Die Autobahn im Rückspiegel


Es war einmal, vor langer Zeit, in den wilden Jahren der Theorie, eine neue Zeitschrift namens "Tumult", die selbstbewußt mit dem Untertitel "Zeitschrift für Verkehrswissenschaft" prahlte. Natürlich wurde die gewählte Verkehrsmetapher nicht näher erklärt. Das war ja genau der Zweck, als Reaktion auf die ideologische Dogmatik der Zeit nach '68, die Fenster weit zu öffnen und gut durchzulüften. "Tumult" sollte die deutsche Version des Pariser Theorieorgans "Traverses" werden. Ganz auf einer Linie mit Deleuze & Guattaris Rhizomen und den Theweleitschen Strömen stand der Begriff Verkehr für eine Zirkulation von Ideen und Theorien, die gerade in Gang gekommen war.

Selbstverständlich enthielt er auch einen Verweis auf die ebenso neue Wissenschaft von Paul Virilio, die Dromologie oder Lehre von der Geschwindigkeit, die ebenfalls durch den Merve- Verlag in Deutschland eingeführt wurde. Vielleicht dachte das Publikum bei Verkehrswissenschaft auch an die Roadmovies von Wenders, an Godards "Weekend", Jack Kerouacs "On the Road" und Kraftwerk... "Vor uns liegt ein weites Tal, die Sonne scheint mit Glitzerstrahl, die Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand. Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Autobahn."

Das Wesentlichste war, daß diese Wissenschaft ein nicht näher definiertes Gebiet bildete, welches jeder nach Belieben füllen konnte. Man konnte es notfalls auch als einen freizügigen Sammelbegriff für "die zweite Kultur" betrachten, für verschiedene gesellschaftliche Bewegungen, wie den Geschlechtsverkehr, den Geld- und Warenverkehr, die zirkulierenden Bilder in Film und Fernsehen. Wollte diese Wissenschaft die Semiotik auf eine höhere Ebene bringen? Dem Verkehr schwebte jedenfalls eine freie Bewegung ohne direktes Ziel oder direkten Endpunkt vor, weg aus den festgerosteten Disziplinen: Denken ohne Hindernisse. "Traverse: Seitenstraße, Querverbindung, die kürzer ist als der Hauptweg oder die an einen Ort führt, zu dem der Hauptweg nicht führt." (Tumult 1) Der Charme dieses Verkehrsdenkens liegt darin, daß es die Subjektivität als letzte Erklärung verwirft und das Objekt - in diesem Fall das Verkehrssystem - als Ausgangspunkt nimmt. Nach einigen Ausgaben verkaufte Merve die Zeitschrift. Von der Verkehrswissenschaft hat man nichts mehr gehört. War die Sammelbezeichnung zu hoch gegriffen, das Verlangen nach purem Verkehr erschöpft? Die Kunst- und Kulturmanager, Kritiker und Akademiker konnten jedenfalls nichts damit anfangen. Sie trieben Begriffe wie 'Postmoderne' und 'das neue französische Denken' fleißig voran. Was die Verkehrswissenschaft angeht sind wir wieder am Anfang. Der Begriff wird genau wie zuvor mit Verkehrsfragen, dem Planen von Wegen und öffentlichem Transport, kurzum einer sozialtechnischen Verwaltungswissenschaft assoziiert, über die nur wenige etwas wissen. Die Verkehrswissenschaft ist nun lediglich ein pragmatisches Sammelsurium aus Städtebau, Kybernetik, Verwaltungswissenschaft, Psychologie und Statistik, geteilt in ein bürokratisches und ein engagiertes Lager. Niemand wartet mehr auf eine tumultöse Verkehrstheorie. Der gesellschaftliche Verkehr ist so schon groß genug, man kann 'es' kaum noch verkraften. Der Verkehr im engeren Sinn wird immer schlimmer und allein bei dem Wort fängt man schon an zu seufzen und zu ächzen. Eine potentiell allumfassende Theorie kommt heutzutage schnell etwas zu freischwebend, amateurhaft, ja sogar arrogant an. Und Verkehr als solchen findet man zu undifferenziert und unverbindlich. Überdies gibt es so etwas wie Systemtheorie, für Menschen, die so etwas brauchen. Das freie Drauflosphantasieren über den Verkehr hat dem persönlichen und gesellschaftliches Management von getrennten Verkehrsströmen Platz gemacht.

