Tim im Banne der Bestie
 Über die Erziehung zur Männlichkeit


"Wer über Faschismus redet und auch noch über Sexismus, tut besser daran, gar nichts zu sagen." Johan Sjerpstra

Nach seiner mühsamen Reise durch die Sowjetunion wird Tim in den Kongo geschickt. Das ist spannend. Da gibt es Löwen und Elefanten und Leoparden und Affen natürlich, und Negermädchen mit nackten Brüstchen. Und es gibt Missionsstationen mit Patres, eine Landwirtschaftsschule, das Krankenhaus und die Kapelle, und da werden die 'Neger' zu zivilisierten Belgiern erzogen. "Das war 1930", sagt Tim-Autor Hergé in einem Rückblick auf sein Werk, "und ich wußte über das Land nur, was die Menschen damals darüber erzählten. Und ich habe daher die Afrikaner nach diesen Normen gezeichnet, in dem reinen paternalistischen Geist, der damals in Belgien üblich war." Hergé irrte also ebenso viel oder wenig wie zu dieser Zeit jeder Belgier in der Krise irrte. Tim im Kongo rassistisch? Man könnte ebensogut sagen: aus der Vorkriegszeit. Einigen wir uns auf Rassismus der Vorkriegszeit.

Ende der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt des Feminismus und der Männerbewegung, wurde die Frage aufgeworfen, ob das Werk von Hergé sexistisch sei. Es war klar, daß die Alben mit Tim und Struppi eine große Rolle in der Sozialisation und Katholisierung vorpubertärer Jungen spielten. Frauen fehlen in den Alben, Tim hat keine Mutter, keine Freundinnen und ist nie verliebt. Die Frau, die wohl vorkommt, die Opernsängerin Bianca Castafiore, verkörpert alle belgischen Klischees des Weiblichen und hat dann auch einen vollen Busen, sie putzt sich immer übermäßig heraus und singt ausschließlich: "Ha, welch ein Glück, mich zu sehn, so schön." Bianca Castafiore ist nicht attraktiv, weil weltfremd. Sehr gegen seinen Willen verhätschelt sie Kapitän Haddock. Sie ist sowohl die Hure als auch die Heilige. Sie ist Objekt und kann selbständig handeln. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist der Verzicht auf ihre Sexualität in ihrer Rolle als unbefleckte, weiße, reine Blume. Der wichtigste Vorwurf gegen Tim-Alben war, daß es hier um typische Jungenbücher ginge, die eine anti-weibliche Tendenz hätten. Diese Sexismuskritik beschränkte sich darauf, auf das hinzuweisen, was fehlte, nämlich das Weibliche. Tim selbst war nicht so einfach als Sexist zu entlarven, einfach weil ihm keine Frauen über den Weg liefen und er keine diskriminierenden Bemerkungen machte oder diskriminierendes Verhalten zur Schau stellte. Der Sexismus bestand jedoch im bewußten Ausschließen von Frauen und des Weiblichen und dem Anlegen eines Körperpanzers. Diese feministische Timkritik interessierte sich nicht dafür, wie die Männlichkeit gestaltet wurde.

