamms gezogen und hatten in Sprechchören gerufen: "Eins, zwei, drei, laßt die Leute frei."

Ursprünglich war geplant, daß die Demonstration nur auf einer Fahrspur des Kurfürstendammes entlang führt. Durch einen Fehler der Polizei war die zweite Spur jedoch durch einen Blaulichtwagen blockiert. Der Einsatzleiter rief laut: "Nehmt das Blaulicht weg, der Verkehr muß fließen." In der Zwischenzeit waren aber schon einige Hundert Demonstranten auf die zweite Fahrbahn gewechselt. Ordner der Demonstranten befürchteten in diesem Moment, daß es zu einer unübersichtlichen Situation kommen könnte. Die Unruhe legte sich aber bald, da die Polizei nun auch die zweite Spur ganz sperren ließ. Ansonsten waren die Beamten weitgehend unsichtbar und beschränkten sich darauf, den Verkehr zu regeln.

Polizeipräsident Hübner äußerte nach der Demonstration seine Genugtuung, daß die Mehrheit der Kundgebungsteilnehmer mäßigend auf solche eingewirkt habe, die den friedlichen Verlauf hätten stören wollen. Hübner dankte den Teilnehmern und den eingesetzten Polizeibeamten für ihr besonnenes Verhalten. dpa/LR (Spandauer Volksblatt, 21.12.80)