Die Verkehrsmüdigkeit in der Theorie ist deutlich am kärglichen Analyseniveau des selbstverständlichsten Verkehrs zu sehen, dem über Land. Nun, da der 'Verfall' des öffentlichen Raumes rundherum zugegeben und beklagt wird und die Straße ausschließlich von Vandalen, Dieben und Obdachlosen plus der nötigen Polizei, Straßenkehrern und Überwachungsdiensten bevölkert scheint, zieht auch die Theorie sich zurück und gibt sich mit dem Studium der Kunst, Literatur und andersgearteter Daten zufrieden, oder spiegelt sich im Bildschirm. Was geschieht denn letzten Endes noch auf der Straße? Der öffentliche Raum ist entweder eine drohende, unsichere Leere voller Verkehrsstaus und auftauchenden Gefahren, oder ein (zeitweiliges) touristisches Ambiente für programmierte Erlebnisse. Die Straße muß nicht mehr erobert werden, es geht nur darum, daß andere, wie z.B. Neonazis, keinen Besitz von ihr ergreifen. Passanten und anderes Straßenvolk bilden eine potentielle Gefahr. Die ideale Straße ist die der totalen Kontrolle über die Leere, ein reines Medium, das ungestört durchkreuzt werden kann.

In den nostalgischen Wunschvorstellungen von einer Rückkehr der Gemeinschaft kommt die Rückeroberung der Straße gar nicht vor. Die heutigen Plädoyers für eine kollektive Wiederbelebung diesen oder jenen Wertes (Familie, Nachbarschaft, Ethnizität, Region etc.) stellen das Identitätserlebnis in eine geschützte Umgebung. Das soziale Leben auf der Straße soll nicht stimuliert, sondern noch weiter ausgedünnt werden, damit kriminelle Elemente unmittelbar sichtbar werden. Die Vorstellung von der lebenswerten Nachbarschaft aus den siebziger Jahren hat einer permanenten Säuberungsaktion Platz gemacht, die alles auf der Straße in Bewegung halten will, am liebsten geräuschlos und ökologisch vertretbar.

