Pissen für den Führer |
Der unschuldige Faschismus von Hergé |
Der geheimnisvolle Stern von Hergé erschien zwischen Oktober 1941 und Mai 1942 in täglichen Fortsetzungen in der belgischen Tageszeitung Le Soir. Die ursprüngliche französischsprachige Ausgabe ist von 1942. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Hergé schon acht Tim und Struppi-Alben gemacht. Während des Krieges erschienen, Der geheimnisvolle Stern mitgerechnet, noch vier Alben, während an drei anderen gearbeitet wurde. Für Hergé waren die Kriegsjahre eine produktive Periode. Die Tageszeitung, in der er bis dahin seine Tim und Struppi-Strips publizierte, wurde unmittelbar nach dem Einfall der deutschen Truppen in Belgien verboten. Aber es dauerte nicht lange, bis Hergé wieder loslegen konnte. Nachdem er ein paar Monate bei einer anderen Zeitung gearbeitet hatte, kam Hergé im Oktober 1940 zur nazifreundlichen Tageszeitung Le Soir. Dort arbeitete er bis zur Befreiung Brüssels am 3. September 1944. Le Soir wurde danach sofort verboten und Hergé wegen seiner Verbindung zu der faschistischen Tageszeitung mehrere Male festgenommen. Später sollte er behaupten, nie länger als eine Stunde festgehalten worden zu sein. Nichtsdestotrotz bekommt er ein Publikationsverbot von zwei Jahren als Strafe für seine Kollaboration mit den Nazis. Gegenüber den schweren Strafen, die einige von Hergés Freunden bei Le Soir auferlegt bekamen, kam er mit einem Publikationsverbot von zwei Jahren ganz gut weg. Hergé hatte wohl für eine falsche Tageszeitung gearbeitet, sich aber nie öffentlich für die Nazis ausgesprochen. In seinem Werk hatte man keine eindeutigen Sympathien für die Naziideologie gefunden. Hergé hatte sich nicht als Propagandist profiliert. Überdies hatte er das fortgeführt, was er auch schon vor dem Krieg gemacht hatte. Außerdem hatten die Besatzer zwei Vorkriegsalben verboten, und zwar Tim in Amerika und Die schwarze Insel. Weil diese zwei Abenteuer sich auf amerikanischem und englischem Gebiet abspielten. Diese Willkür war kennzeichnend für die deutsche Zensur. Die Wirkung davon war, daß die Macht unberechenbar und dadurch absolut erschien. So wurde erreicht, daß jeder, der in seinem Beruf mit den Deutschen zu tun hatte, äußerst vorsichtig zu Werk ging. Auch Hergé wollte die Nazis nicht noch einmal vor den Kopf stoßen und wählte den sicheren Weg.
Wie tief der Schreck bei Hergé saß, zeigt sich vor allem in Der geheimnisvolle Stern, wo er sich mit den Nazislogans arrangiert. Die anderen Kriegsalben zeugen deutlich weniger verkrampft von politischer Korrektur. In Der geheimnisvolle Stern macht Hergé kein Geheimnis daraus, daß der Widersacher Tims ein steinreicher ölmagnat und Bankier von jüdischem Blut ist. Dieser reiche und schlaue Jude heißt Blumenstein und trägt immer eine rote Nelke am Revers. Obwohl Krieg ist, verjubelt Blumenstein anderer Leute Geld. Hergé plaziert ihn konsequent gegen einen grellgelben Hintergrund, womit er das verhaßte Ambiente betont. Der Jude Blumenstein kennt nur ein Ziel: das Mehren seines Vermögens und Besitzes. Kein Mittel scheut er, auch nicht das niedrigste oder gewissenloseste. Er ist der Kopf einer Organisation, die überall in der Welt ihre Leute hat. Wenn es nach Blumenstein gegangen wäre, hätte es nach Der geheimnisvolle Stern nie mehr ein neues Abenteuer für Tim gegeben. Blumenstein interessiert sich überhaupt nicht für seinen Gegner, außer dafür, daß der sterben muß. Nirgends scheint Blumenstein zu wissen, daß ihm nicht irgendein Gegner, sondern Tim selbst gegenüber steht. Blumenstein ist so sehr von seiner überlegenen Kraft überzeugt, daß er sich nicht einmal die Mühe nimmt, seinen Gegner in Augenschein zu nehmen. Hergé hat nach dem Krieg sein Bedauern über diesen unzweideutigen Gebrauch antisemitischer Klischees ausgedrückt. Als Wiedergutmachung veränderte er im neuen