Im offiziellen Katalog "Het imaginair museum van Kuifje" (Casterman, 1980) wurde eine direkte Parallele zwischen dem Sexismus einerseits und dem Rassismus von Tim im Kongo andererseits gezogen: "Im Rahmen einer christlichen Erziehung, welche die Geschlechter wie Rassen unterschied, war die Frau für Hergé zunächst eine fremdes Land, eine andere Welt." Die Idee, die dahinterstand, war die, daß Tim seine Jungenphantasien über Mädchen auf den schwarzen Kontinent Afrika projizierte. In politisch-theoretischen Begriffen bedeutete dies, daß Rassismus erst dann wirklich bekämpft werden konnte, wenn die zugrundeliegende heterosexuelle Zwangsmoral aktiv erkannt und abgelehnt wurde. Das Ergebnis dieser Befreiungstheologie war die Errichtung einer nicht weniger zwanghaften Moral einer idealisierten inneren Harmonie zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen in uns selbst. Nun war offensichtlich Schluß mit dem unbekümmerten Lesen von Tim und Struppi. Das befreite Bewußtsein sollte zur Korrektur das kastrierte Weibliche in die Alben projizieren, aber das klappte nicht so ganz. Das erneute Lesen von Tim und Struppi wurde so als Projekt der Selbstkritik begriffen. Aber diese korrekte Lesart ging an dem vorbei, was es wirklich in den Alben von Tim und Struppi zu Sehen und Erleben gab. Das Lesevergnügen konnte einfach nicht getrübt werden. Das Kritisieren und Historisieren von Tim und Struppi-Alben endete immer in einer erneuten Empfehlung, die Alben zu kaufen. Tim im Kongo handelt ausschließlich von der Zähmung des männlichen Geschlechts, das man sich als wilde Bestie vorstellt, welches zivilisiert werden muß. Nicht das Weibliche, sondern das Männliche wird als verschlingendes Monster problematisiert. Es wird dargestellt, wie aus dem polymorph-perversen Potential eine bürgerliche, männliche Identität entsteht. Dies kleidet Hergé in die für Kinder anziehende Form der Entdeckungsreise. Die kindliche Phantasie über das Unbekannte verbindet Hergé mit der Konfrontation mit den wilden Tieren. Auf diese Weise wird Afrika zur Projektionsfläche für die Geschichte der Erziehung zur Männlichkeit.

Tim im Kongo entstand in den Jahren 1930/1931, als Reaktion auf die ökonomische und psychische Krise jener Zeit. Die Zivilisationskrise wird in eine Erzählung über die sexuelle Identität im Übergang vom Kind zum Jungen umgesetzt. Im Gegensatz zum zuvor erschienenen Album Tim in der Sowjetunion nimmt Hergé keine parteipolitische, sondern eine psychopolitische Sicht ein. Die Reise ist eine Expedition zur inneren Terra incognita, in den Dschungel der westlichen Seele. Für die folgenden Alben sollte Hergé Forschungen vor Ort anstellen und Sachverständige um Rat fragen. Aber für Tim im Kongo war das nicht nötig.

Der Kongo liegt weit weg und die Reise dorthin macht man per Schiff. Diese Seereise wird ausführlich beschrieben. Der Bericht von der Rückreise mit dem Flugzeug nimmt gerade mal ein Bild in Anspruch. Offensichtlich wußte Hergé nicht so richtig, was er Tim tun lassen sollte, dort im Kongo. Was gibt es denn alles so zu erleben auf See? Als Passagier vor allem Langeweile, an Deck herumlungern, im Liegestuhl dösen, mit einer Wolldecke über den Beinen. Aus Langeweile geht die Phantasie durch und Tim erlebt dann auch so viel auf See, daß er kaum zum Herumlungern und Ausruhen kommt. Auf See gibt es Haie, Zitterrochen, einen blinden Passagier natürlich, einen Papagei und schwarze Diener, da gibt es immer was zu lachen. Der Schiffsarzt ist auch interessant. Sex auf See kommt nicht vor, denn auf dem Schiff herrscht eine Männergemeinschaft, und Sex hat man mit Frauen, nicht mit Männern. Schon von der ersten Seite an gerät Struppi mit dem Tier aneinander, in diesem Fall mit einer scheußlichen Spinne. "Das gefällt mir gar nicht: 'Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen.'" Bei der Verfolgung der Spinne zerbricht Struppi einen Spiegel: "Verflixt! Sieben Jahre Pech..." Gleich darauf erscheint zum dritten Mal ein schlechtes Vorzeichen. Diesmal ist es der Schiffspapagei Jacko, der "Rette sich, wer kann" ruft. Struppi glaubt, daß das Schiff sinkt und versucht in Panik einen Rettungsring umzulegen, aber als ihm das Ding auf den Kopf anstatt um seinen Hals fällt, rennt er aus der Kabine. Plötzlich steht er im Türrahmen Auge in Auge mit dem Papagei. Es bricht ein Kampf aus, als der Papagei in Struppis Schwanz beißt. Am nächsten Morgen ist Struppis Schwanz ziemlich geschwollen, und beunruhigt (die Papageienkrankheit?) suchen Tim und Struppi den Schiffsarzt auf. Dieser konstatiert glücklicherweise eine harmlose Entzündung, der mit einer kleinen Inzision abzuhelfen ist. Während Struppi auf dem Behandlungstisch liegt, kommt ein Neger mit einer großen Säge in der Hand herein. "O nein! So nicht! Lieber sterbe ich!" ruft Struppi aus und rennt davon. Aber es stellt sich heraus, daß es nur der Schiffszimmermann ist. Schließlich gelingt es dem Schiffsarzt, Struppi zu 'schneiden', und mit einem hübschen Verband um seinen Schwanz verlassen sie das Behandlungszimmer. Beim Zuschlagen der Tür wird Struppis Schwänzchen eingeklemmt.