Durch das Ausbleiben einer allgemeinen Verkehrstheorie ist auch das Nachdenken über das Medium Autobahn in den achtziger Jahren nicht viel weiter gekommen. Man neigt dazu, den Verkehr der Straße zu historisieren, wie Wolfgang Sachs es in seinem Buch 'Die Liebe zum Automobil' tut. Indem von der motorisierten Kutsche bis zur schalldichten, stromlinienförmigen Limousine mit einer linearen Entwicklung argumentiert wird, stagniert in der Gegenwart so manche Analyse und schlägt in einen Klagegesang um. Das Zelebrieren dieser Krise geht mit einer Nostalgie nach den sorglosen Jahren des Wiederaufbaus einher, "in der das Fahren noch Spaß machte." Das Auto spricht die Phantasie nicht mehr an und kann in Museumsvitrinen beigesetzt werden. Diese Überzeugung, welche die Mitautomobilisten zum Umdenken anspornen will, ist vom Bußetun besessen. "Wir Deutschen haben mühevoll gelernt, uns zu schämen angesichts der Folgen zweier von uns verschuldeter Weltkriege. Wir werden noch lernen müssen, uns zu schämen angesichts jener Entmenschung, die mit dem Automobilismus über uns gekommen ist." (Die Zeit) Die Verkehrsliteratur würde am liebsten eine akute Krisenatmosphäre schaffen, weiß aber nicht wie. Die apokalyptischen Visionen von noch mehr Autos und Straßen sind ausgelaugt, da wir uns schon lange inmitten des Kollaps zu befinden scheinen. Weil die automobile Modernität dennoch einfach weiter funktioniert und ungebremst weiterwächst, werden die Verkehrskritiker ratlos. Der Untergang des Autolandes läßt auf sich warten. Unterdessen arbeiten Obrigkeit und Industrie an verkehrsberuhigten Innenstädten, recyclebaren Autos, Parkleitsystemen und der "intelligenten Straße", auf welcher der Autoverkehr durch Datenverkehr gesteuert wird. Es kommt jedoch nicht zu einer "Ausstiegsdebatte" wie bei der Kernenergie - alle gut gemeinten Vorschläge scheinen in eine "Verbesserung der Autotechnik durch Technik" (Otto Ullrich) zu münden. Die Autokritiker kennen den Mechanismus inzwischen. Helmut Holzapfel: "Die Warnung vor dem 'Verkehrsinfarkt' liegt im Interesse der auf noch breitere Straßen hoffenden Industrie." In einer Situation, in der Vorschläge sowohl für kleine als auch große Lösungen die "freie Fahrt in den Abgrund" nicht wirklich beeinflussen, drehen sich die soziologischen Studien und Protestaufrufe im Kreis und verwandeln sich in ein diskursives Ritual, das, wie die Staumeldung, mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit in den Nachrichtenmedien gebracht wird. Unter den Verkehrskritikern herrscht die landläufige Meinung, daß "das Suchtproblem Auto nicht von Verkehrspolitikern und Technikern gelöst werden kann." Die Autosucht, mit dem Symptom des Staus, wird freilich, wie jede andere Sucht auch, verurteilt, aber die dahinterliegende Krankheit wird nicht erkannt, so die Behauptung der taz-Doktoren Börmann und Sonnabend. Was wir nicht einsehen wollen ist "unsere Ohnmacht, unsere Schwäche und Minderwertigkeit, unseren Verlust der Kontrolle." Was übrigbleibt ist ein "Gefühl der Apathie, die selbst Kennzeichen der Suchterkrankung ist." Wenn nichts mehr hilft, muß der Automobilist eben in Therapie. "Der Autofahrer von heute grämt sich und quält sich, ist von Selbstzweifeln befallen und hilflos dem nagenden schlechten Gewissen ausgeliefert." Die Lösung liegt, folgt man den genannten Autoren, im altbewährten Gemeinschaftssinn. Das Individuum wird aufgerufen, vor allem "verantwortungsvoll am Ganzen mitzuwirken."

Die Veränderung des Straßenlebens setzte in den dreißiger Jahren ein. Nachdem die Straße von politischen Gegnern gesäubert war, kamen die Nazis mit ihren Plänen für die Reichsautobahnen. Der Propagandafilm "Strassen ohne Hindernisse" von 1934 beginnt mit einer Aufzählung: die Straßendecke ist voller Löcher, es laufen Gänse über die Straße und das holprige Kopfsteinpflaster, chaotische Beschilderung, spielende Kinder und chronische Straßenaufbrüche sorgen dafür, daß der wachsende Autoverkehr zum Stillstand kommt und schließlich auf dem Autofriedhof landet. Man zeigte eine unverhohlene Abneigung gegen die unübersichtliche Dichte und das Gewimmel auf den Straßen deutscher Metropolen. Einer der Künstler, die später in die Kategorie "Entartete Kunst" eingeordnet wurden, Max Beckmann, stellte das Straßengewühl kurz nach dem ersten Weltkrieg in seiner Serie Zeichnungen "Die Hölle" dar. Blatt 2 mit dem Titel "Die Straße" wird kunsthistorisch folgendermaßen charakterisiert: "Das Blickfeld ist fast gänzlich angefüllt mit Köpfen und Gliedmaßen von Menschen, die sich vorn, in die Gegenrichtung und zu den Seiten bewegen und wenden. Ihre Bewegung erscheint ziel- und sinnlos, da sich begehbarer Raum zwischen ihnen nicht auftut: ein tumultöses Geschehen, an dem Vertreter der verschiedenartigsten Gesellschaftgruppen teilnehmen, bei dem nahezu jeder für sich bleibt und dessen Aberwitz sich in der faktischen Immobilität offenbart." Das gesellschaftliche Chaos wird hier als menschlicher Stau interpretiert. Motorisierte Fahrzeuge sind weder auf Platz noch Straße zu erkennen, sie kommen nicht durch. Nur rechts unten im Bild steht eine Invalidenkarre.