Druck von 1947 den allzu jüdisch klingenden Namen Blumenstein in den eher deutsch als jüdisch klingenden Bohlwinkel. Ironischerweise stellte sich jedoch heraus, daß auch dieser Name in Israel vorkommt. Außer dem Klischee vom schlauen, reichen Juden, übernahm Hergé in der Kriegsausgabe auch die 1942 korrekte Sicht von Amerika. Blumenstein hatte sein Büro nämlich in New York, der Stadt, die nicht nur als Zentrum des Kapitalismus galt, sondern wo überdies 1929 die Krise mit dem Börsenkrach der Wall Street anfing. Schließlich ließ Hergé die durch Blumenstein finanzierte Gegenexpedition unter amerikanischer Flagge ausfahren, was suggerieren solte, daß die Amerikaner mit dem internationalen jüdischen Finanzkapital unter einer Decke steckten. Auch dieses Detail hat Hergé im Nachhinein korrigiert. Blumenstein veränderte nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Nationalität. Die Flagge bekam eine andere Farbe und seine Bank war nicht länger in New York, sondern im nicht existierenden lateinamerikanisch klingenden Sao Rico ansässig. Zeitgenössisch an Der geheimnisvolle Stern war auch die Vorstellung des Krieges als Untergangsvision. Das Thema des Untergangs war bei den Nazis beliebt. Sie führten Krieg gegen die jüdische Rasse, weil diese die Weltherrschaft wolle und damit auch den Untergang der germanischen Rasse. Der Judenstern stand als Symbol für das Übel und für alles, was den Untergang beschleunigte. Es wurden lediglich zwei Möglichkeiten präsentiert: entweder Deutschland geht unter oder das internationale Judentum. Ab September 1941 mußten alle Juden über sechs Jahren in Deutschland einen 'handtellergroßen' gelben Stern tragen und ab Juni 1942 die Juden in Belgien, wonach auch die Deportationen begannen. In Der geheimnisvolle Stern wird das Thema vom Untergang wortwörtlich an einen Stern gekoppelt: dieser wird als kosmische Naturkatastrophe dargestellt, als ein Komet, der aus seiner Bahn geraten ist und genau auf die Erde zusteuert, um sie zu vernichten. Das geschieht jedoch nicht, die Erde bebt und ist danach durch ein neues Metall bereichert.
Auf dem Weg von der Sternwarte nach Hause hat Tim die plötzliche Eingebung, daß der Meteor vielleicht doch teilweise aus dem Wasser ragt. Die Stärke des Erdbebens bewies, daß der Brocken riesig groß sein mußte. "Sapperlot!", sagt Tim, als er in einer Pfütze ausrutscht. Tim ergreift einen Ziegelstein und führt damit ein naturwissenschaftliches Experiment aus. "Dieser Ziegelstein, das ist der Meteroit! Dieses Wasser ist der arktische Ozean!!..." So gibt er dem Untergang, der die urbane Zivilisation bedroht, eine rationale Wendung. Einige Tage später stellt die 'Europäische Forschungsgemeinschaft' das nötige Kapital zur Verfügung, um eine wissenschaftliche Expedition in das Nördliche Eismeer auszurüsten. Die Organisation, die Tims Schiffsreise zum Meteroit finanziert, besteht aus Gelehrten, die sämtlich aus Ländern kommen, die freundschaftliche Beziehungen mit Nazideutschland hatten. Auch diese Länder wurden nachträglich korrigiert. Im Namen der 'guten' Organisation, der 'Europäischen Forschungsgemeinschaft', klingt das Streben nach einem großen, vereinigten Europa durch. Die EFG wird auf niederträchtige Weise vom Amerikaner Blumenstein bedroht. Blumenstein versucht alles, um sich der Reste des auf die Erde gestürzten Kometen zu bemächtigen, um dickes Geld damit zu machen. Die EFG- Expedition steht unter wissenschaftlicher Leitung von Professor Phossyl und unter Kommando von Kapitän Haddock, der auch Vorsitzender des BSA ist, des Bundes Seefahrender Antialkoholiker. Haddock hat sich, wie Hergé, an das Neue Zeitalter angepaßt. Er wußte, daß die SS scharfe Anti-Alkohol- Propagandisten waren. Hergé macht sich mit dieser doppelten Trinkmoral darüber lustig und läßt auf den folgenden Seiten Kisten voll mit Whiskey an Bord bringen.