Direkt danach folgt eine zweite Konfrontation mit dem Papagei, die damit endet, daß Struppi durch einen Lüftungsschacht nach unten stürzt. Er plumpst auf den Kopf eines blinden Passagiers. "Verflixt! Die finden mich noch wegen dieses blöden Köters! Ich muß ihn unschädlich machen!", sagt der Schurke und packt einen Stock. Aber Struppi kann gerade noch aus dem Schiffsraum entkommen, indem er durchs Bullauge ins Meer springt. Zufällig sieht es Tim und ruft: "Mann über Bord!" Tim wirft Struppi eine Stahltrosse zu und zieht ihn aus dem Wasser. Genau in diesem Moment wird Struppi wiederum in seinen Schwanz gebissen, diesmal von einem Zitterrochen. Von einem gewaltigen Stromstoß getroffen, der sich durch die Stahltrosse ausbreitet, stürzt Tim bewußtlos auf das Deck. In dem Album wird systematisch ein Spiel mit dem Bewußten und dem Unbewußten gespielt: wenn Struppi die Sinne schwinden, kommt Tim zu Bewußtsein, und umgekehrt. Ein schwarzer Matrose eilt zu Hilfe, indem er "Massa Hund" einen Rettungsring zuwirft. Leider wirft der dumme Neger den Ring gegen Struppis Kopf, worauf dieser bewußtlos in die Tiefe sinkt. Genau in diesem Moment richtet Tim sich schwindelig wieder auf. Trotz der Warnung, daß die See voller Haie ist, springt Tim mutig Struppi hinterher. Als Herrchen und Hund wieder vereinigt sind, taucht unerwartet ein Hai auf, der Tim in den Fuß beißt. Schuh und Socke rutschen ab und noch einmal fällt der Hai an. Endlich bringt der Rettungsring Rettung, denn Tim stößt ihn ins Maul des Hais, danach werden sie herausgefischt. Das Unheil, welches die Spinne ankündigt, ist die Kastrationsdrohung, die von Struppi in Gang gesetzt wird und die er schließlich auf Tim überträgt. Vom Biß des Papageis, der Säge, dem Operationsmesser, der Tür des Behandlungszimmers bis zum Stock des Schurken, ist es Struppi, der in Gefahr ist. Das Biest von einem Zitterrochen überträgt die Bedrohung auf Tim, der schließlich selbst vom Hai gebissen wird. Ohne das Kind beim Namen nennen zu müssen, macht Hergé mit dieser Abfolge klar, was der eigentliche Grund der Reise ist. Die wilde Natur scheint nur an einem interessiert zu sein, nämlich dem Schwanz. Um ihn herum schwebt eine bedrohliche Sphäre, welche die Reise in den Kongo spannend macht. Das Ziel der Reise wird sein, diese Bedrohung zu neutralisieren, indem Tim sich seiner Männlichkeit bewußt wird.