Walter Oswald schreibt 1937 im Nazi-Verkehrsfachblatt "Die Straße": "Verkehrsadern, die beiderseits durch Zivilisationsmüll aller Art - marktschreierische Schilderwerbung, häßliche Zäune, menschenfeindliche hohe Mauern oder Hausbauverbrechen gehirnkranker Architekten - von dem wirklichen deutschen Lebensraum abgetrennt sind, eignen sich nicht zum neuen Fahrterlebnis der Heimatraumfreude." Dem stellt er die harmonische Naturlandschaft gegenüber, mit der sich die Städter aus ihren Autofenstern heraus bekannt machen. Nachdem man mit der übervollen Straße der Weimarer Republik, die man als Schauplatz politischer und ökonomischer Kämpfe betrachtete, abgerechnet hat, kommen die Nazis mit einem leeren und sauberen Archetypus. "Die Straße ist Anfang, ist Beginn; sie ist Gedanke, Begriff und Sinn. Die Straße ist Ursprung, ist trächtige Saat, ist erster Baustein gewaltiger Tat."

Aber die Motorisierung des Volkes blieb unter den Nazis vor allem ein Versprechen, ein erzieherisches Phantasma und Märchen, das für militärisch-ökonomische Ziele ideologisch eingesetzt wurde. Die Autobahnen hatten vor allem zum Ziel, die Bewegung aus der Stadt herauszubekommen. "Seit der Machtübernahme durch die Nazis wurde dem deutschen Proletariat Sport und Transport geboten," so Virilio. "Je mehr Massen unterwegs sind, umso weniger ergibt sich die Notwendigkeit zu großen Repressionen; um die Straße zu entleeren genügt es, allen die Straße zu versprechen." Der Auszug aus der Stadt ins weite Land sollte eine nationale Einheit herstellen, die durch ein Spinnennetz von Autobahnen verkörpert wurde, eingezeichnet auf zahllosen Karten. Rudolf Hess 1934: "Richtig gezogene Verkehrswege sind feste Ringe, die das Volk und seinen ihm von Natur und Vorsehung gegebenen Raum binden zu unlösbarer Einheit." Und so wurde mit der Reichsautobahn als Medium und den Kraft-durch-Freude-Wagen als Fahrzeug ein programmierter Nationaltourismus von oben befohlen.