Auf dem Polarschiff Aurora, das im Hafen zum Auslaufen fertig gemacht wird, passieren verdächtige Dinge. Struppi findet einen Dynamitstab, dessen brennende Lunte er auspißt. Als Tim Haddock den Dynamitstab zeigen will, ist dieser verschwunden. Außerdem wird einer der Gelehrten von einer geheimnisvollen Person bewußtlos geschlagen. Ein wenig später wird diese als das Orakel ausgemacht, das schon in der Sternwarte davor warnte, daß der Komet das Strafgericht sei. Dieser Verrückte hatte Tim kurz vor dem Erdbeben auch auf der Straße belästigt und ihn sogar in einem scheußlichen Traum besucht. Der Irre scheint ein alter Freund Phossyls zu sein. Phossyl und er haben sogar in der Sternwarte zusammengearbeitet. Philippulus, so heißt das Orakel, nennt sich selbst einen Propheten. Nun wird er endlich von zwei Wärtern in weißen Kitteln abgeholt, die ihn in die Anstalt zurückbringen, aus der er entwischt war.
Übereilt sticht die Aurora in See, nachdem bekannt geworden ist, daß aus New York/Sao Rico eine Gegenexpedition mit dem Polarschiff Peary aufgebrochen ist. Es folgt eine langweilige Seereise, die nur unterbrochen wird durch einen mißglückten Versuch, die Aurora anzufahren, Schwierigkeiten auf Island, neuen Dieseltreibstoff zu tanken, und durch eine falsche SOS- Meldung. Trotz aller Widerstände und Verzögerungen setzt Tim als erster Fuß auf die Meteorinsel. Das Phossylium hat eine sonderbare Wirkung. Apfelkerne wachsen auf dem Meteroit in einer Nacht zu riesenhaften Apfelbäumen mit ebenso riesenhaften Apfeln daran; eine kleine Spinne verwandelt sich in eine Monsterspinne. Der Wurm im Apfel, den Tim weggeworfen hat, entpuppt sich als riesiger Schmetterling und überall schießen gigantische Pilze aus dem phossylhaltigen Boden hervor, die rasendschnell mit Donnerschlägen explodieren, um im Nichts zu verschwinden. Dazu beginnt das Inselchen zu kentern und droht, mit Tim, der durch einen Riesenapfel bewußtlos geschlagen wurde, von den wilden Wellen verschlungen zu werden. Als die Meteoriteninsel in der Tiefe verschwindet, droht Tim, unterzugehen. "Tim! Er ist weg... mitsamt der Insel! Und er taucht auch nicht wieder auf...", sagt der Pilot des EFG-Wasserflugzeuges, als er vergebens versucht, Tim mit einem Tau aus der siedend heißen See zu ziehen. Aber Tim schafft es, und mit ihm wird ein Brocken Phossylium, in die grüne Flagge der EFG gewickelt, gerettet. Stolz wie ein Pfau betritt Tim, vom Flügel des längsseits festgemachten Wasserflugzeugs aus, das Deck der Aurora. Plötzlich bewegt sich etwas unter der Flagge. In wenigen Sekunden ist das Päckchen so unwahrscheinlich groß geworden, daß Tim das letzte Stück rennen muß, um nicht vornüber zu fallen. "Vorsicht!", schreit Tim und wirft den Stein, auf dem ein riesenhafter Pilz entstanden ist, auf das Deck, Panik bricht aus. Noch bevor der Brocken mit dem Pilz das Deck erreicht, macht es "WUMM", weg ist der Pilz. Die Mannschaft steht sprachlos dabei und schaut voller Verwunderung auf das Steinwunder.