Tim im Kongo ist im Gegensatz zu späteren Alben ohne festes Szenario gemacht. Die Geschichte ist dann auch recht zusammenhangslos. Der Schurke, der von Anfang an dabei ist, gewinnt keine Konturen, und wird auf künstliche Weise aus der Geschichte geschrieben. Was ein Leitmotiv hatte werden sollen, erweist sich als Einbahnstraße. Weil Hergé Schwierigkeiten mit dem Erzählstrang hatte, setzte er ganz auf seine Phantasie und Erfindungsgabe und kommt mit spontanen Einfällen. Das führte unter anderem zu unverhältnismäßigen Metzeleien in der Savanne, die damals noch nicht Naturreservat hieß. Zum Beispiel tötet Tim versehentlich 15 Antilopen anstatt nur einer, nimmt die Stoßzähne eines von ihm getöteten Elefantes mit, schießt auf Krokodile wo er nur kann, jagt mit Sprengstoff aus Spaß ein Nashorn in die Luft und macht sich keine Gedanken über die Anziehungskraft einer echten Löwenjagd.

Später sollte Hergé wegen dieses begeisterten und ungehemmten Tiermordes Reue zeigen. Er sei sich dessen während der Arbeit an den wöchentlichen Folgen von Tintin en Congo nicht bewußt gewesen, weil er keine Übersicht hatte. Er hatte ganz einfach das 'Es' ungeniert aus seinem Stift fließen lassen. Die ökologische Kritik begnügt sich damit, die Lust am Töten zu verurteilen und verpaßt so die Gelegenheit, das alltägliche Unbewußte auf einen Begriff zu bringen. Tim im Kongo ist ein offenes Buch des Es. Einmal auf dem schwarzen Kontinent angekommen, nimmt sich Tim die Zeit, sich einen Überblick über die komplexen Bedrohungen zu verschaffen. Hergé führt die unbekannten Gefahren auf drei Elemente zurück: die Neger, den Schurken und die Tiere.

Zentraler Punkt ist die kindliche Tolpatschigkeit der Neger. So versuchen sie in der Schule einen ganzen Tag lang, 2 + 2 auszurechnen, ohne die richtige Lösung zu finden. Als Tim mit seinem Spezial-Safari-Automobil auf Reise geht, bleibt er irgendwann auf einem Gleisübergang stecken. Ein Zusammenstoß mit dem sich nähernden Zug ist unvermeidlich, weil der schwarze Lokführer im Halbschlaf aus dem Seitenfenster der Lokomotive in die Ferne starrt, anstatt auf die Gleise zu achten. "Hilfe! Der Zug wird uns zermalmen!", ruft Tim erschreckt aus. Zu jedermanns purem Erstaunen purzelt die Lokomotive beim Zusammenstoß von den Gleisen, während Tims Fahrzeug unbeschadet auf seinem Platz stehen bleibt. Der Zug ist offensichtlich so alt und klapprig, daß er in einer Konfrontation mit dem Auto spontan versagt. Die autochtonen Reisenden scheinen nicht nur dumm und zurückgeblieben, sondern auch erzfaul. Struppi ruft aus: "Los, ans Werk, ihr Faulpelze!" Es kostet Tim einige Überredungskraft, um die Lokomotive mit vereinten Kräften zurück auf die Gleise zu hieven. Die Lokomotive scheint nicht mehr zu funktionieren, also lassen sie sich vom Tims modernem Auto ziehen und jeder ist wieder zufrieden.