Die deutsche Volksmeinung über die Zeit des Nationalsozialismus, die man in Kneipen und auf der Straße zu hören bekommt, läuft zusammengenommen darauf hinaus, daß "was Hitler mit den Juden machte, nicht gut war", aber "er hat jedoch die Autobahnen gebaut." Auschwitz hat den Deutschen bloß Unannehmlichkeiten verursacht. Daß Hitler daran nicht gedacht hat, werden ihm die Deutschen nie vergeben. Aber von den Autobahnen hat man wenigstens noch was. Es ist für sie das einzige greifbare, positive Ergebnis einer Zeit, die man erfolgreich verdrängt hat, die jedoch ständig zurückkehrt. Dieser dumme Nazismus dudelt immer weiter. Die Kritiker und das Ausland können nörgeln wie sie wollen, die Deutschen haben immerhin noch ihre Autos und Autobahnen. Ein Ventil, das ihnen niemand nehmen kann und wo sie ungehindert, sei es auch nur für den Moment, die Sau rauslassen können. Eine der ersten Analysen der kunsthistorischen Aspekte der Reichsautobahnen, geschrieben 1974 anläßlich der Ausstellung "Kunst im 3.Reich - Dokumente der Unterwerfung" von Christina Uslular-Thiele, beginnt mit einer ähnlichen Feststellung: "Geblieben ist uns die Erinnerung, daß es Hitler war, der diese Autobahnen bauen ließ. So wie Ernst Schönleben und all die anderen nationalsozialistischen Berichterstatter es verlangten: 'Die Aufgabe der Reichsautobahn besteht darin, Straße Adolf Hitlers zu werden. Sie sind das erste Werk der Technik, das seinen Namen trägt. Ihm Ehre zu machen, nicht nur für heute, sondern auf Generationen hinaus, das ist die höhere Aufgabe der Reichsautobahn', so ist uns die Autobahn geblieben als eine der wenigen 'guten' Taten des NS-Regimes." Gute Nazis, schlechte Nazis. Hitlers Autobahn scheint tief im kollektiven Unterbewußtsein verankert; ihre sexuelle Verkehrsmetapher und volkseigene Asthetik haben eine ungeahnte, schlummernde Kontinuität. Während man bei Bildern, Texten und Verhalten die faschistischen Konnotationen schon aus einem Kilometer Entfernung zu erkennen meint, ist das bei den Autobahnen nicht der Fall. Es ist in Deutschland eine feste Gewohnheit, Denkmäler zu beschmieren, aber der erste Anschlag auf eine völkische Autobahnbrücke steht noch aus. Die Autobahn ist von Hitler, aber dadurch nicht an und für sich schlecht. Über das mythologische, außerhistorische Wesen der Autobahn besteht der stillschweigende Konsens, nämlich daß es nicht existiert. Das sorgfältig angelegte Bossenwerk, die Durchblicke auf die Berglandschaft und die "Harmonie der Linienführung" sind unschuldig. Es scheint von einer antifaschistischen Gesinnung zu zeugen, die Geschichtsfälschung korrigieren zu müssen, daß nicht die Nazis die Autobahn erfunden haben, sondern daß die Pläne aus der Weimarer Zeit stammen und von der Industrie kommen. Ein früher Autobahnlobbyist, einer der "ehrenwerten und anerkannten Demokraten" Kurt Kaftan, klagt anno 1955 in seinem "Kampf um die Autobahnen" darüber, daß die Autobahnen nicht nur in Deutschland, sondern auch von den Totalsiegermächten "vielfach mit dem Nationalsozialismus und seinen politischen Fakten identifiziert und allein als Mittel der Hitlerschen Eroberungsstrategie angesehen wurden, deren restierender Wert als Torso für das geschlagene zerstörte Deutschland nur noch problematisch sein kann." Doch kann er es nicht lassen, voller Stolz zu erwähnen, daß die "viel gelästerten deutschen Autobahnen sicher das Einzige bleiben werden, was das 'Tausendjährige Reich' um tausend Jahre überleben wird." Oder, wie Hitler beim 'ersten Spatenstich' sagte: "Wir werden dafür sorgen, daß das Werk sich nicht mehr trennt von denen, die es geschaffen haben." Und das ist ihm gründlich gelungen, aller gutgemeinten Geschichtsberichtigung zum Trotz.

In der Faschismustheorie spielen die Reichsautobahnen eine untergeordnete Rolle. Die "Straßen des Führers" werden höchstens als ein Beschäftigungsprojekt betrachtet, eine diktatorische Planungsmaschinerie, die lautlos zum Bau von Betonbunkern am Westwall und an der atlantischen Küste überging. Im Mercedes Benz-Buch der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte stellt Karl-Heinz Roth die Autobahnen in den Rahmen der Motorisierung. Doch dieser Begriff ist bei ihm frei von jeder ideologischen Bedeutung. Nirgends in dieser Studie kommen die psychosexuellen oder ästhetisch-politischen Aspekte des Autos zur Sprache. Die Motorisierung ist bei Roth kein dynamischer gesellschaftlicher Prozeß, sondern auf eine nahezu statische Essenz reduziert: den Bau von Motoren. Das nationale Kapital auf den gemeinsamen Nenner der Motorisierung zu bringen geschah laut Roth unter dem Vorzeichen der Kriegsvorbereitungen. "Das Ziel war klar formuliert, mit Hilfe der Motorisierung der Wirtschaft den Durchbruch zur breiten Heeresmotorisierung zu erzwingen." Die Karosserie, die um den Motor gebaut wurde, zivil wie militärisch, konnte jeden Moment verändert werden, was auch geschah. "Der Rüstungsanteil der gesamten Produktion der Daimler-Benz AG hatte 1939 zwei Drittel erreicht."