Man muß nicht die Gesammelten Werke gelesen haben, um in der Szene mit dem explodierten Pilz ein Freudsches Motiv zu erkennen. Der sich erhebende Phallus geht in Tims Orgasmus über. Wenn diese Entladung als Krönung von Tims unerschrockenen Mühen aufgefaßt wird, ist das Album damit eine Oratio des Freudschen Unbewußten geworden. Tims Abenteuer ist dann ein Bericht über die Initiation zur Männlichkeit und erzählt vom Übergang vom Kind zum Erwachsenen, der den erfolgreichen Orgasmus als Lösung kennt. Tim gelingt es darin, den größten Teil seiner libidinösen Energie in den Dienst der Wissenschaft und das gesellschaftliche Wohlergehen zu stellen. Er behält gerade so viel Energie übrig, um einen Orgasmus zu bekommen, der Rest wird vergesellschaftet, sodaß die Kultur ein großes Stück zurückbehält. Die emotionale Heftigkeit der Initiation stellt sich als der Einsatz des Abenteuers heraus. Es geht um das Ende der Welt und den großen Schrecken, eine Frage von Leben und Tod, von Zukunft oder Untergang. Tims sexuelle Energie könnte die treibende Kraft seines Abenteuertriebs bilden und die Gefahr besteht darin, daß die Potenz in falsche Bahnen gelenkt und er sterben wird. Professor Phossyl ist Tims Sexinitiator. Er ist es, der Tim am Anfang des Albums freundlich Rede und Antwort steht, als der junge Medienmacher ins Allerheiligste der Sternwarte vorgedrungen ist. Einmal durch die verbotene Tür und in das Bollwerk getreten, sieht Tim den stolzen himmelwärts gerichteten Phallus des Teleskops. Danach erst sieht er die Männer, die, hinter ihren magischen Instrumenten verborgen, sich mit ihrer höheren Mathematik beschäftigen. Der Professor schickt Tim nicht weg, wie einen Lausbub, der in diesem Zentrum der Macht nichts zu suchen hat, sondern schickt ihn linea recta zum Phallus, "werfen Sie vielleicht mal einen Blick ins Okular: der Anblick ist der Mühe wert." Als Tim durch das Fernglas späht, bekommt er einen entsetzlichen Schreck: der Phallus ist auf eine abscheuliche, monsterhafte Riesenspinne gerichtet. Im sexuellen Bollwerk wird die Spinne in einem ungeheuren Ausmaß symbolisch aufgeladen und fällt daher mit der Bedrohung durch den Tod zusammen. Die Gefahr wird dann bagatellisiert, indem das Monster real als kleines Spinnchen erkannt wird. "Eine Spinne! Ein klitzekleines Spinnchen! Und das hat sie so in Schrecken versetzt! Es ist zum Totlachen!", Struppi bricht in Lachen aus. Auf der Insel schließlich, am Ende des Albums, wird diese Riesenspinne, die diesmal aktiv hinter Tim her ist, durch einen fallenden Riesenapfel ausgeschaltet. Dieser letzte und definitive Mord findet in einer auffallend und unverhüllt phallischen Landschaft statt. Tim wird konsequent um den Stamm eines riesigen Apfelbaums plaziert, vor dem zwei eiförmige Kiesel liegen. Weiter sind die fallenden Apfel, der Baum der Erkenntnis und die Schlange (in Spinnengestalt) für den jugendlichen belgischen Katholiken eine Anspielung auf den Sündenfall in der Erzählung vom Paradies. Die Spinne steht, mit anderen Worten. für das Übel, welches das Netz des Sex spannt, um die erwachende Jungenseele einzufangen. Professor Phossyl relativiert Tims Schrecken, aber weist daraufhin, daß die wahre Gefahr sich hinter der imaginären Spinne versteckt. Auch der auf den Besuch der Sternwarte folgende Alptraum verbindet die Spinne auf prophetische Weise mit dem Thema von Tod und Strafe. In seinem Traum erscheint der Prophet Philippulus, der ein großes Pergamentpapier entrollt, auf dem ein Vergrößerung der Spinne abgebildet ist. "Jawohl, das ist das Strafgericht! Eine ungeheure Kreuzspinne!...", verkündet der Prophet, während er auf seinen Gong schlägt. In diesem Moment erwacht Tim und wenige Sekunden später folgt das Erdbeben, das Tim als den Weltuntergang interpretiert. Die Spinne mit ihren langen, haarigen Beinen, die an die vagina dentata denken läßt, symbolisiert die Kultur der Verbote und Gebote, von Strafe und Belohnung. Erst nachdem die Reste des Kometen auf die Erde gelangt sind, verschiebt sich die Gefahr von der imaginären zur realen Ebene und das Phossylium nimmt den Platz der Spinne ein. Die Spinne jagt bloß einen Schrecken ein, eine allumfassende Angst, die einen versteinert. Das Phossylium dagegen liefert produktive Energie, die angewandt werden will. Der Sex, so lautet die Freusche Lesart, ist nicht nur das brennende Feuer der Hölle, sondern auch die strahlende Zukunft des Himmels. Tödlich und fatal ist Sex dann, wenn alle Neugier sich nur auf ihn richtet (sodaß Spinne und Sex zusammenfallen). Von seinem ursprünglichen Objekt abgetrennt und in die Bahnen der europäischen Wissenschaft kanalisiert führt die sexuelle Energie zu größten Taten. Mittels Rationalität können unbewußte Angste produktiv gemacht werden. Auf der persönlichen Ebene geschieht das im Umgang zwischen den Geschlechtern, auf gesellschaftlicher Ebene durch Teilnahme an der Bewegung, welche die Gemeinheiten des Juden bekämpft. Die Spinne bringt als Symbol beide Ebenen zusammen.