Ebensowenig wie das Rumoromavolk einen Draht zur Technik hat, haben sie auch für Politik kein feeling. Ihr König muß einmal so dumm gewesen sein, das ursprüngliche, reichverzierte Szepter für eine ganz gewöhnliche hölzerne Teigrolle einzutauschen. Wo der weiße Mann herrscht, ist die Frau Küchenfee, aber wo der Neger herrscht, hat die Teigrolle das Sagen. Von ökonomie und Rechtsprechung haben sie auch wenig begriffen. Nachdem Tim zum "Häuptling der Dingsbums Marodi" ernannt wird, löst er auf überlegene Weise einen Streit zwischen zwei Stammesmitgliedern. Beide behaupten, Eigentümer eines Strohhuts zu sein und Tim tritt als Richter auf. Anstatt den Hut dem rechtmäßigen Eigentümer zuzusprechen, schneidet Tim, wie König Salomon, den Hut in zwei Teile. Ein Weißer würde über diese Zerstörung in Wut ausbrechen, aber die Neger sind alle beide zufrieden: "Jetzt ich Hut und du Hut... weißer Häuptling sehr dingsbums."

Die 'indigenous people', der Andere, oder das radikal Exotische, wie 'die Neger' gegenwärtig wohl heißen, benötigt Hergé, um die Komplexität der Gefahr zu bestimmen. Sie werden übertrieben kindlich hingestellt, um die indigenous readers auf fröhliche Weise Abschied von ihrer eigenen Kindheit nehmen zu lassen. Indem man Kind bleibt, kommt man nicht weiter und wird nie erwachsen. Der zurückliegende Verlust der Unschuld wird mit dem Erwerb der männlichen Identität belohnt. Weil die Neger so dumm und unschuldig dargestellt werden, sind sie willenlose Beute sowohl des Bösen, in Gestalt des Schurken, als des Guten, dem Kolonialherr-Reisenden-Missionar-Reporter. Daher können sie keine erwachsene Verantwortlicheit übernehmen. Die Neger sind nur ein Zerrspiegel und verkörpern nicht das eigentliche Problem.

Der weiße Schurke dagegen ist die Personifikation des versteckten Bösen, das als blinder Passagier mitreist. Er empfing den Auftrag, Tim aus dem Weg zu räumen, in Amerika, von Al Capone persönlich. Al Capone hatte vor, die Diamantenproduktion Afrikas in die Hände zu bekommen und glaubte, daß Tim auf Expedition ging, um ihn daran zu hindern. Aber unser Reporter wußte von nichts. En passant gelingt es Tim, die Gangsterbande hochgehen zu lassen. Es begann schon damit, daß der Schurke Struppi ins Meer schlug. In Afrika stiehlt er Tims Safariauto und versucht später, Tim den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen. Aber was er auch versucht, es gelingt dem Halunken nicht, Tim auszuschalten. Als er einen Stammeskrieg auslöst, endet das nicht mit Tims Tod, sondern Tim wird zum "König der Tschibo" ernannt. Der Schurke schafft es, jedesmal zu entkommen, bis schließlich ein Kampf von Mann zu Mann zwischen ihm und Tim am Rande eines Abgrunds stattfindet. Beide fallen hinunter, aber Tim landet auf dem weichen Rücken eines molligen Nilpferds, während der Schurke den Krokodilen zur Beute wird. Er geht buchstäblich im Biest auf. Dadurch zeigt Hergé, daß letztendlich nicht der Schurke, sondern das wilde Tier die eigentliche Gefahr darstellt, auch wenn der Schurke sich dessen nicht bewußt war. Das wilde Tier steht als ungezähmte Natur für die Gefahr, die überwunden werden muß. Afrika ist ein Tiergarten ohne Gitterstäbe, wo die Tiere gehen und stehen wo sie wollen. Die einzige Art, sie zu beherrschen, ist, sie abzuschießen. Obwohl Tim mit seinem treuen Vierfüßler Struppi eine Freundschaft fürs Leben verbindet, sind die unzivilisierten Tiere Fremdkörper für ihn, mit denen jede Gemeinsamkeit ausgeschlossen ist. Selbst Struppi fühlt sich nicht mit den wilden Tieren verwandt. Tim begegnet Schlangen, Giraffen, einem Nashorn, Affen, er ist ständig mit der afrikanischen Fauna zugange. Die meisten dieser Darstellungen haben nur eine komische Wirkung, ohne daß die Gefahr näher bestimmt wird. In drei Fällen wird das Thema der Seereise nachdrücklich weiter ausgearbeitet, in seinen Begegnungen mit König Löwe, einem Leopard und einer Herde Büffel.