Das Autobahnnetz wurde nur zum Teil verwirklicht. Inmitten der Bauaktivitäten, nachdem gut 3000 Kilometer fertiggestellt waren, warf man plötzlich alles hin, um an anderer Stelle in Europa alles kurz und klein zu schlagen. Was übrigblieb waren Ruinen und ein unfertiges Straßennetz, an dem bis heute, mit den Nazi-Bauzeichnungen in der Hand, weiter gebaut wird (wie in der Umgebung von Halle). Mit dadurch ist das Reichsautobahnprojekt de facto ein Mißerfolg. Hartmut Bitomsky, der 1985 hierüber eine Filmdokumentation für den WDR III machte, faßt es bündig zusammen: "Arbeit muß nicht unbedingt einen Nutzen haben, aber die Leute müssen mit irgendwas beschäftigt werden." Nüchtern zählt er auf: "Der wirtschaftliche Nutzen war vergleichsweise gering. Der Effekt auf die Arbeitslosigkeit eher marginal. Die verkehrstechnische Bedeutung war ziemlich bescheiden: es fuhr kaum jemand auf der Autobahn - wer hatte schon ein Auto?" Und vor allem: "Die militärische Funktion der Autobahn war unerheblich. Die Wehrmacht konnte mit der Autobahn nichts anfangen." Bitomsky wird davon fast depressiv. "Immense Kosten, enorme Arbeit, gewaltige Anstrengungen: einfach verschwendet? Man sträubt sich gegen solch einen Gedanken. So ein umfassendes wirtschaftliches Unternehmen kann nicht einfach sinnlos sein." Doch genau das ist es. Bitomsky ist der Erste, der das Fiasko der Reichsautobahn so knapp und klar formuliert. Obwohl dieselben Strecken nun eine tägliche Realität für Millionen Deutsche sind, ist im heutigen Fahrerlebnis von der ganzen aufgeblasenen Naziideologie nichts mehr zu spüren. Bitomsky: "Die gesamte Anlage der Autobahnen mußte umgemodelt, erweitert oder abgebaut werden, um endlich einem Verkehrssystem Platz zu schaffen, an dem keine Asthetik existiert - auch nicht die Asthetik der Macht." Während Historiker und Politiker emsig über den Wert des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg, die Frage, ob Photos von Hitler ausgestellt werden dürfen, oder den Entwurf für eine Berliner Holocaustgedenkstätte diskutieren, rasen die Autos stur und eilig weiter über die "Kathedralen der Neuzeit", als ob sie von nichts wüßten. Die Autobahn ist nun genau nicht das geworden, was die Nazis wollten, nämlich ein Kulturdenkmal. Bitomsky und andere haben Anfang der achtziger Jahre im Rahmen der damals populären "Spurensicherung" und "Geschichte des Alltags" viele Archive durchwühlt, Zeitschriften und Bücher gelesen, mit ehemaligen Arbeitern gesprochen, Ruinen besucht und Propagandafilme angesehen. Bitomsky: "Die Autobahn wurde nicht nur als ein ästhetisches Bauwerk geplant, sie wurde auch von Anfang an zum künstlerischen Gegenstand gemacht." Hier handelt es sich um Sammelbildchen, Briefmarken, Ausstellungen, Spielfilme etc. "Ein eigenes Genre hat sich gebildet, eine Autobahnkunst, vergleichbar mit den Wolkenkratzern oder den großstädtischen Boulevards, die sich ebenfalls quer durch die Künste als ästhetische Objekte fortgezeugt haben. Die Autobahn war das größte deutsche Bauwerk, ein langes Stück Architektur ohne viel Zierrat und Ornament. Die Photos, Bücher und Gedichte hielten als ihre Fassade her."