Hergé benutzte das übliche antisemitische Klischee als Ablenkungsmanöver, um die Beziehung zwischen dem Kampf um den Besitz von Phossylium und dem Kampf zwischen einer religiös- magischen und einer naturwissenschaftlichen Basis unter dem gesellschaftlichen Fortschritt zu thematisieren. Psychologisch steht Blumenstein für eine auf unmittelbare Befriedigung von sexueller Energie gerichtete Charakterbildung, Phossyl für die gesellschaftliche Anwendung dieser Energie und Philippulus für das Unangepaßte, das auf eine dunkle Zone jenseits jeder Normalität verweist. Blumenstein wird als Legitimierung genommen, um den Kampf zwischen Phossyl und Philippulus zu behandeln. Dann bezieht Hergé Stellung. Der Professor ist das Genie, der Prophet der Narr. Beide haben kindliche Züge, die sie sonderbar machen. In gewissem Sinn sind Prophet und Professor nie erwachsen geworden, weil sie ihre gesamte Energie in die Erforschung der Sterne gesteckt haben. Aber Philippulus ist auf der falschen, der Professor auf der richtigen Seite gelandet. Mit dieser Konstruktion hält Hergé ein Plädoyer für den rationalen Aufbau der Welt. Das reine Denken öffnet den Weg zu sensationellen Entdeckungen; das unreine und magische Denken hält die Möglichkeit für die Diktatur der Angst offen. Nur die Wissenschaft kann dem Irrenhaus ein Ende machen, in das die Welt durch den Krieg geraten ist.
Hergé gibt seine Friedensmission als Kampf um das Phossylium, das als Prüfstein fungiert, wieder. Sobald dieser Stoff in den Bann der Magie gerät (der Prophet), wird die Welt definitiv untergehen, während in den Händen der Wissenschaft (der Professor) der Untergang (des Inselchens) im Dienste des Fortschritts steht. Letztendlich wird die Magie besiegt und das Phossylium verändert sich von einer Geißel zu einem Segen für die Menschheit. In diesem Typ des Denkens wird die Ratio als eine absolute Entität aufgefaßt und die historische Relativität von Erkenntnis wird übergangen. Hergé übernimmt dieses optimistische Bild der Wissenschaft und kommt dadurch in Konflikt mit den real existierenden irrationalen Elementen, welche die wertfreie Erkenntnis notwendigerweise enthält. Diesen Konflikt löst er, indem der Jude bestraft und der Prophet eingesperrt wird. Das Resultat ist reine Wissenschaft. Die Forschung nach der Rassenreinheit des Blutes sah man in Hergés Zeit als wissenschaftlich ebenso gut untermauert an, wie die kernphysische Forschung nach den subatomaren Eigenschaften und der Struktur der Materie. Das war common sense unter vorwärtsstrebenden Amerikanern, Deutschen oder Belgiern. Die Nazis gaben dem eine Wendung, indem sie die reine Forschung ausdrücklich politisierten. Ohne Parteimitgliedschaft keine wissenschaftliche Karriere. Die damalige Vision der Wissensentwicklung mag heute ziemlich irrational erscheinen, wurde aber in jener Zeit als universell gültig aufgefaßt, sowohl die Rassenlehre als auch die heilende Anwendung radioaktiver Strahlen, und am liebsten die Kombination von beiden in einer interdisziplinären Forschung. Das neue Metall Phossylium, das Professor Phossyl entdeckt, ist ein Element, das Hergé in der Spektrumsanalyse gleich neben das Radium stellt. Damit charakterisiert er es als ein radioaktives Element, an das sowohl der Professor als auch der Jude hohe Erwartungen knüpfen. Blumenstein will das Monopol bekommen: "Mir geht es darum, das neue Metall zu besitzen, und zwar als einziger... ein Vermögen holen wir da raus. Dank diesem Trottel Phossyl, der naiverweise aller Welt davon erzählt hat..." Das Phossylium könnte eine unerschöpfliche Wärme- und Energiequelle sein.