Nach dem Abschleppen der verunglückten Lokomotive kommt Tim als "guter Dingsbums Weißer" die Ehre zu, von König Teigrolle eingeladen zu werden, an einer echten Löwenjagd teilzunehmen. Der Löwe verrät sich durch fortwährendes Brüllen. Plötzlich steht Tim Nase an Nase mit dem Löwen, der keinen Moment zögert und unseren Helden bewußtlos schlägt. Jetzt ist es an Struppi, einzugreifen. Er beißt sich im Schwanz des Löwen fest, woraufhin dieser Tim losläßt. Im folgenden Kampf verliert der Löwe seinen halben Schwanz. Benommen sitzt Struppi da, mit dem Schwanzende in seinem Maul, und Tim kommt wieder zu sich. Der Löwe ist wütend, brüllt noch lauter und fällt die ruraromatischen Jäger an. Sobald jedoch der Löwe Struppi mit der Beute in seinem Maul sieht, verwandelt er sich auf einen Schlag in einen zahmen Zirkuslöwen. Struppi warnt ihn: "Und fang nicht wieder an, sonst reiß ich dir den Rest vom Schwanz auch noch ab!" Triumphierend bringt Tim den gezähmten Löwen an einer Leine ins Dorf, während der Löwe gebannt auf seinen verlorenen Körperteil schaut. Die Verbindung zwischen Kastration und dem Verlust von Macht und Potenz ist nun offensichtlich. Das Kastrationsthema, das am Anfang noch durch eine undurchsichtige Aufeinanderfolge verdeckt wird, wird nun in aller Offenheit ausgemalt. Hergé deutet damit an, daß nicht die Kastration selbst, sondern die Drohung damit die eigentliche Gefahr ist.

Nachdem Tim das Gangsterkomplott hat auffliegen lassen, geht er am Tag danach auf Safari. Plötzlich lassen die Neger den Tragesessel fallen und ergreifen die Flucht. "Verflixt, ein Leopard!" Einen Augenblick hofft Tim noch, daß es ein gezähmter Leopard ist, dann nimmt er seine Sodaflasche und spritzt dem Biest in die Augen, in einem Versuch, es zu verjagen. Der Leopard zeigt sich nicht beeindruckt und kommt zurück. "Was habe ich denn sonst noch? Ah, ein Spiegel - warum nicht?" Erschreckt schaut der Leopard in den Spiegel. Anstelle von Tims Männlichkeit sieht der Leopard den Kopf eines wilden Tiers. Er flüchtet Hals über Kopf und ruft aus "Was für ein gräßliches Tier." Tim wirft einen Ausschnitt der Bedrohung zurück auf das wilde Tier. Den Leopard erschreckt, daß der weiße Mann so viel Potenz hat. Es geht Hergé darum, zu zeigen, daß das wilde Tier verjagt werden und dem disziplinierten und gehorsamen Tier Platz machen muß. Auf dem nächsten Bild sitzt Struppi schön aufrecht in Bettelhaltung und ein erleichterter Tim mit dem leeren Spiegel zwischen den Beinen ruft: "Weg ist er!" Hergé hat deutlich gemacht, daß die Gefahr der ungehemmten Männlichkeit durch Zähmung gebannt wird. Während Filmaufnahmen läuft Struppi begeistert auf eine Herde Kühe zu. "Vorsicht, Struppi! Das sind Büffel, die sind sehr gefährlich!" "Aber Tim, ich bin doch kein Kind mehr..." Aber schon ist das Unheil geschehen. Tim versucht den Anführer der Herde zu zähmen und tötet ihn schließlich mit einem Katapult. Dann ist die ganze Herde hinter ihm her, um Rache zu nehmen. "Rette sich, wer kann!" ahmt Tim den Papagei Jacko nach. "Ein Büffel geht ja noch, aber fünfzig sind zu viele!" Dann hört er Motorengeräusch und wird gerade noch rechtzeitig von einem zufällig vorbeifliegenden Flugzeug mit der Strickleiter hochgeholt. Die Technik ist ein Geschenk des Himmels und als deus ex machina das Medium der Zähmung. "Na sowas..." schreit der Copilot des Doppeldeckers, "Seit einem Monat suchen wir Sie. Wir sollen Sie nach Europa zurückbringen. Sie haben einen neuen Auftrag... Sie sollen in Chicago eine Reportage machen..." Und so nimmt Tim betrübt Abschied von seiner kindlichen Naivität: "Leb wohl, Afrika! Ich wollte noch soviel von dir sehen... und nun muß ich schon wieder nach Europa und Amerika!"