Die phantastischen Eigenschaften des Phossyliums werden erst auf der Insel deutlich. Die gigantische Energie, die das neue Metall freigibt, führt zu Wachstumsexplosionen der anwesenden Flora und Fauna. Strahlung war an sich schon ein wundersames Phänomen, sollte jedoch die unerschöpfliche Energiequelle beherrscht werden können, dann würde ein neues, Goldenes Zeitalter beginnen. Radioaktive Energie wurde als die Urkraft der lebenden Materie und als Essenz der kreativen Macht der Natur angesehen. In angewandter Form würde es nicht nur eine Revolution im Krieg, sondern ebenso im Gesundheitswesen bedeuten. Der Punkt war nicht, ob Radioaktivität schädlich oder nicht schädlich sei, sondern in welcher Dosis sie ihre zerstörende oder heilende Wirkung habe. In einer Werbung für die "radioaktive Zahncreme" Doramad von 1936 wird das neue Mittel sprechenderweise vorgestellt: "Ich bin die radioaktive Substanz. Meine Strahlen massieren das Zahnfleisch. Gesundes Zahnfleisch - gesunde Zähne! Doramad benutzen ist mehr als Zähne putzen! Die radioaktive, biologische Wirkung ist wichtig." In dieser Zeit wird auch ein Patent für radioaktive Schokolade vergeben.
Die magische Zeit der Strahlung drückt Hergé im Bild des Pilzes aus. Auf der Insel wachsen Pilze in einem kurzen Augenblick zu absurden Ausmaßen, um sofort mit einem Atomknall zu explodieren und im Nichts zu verschwinden. Von altersher beinhaltet das Bild des Pilzes die Angst vor der Wirkung schwarzer Magie. Die teuflischen Kräfte bringen die Benutzer in Verzückung und Ekstase, unsachkundiger Gebrauch kann den Tod zur Folge haben. Damit gehört der Pilz zur Domäne des Satans und der Hexen, der gesamten Unterwelt der Zwerge, sprechenden Tiere und fliegenden Besenstielen. Der Pilz symbolisiert die alte, magische Wissenschaft, die durch den für verrückt erklärten Propheten vertreten wird. Gleichzeitig steht er aufgrund seines plötzlichen und massenhaften Auftretens Modell für die enorme Energiequelle, die im Schoße der Natur verborgen liegt. Hergé sieht 1942 schon die Form vorher, in der sich die neue Wissenschaft der Atomenergie ankündigt. Die Pilzwolken über Hiroshima und Nagasaki zeigen die zerstörerische Kraft der triumphierenden Wissenschaft. Ein sichtbares Zeichen am Himmel, zu dem man mit einer Mischung von Schrecken und Ehrfurcht, von Grauen und Faszination aufschaute. So vereinigt der Pilz in sich die magische und die wissenschaftliche Lehre der Kräfte.
Tim hat zwei Väter und Der geheimnisvolle Stern erzählt von der verwirrenden Komplikation beim Übergang von der einen zur anderen Autorität. Die Spinne gehört zum Prophet, das Phossylium zum Professor. Philippulus bleibt bei Tim bis auf dem Polarschiff Aurora und nimmt dann in einem vorwissenschaftlichen, religiösen Setting Abschied, als er zum Irrenhaus abgeführt wird: "Ich gehorche Dir, oh Herr, ich gehorche! Zürne mir nicht..." Der Prophet führt Tim bis zur Grenze der Angst; der Professor begleitet Tim als ein erleuchteter Magier auf seiner weiteren Reise. Philippulus und Phossyl sind nicht nur alte Freunde, sondern sehen sich auch ähnlich, mit ihrem Kaftan, wirren Haaren, kahlwerdend und mit kindlichen Neigungen. In der Geschichte werden sie sogar einmal miteinander verwechselt. Beide studieren die Sterne. Der Prophet auf astrologische Weise. Er entdeckt im Komet die strafende Hand Gottes. Ihm zufolge ist es Gott, der Tim mit dem Tode bedroht. Der Professor ist Astronom und dedient sich der rational-wissenschaftlichen Methode. Der Prophet steht für den strafenden Vater aus der Märchenwelt des Kindes in der Phase der Reinlichkeitserziehung. Der Professor dagegen ist der Lehrmeister, der Tim durch Aktivitäten auf die Erwachsenenwelt vorbereitet. Als Tim den Propheten unter seinem Fenster wegjagt, indem er Wasser auf ihn schüttet, erscheint jener danach erneut in Tims Alptraum. Der böse Traum enthüllt, warum Tim den strafenden Vater wegjagen will: es ist die Rache für die Strafe für das Bettnässen. Eine Strafe, die vom bettnässenden Kind als unredlich und autoritär erfahren wird.
Die Entdeckungsreise zum Phossylium setzt mit der Erinnerung an die Strafe ein. Die Verbindung zwischen dem Reinlichkeitstrauma und der sexuellen Initiation korrespondiert mit der Zufälligkeit, daß das Kopulationsorgan ebenso der Ausgang des Harnweges ist. Die Folge davon ist, daß Reinlichkeit der Beginn der sexuellen Initiation ist. Sex bleibt so mit der ursprünglich religiösen Aureole der Strafe behaftet. Immer wird die Lust mit der Strafe, der Sünde und der Rache verbunden sein. Dadurch ist der langweilige Mittelteil von Der geheimnisvolle Stern so lang und unzusammenhängend geworden. Es ist ein langer, tiefer versunkener nasser Traum, in dem auf Rache gesonnen wird. Tim wird die gesamte Seereise hindurch vom Schlafen abgehalten, denn er hat Angst, daß er sonst ins Bett macht, mitten in all dem gluckernden Wasser. Er wird sogar ohnmächtig vor Schlaflosigkeit. Und als er dann endlich schlafen darf, weckt ihn der Kapitän sofort wieder aus dem Traumland, mit der Nachricht, daß der Meteorit in Sicht ist. Die Müdigkeit macht unmittelbar Tatendrang Platz, "...Und sagen Sie dem Piloten Bescheid!... Wir fliegen sofort los!"
Der Wechsel zwischen bewußtem, wachem Handeln und unbewußtem Schlafen ist innerhalb der Freudschen Lehre die Voraussetzung, um einen erwachsenen und gesunden Orgasmus zu bekommen. Das ist auch der Kurs, der für den jungen Reporter vorgesehen ist. Aber während der Seereise wird das Unbewußte so resolut ferngehalten, daß die Ratio unvertretbare Proportionen annimmt. Hergé weiß nicht, ob die Langeweile der Seereise Widerstand gegen die Hingabe an das aufkommende Unbewußte ist. Die erzwungene Umwandlung der Rache in den Orgasmus ist so offensichtlich, daß es eine Platitüde wird, Der geheimnisvolle Stern ausschließlich freudianisch zu lesen. Natürlich stehen die explodierenden Pilze für das männliche Organ, aber was von der Expedition übrig bleibt ist nur eine Seifenblase. So zerplatzt am Ende das Märchen von Freud.
Der geheimnisvolle Stern ist ein Bericht von den traumatischen Erfahrungen der Reinlichkeitserziehung. Diese Phase des Aufwachsens ist zu peinlich und zu explosiv um sich direkt daran erinnern zu können. Was im Bewußtsein übrigbleibt, ist die Abkehr vom Kindlichen und allem, was direkt oder indirekt mit Pisse oder Kacke zu tun hat, und mit einem starken und unbegreiflichen Drang zur Rache an der strafenden Instanz verbunden ist. Die Faschisten sprachen mit ihrem Eintreten für die Verknüpfung von Reinheit und Sauberkeit mit der organisierten Rache am Schmutzigen Juden dieses unreine Reservoir an, ohne sich dessen bewußt zu sein. Bei der Übergabe an den Führer konnte dieses unsaubere und verkniffene Reservoir buchstäblich auslaufen. In der Begeisterung für den schreienden und vor Wut tobenden Großen Führer entspannten sich die Schließmuskel von so vielen Bekehrten, daß die Böden der Säle trieften. Nach Ablauf der Propagandaveranstaltungen gab es dann auch einen enormen Andrang an den Toiletten. Bei Veit Harlan kann man nachlesen, daß der SA-Ordnungsdienst ein wahrer Graus war, wenn die 1.Mai-Feiern wegen schlechtem Wetter nicht an der freien Luft, sondern in einem Saal stattfinden mußten. Für das Publikum war das massenhafte Pissen für den Führer allerdings etwas Gewaltiges. Natürlich hatte es etwas Peinliches, aber man war nie der Einzige, der es hatte fließen lassen. Man fühlte sich erleichtert und befreit, denn der Führer hatte nicht ihnen, sondern den Juden die Schuld gegeben.