Dem ungehemmten männlichen Trieb, der die blinde Potenz einer durchgegangenen Herde Büffel hat, kann man nur mit Hilfe von außen entkommen. Hierin liegt, nach Hergé, die Lösung des Problems. Kurz vor seiner Rettung gibt Tim seine eigene black box, die Filmkamera, mit der die Erinnerungen aufgenommen wurden, der wilden Natur preis. Er entkommt dem Fluch, der von Anfang an auf der Suche über den schwarzen Kontinent gelegen hat. Ohne Technik würde seine Konfrontation mit seiner eigenen wilden Natur zu Verdammnis führen. Die Moral davon ist, daß keine Zivilisation inmitten der rasenden Natur möglich ist. Es hat auch keinen Sinn, diese mit Gewalt zu töten. Sie kann nur mit Hilfe von Technik gezügelt werden. Hergé betrachtet, wie auch sein Zeitgenosse Wilhelm Reich, die sexuelle Energie als Kraftquelle, die gesellschaftlich eingesetzt werden muß. Es ist ein Reservoir mit einer grenzenlosen Potenz, von der der größte Teil abgetrennt werden muß, um in den Dienst der Technik gestellt werden zu können, wie Autofahren, Filmen und Fliegen. Der Rest dient der Reproduktion der eigenen Art, in der Erscheinung einer gesunden Sexualität in der modernen Ehe. Die Technik ist nicht das Messer, mit dem der Mann entmannt wird, sondern ein Transformator, ein Interface für die Umsetzung von wilder Energie in geregelte Arbeit. Der Zweck der Säge war es nicht, das männliche Organ, sondern ein Brett durchzusägen. Nicht das Geschlecht, sondern die Energie wird abgeschnitten. Das Ergebnis der Entdeckungsreise ist, daß das aufblühende sexuelle Bewußtsein die Kastration nicht mehr wortwörtlich, sondern energetisch begreift. Der schwarze Kontinent ist für Hergé keine fremde Rasse oder eine Frau, sondern eine unirdische ölquelle, die exploitiert werden muß. Mit dieser Energie kann der neue Kontinent entdeckt werden. In Amerika kämpft Tim dann auch nicht länger mit der (inneren) Bestie, sondern nimmt den Kampf mit der Gangsterbande von Al Capone auf. Durch die Veröffentlichung seiner inneren Regungen hat Hergé seinen Namen etabliert und wird als erwachsener Comicstrip-Zeichner betrachtet. Die Serienproduktion von Alben kann beginnen.

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