In Der geheimnisvolle Stern wird die Verbindung zwischen dem unreinen Reservoir und dem Ausleben der Rache durch das Trara um eine brennende Dynamitstange an Deck der Aurora angedeutet. Dieser Anschlag findet kurz vor dem Auslaufen aus dem Hafen statt. Zunächst einmal nimmt Haddock Rache am Professor, der in dieser Szene mit dem Propheten verwechselt wird. Der Wutausbruch des Antialkoholikers Haddock kommt zum Teil daher, daß Tim beinahe seinen geheimen Vorrat an Whiskey in seinem Medizinschränkchen entdeckt hätte. Sobald Tim erklärt hat, daß Struppi "das einzig Richtige" mit der brennenden Lunte gemacht hat, wird Haddock von einem maßlosen Wutanfall gepackt. Die Beziehung zwischen seiner goldgelben Wundermedizin und dem Pinkeln von Struppi ist so explosiv, daß der Kapitän einen Moment lang alle Beherrschung verliert. Hier wird deutlich, daß die Mobilisierung des unreinen Reservoirs eine explosive Angelegenheit ist: eine politische Bewegung, die ihre unbewußte Dynamik dem Reinlichkeitstrauma entlehnt, kann in eine unkontrollierte Kettenreaktion der Rache münden. Wie verzerrt die Erinnerung an die Strafe auch sein mag, sie ruft immer die Rache an einem bösartigen Monster auf, mit dem abgerechnet werden muß. Dies geschieht, indem das Objekt der Rache gespalten wird: der Vater zerfällt in einen Propheten und einen Professor. Mit der Festnahme des für wahnsinnig erklärten Propheten wird dem strafenden Vater nachträglich vergolten, woraufhin er in Gestalt des Professors wieder zum Vorschein kommt. Doch noch ist diese Rache nicht wirksam. Gerade weil der Prophet verrückt ist, kann man ihm nichts vorwerfen. Schließlich wird daher ein Außenstehender, der Jude Blumenstein, zum Objekt der Rache proklamiert. Daß der strafende Vater aus der Reinlichkeitsperiode für schwachsinnig erklärt wird, reicht aus, um das Verhältnis zwischen Sohn und Vater wieder herzustellen, reicht aber nicht aus, das Rachemonster los zu sein. Diese Restrache wird gesellschaftlich einsetzbar, wenn sie eine Verbindung mit einer politischen Bewegung eingeht.
Der Faschismus war eine rationale Bewegung von Scheißeentleerern und Schmutzjägern. Reinheit von Rasse, Idee und Tat bildeten die Pfeiler ihrer Politik. Je schlimmer die Vorstellung von Schmutz, desto radikaler der Kampf dagegen, denn je fieser der Schmutz, desto notwendiger das Großreinemachen. Je unbegründeter die Politik der Rache wird, desto anziehender und effektiver wird sie. 'Anziehender' weil sie total ist, 'effektiver' weil sie den individuellen Bekehrten tatsächlich von allem unbewußten Schmutz befreit. Wenn Altnazis heutzutage behaupten, daß der Krieg eine abscheuliche Zeit gewesen ist, muß man gar nicht an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln. Noch immer nämlich graust es ihnen bei der Erinnerung an all den Dreck und all den Schmutz, den sie aus ganz Europa zusammenfegen und dann auch noch entsorgen mußten. Erst wenn die Menschheit wieder ganz sauber sein wird, kann die Zukunft beginnen, so wie es 1945 geschah.
Hergé beging anno 1942 keine heroische antifaschistische Widerstandstat und ebensowenig spielte er sich als ein tadelnswerter Propagandist für die Neue Lehre auf. Noch suchte er eine Alternative im Nicht-Faschismus. Er wollte sich im dämmrigen Gebiet der nichterkennbaren psycho-politischen Konflikte und Paradoxe aufhalten, für das sich das Medium der Kindercomics gut eignet. Es ging ihm um die Produktivität des Unsinns, der entspannend wirkt. Noch stets wirken die Alben von Hergé nicht belehrend, sondern befreiend. Sie sind toll und spannend, weil sie die geheime Welt des Unbewußten darstellt. Das macht es möglich, die Alben von vor 1945 als Faschismus ohne den Rausch der politschen Propaganda zu sehen. Hergés Distanz bietet die unwichtige Möglichkeit, die Ursachen und Reibungen zu sehen, an die der organisierte Faschismus einen maskierten Appel richtete. Hergé ist kein Vorläufer oder Mitläufer, sondern ein Außenstehender, tätig in einem faschistischen Regime. Sein unschuldiger Faschismus ist eine Form angepaßter Illegalität, eben weil es niemand ernst nimmt. Die Subnormalität Hergés läßt das Moment der Subversivität offen.
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