Eine Übersicht darüber gibt das Buch "Reichsautobahn - Analysen zur Asthetik eines unbewältigten Mythos" von Rainer Sommer (Hrg.), 1982, das die Architektur von Autobahnbrücken, Tankstellen und Raststätten, das Genre der "Autobahnmalerei", die Asthetik der Photographie und die Denkmäler an der Autobahn behandelt. Außerdem wurde eine Photoserie von Ruinen aufgenommen, den "letzten Zeugen die zur Zeit unter Planierraupen und einreißenden Baggern verschwinden." Das Buch enthält die Warnung, daß "eine Auseinandersetzung mit der Asthetik der Reichsautobahn nicht als Suche nach der Lösung der heute anstehenden Probleme mißverstanden werden darf." Die gepriesene Schönheit des Autowanderns muß dem heutigen Automobilist, der bei Autobahnen zuerst an Staus, Baustellen, Tempolimit, irritierende Mitverkehrsteilnehmer, die zu schnell oder zu langsam fahren, Massenkarambolagen, Urlaubsverkehr, die vielen Laster und, nicht zu vergessen, die Umweltverschmutzung denkt, merkwürdig vorkommen. Bitomsky: "Was die Nazis erfunden haben, war die Asthetik der Autobahn. Zahllos sind die Vergleiche, welche die Autobahn mit historischen Bauwerken maßen: größer als die chinesische Mauer, beeindruckender als die Pyramiden, klassisch wie die Akropolis. Die Autobahn sei, hieß es, 'nicht die kürzeste, sondern die edelste Verbindung zwischen zwei Punkten.'" Solch eine abgehobene Verkehrspoesie mutet heute hilflos nostalgisch und unsachlich an. Goethes trostreiche Worte "Man reist doch nicht, um anzukommen", können die Misere nicht mehr mildern. Die Autobahn ist höchstens noch ein funktionelles, notwendiges Übel, gegen das die Umgebung mit Lärmschutzwänden geschützt werden muß, nicht besonders schön, aber recht verständlich. "Bekannt ist die 'neue Schau der Deutschen Landschaft', die wir auf der Reichsautobahn erleben", so Walter Ostwald 1937. "Erstaunlich ist es, wie sehr man sich in den Kraftfahrer eingefühlt hat, der auf der Reichsautobahn sein Fahrzeug guten Gewissens weitgehend vergessen darf und sich in das Schauen vertiefen kann. Reichsautobahnen geben Gelegenheit zur 'dynamischen Schau', die bei hoher Geschwindigkeit einen raschen Wechsel von Bildern zu einer Art von Landschaftakkord zusammenklingen läßt." Laut Ostwald hat die Straßenbauergesinnung, "die Schönheit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit gleichberechtigt wirken läßt", zu einer höchsten Form der Fahrfreude geführt, die man selbst erleben muß. "Wie der Künstler durch die Führung des Straßenzuges, in der Ausführung jedes einzelnen Bauwerkes, mit liebevoller Betreuung von Pflanzenwelt, Wasser und Fels ein in der Welt wohl einzig dastehendes naturnahes Fahrerlebnis schuf, das muß man selbst sehen - und in beiden Sinnen des Wortes - erfahren."

Das faschistische Ideal einer Synthese zwischen technisch- dynamischer Modernität und der statischen Verewigung der Autobahn als Denkmal ist fünfzig Jahre später nirgendwo mehr wiederzufinden. Auto und ökologie sind unter keinen Umständen mehr in Übereinstimmung zu bringen. Jede künstliche Aussöhnung von Natur und Technik kann unmittelbar als billige Inszenierung entlarvt werden. Im taz-Artikel "Reiz des Autos ist perdu" von 1987 stellt Paul Tiefenbach fest, daß das Auto "im Alltag nicht halten kann was es technisch und in der Werbung verspricht. Durch die Übergroße Zahl blockieren sich die Autos gegenseitig." Auch auf der Autobahn fühlt man sich eingeklemmt. Tiefenbach beschreibt das Fahrerlebnis folgendermaßen: "Zwischen Leitplanken eingezwängt kann der Fahrer offensichtlich die Richtung nur grob selbst bestimmen. Er kann nicht mal nach Lust und Laune die Fahrt unterbrechen, um etwas interessantes zu betrachten. Sein ganzes Verhalten ist hauptsächlich durch die anderen Autofahrer um ihn herum extrem reglementiert." Weiter zieht Tiefenbach beiläufig einen Vergleich, welcher die Autobahnpädagogen der dreißiger Jahre besonders erstaunt und gekränkt haben dürfte. "Im Grunde ähnelt das Autobahnfahren dem Zugfahren, eine gleichmäßig fließende Bewegung in einer festgelegten Richtung, die von periodischen Stopps unterbrochen wird." So mancher Nazi hatte eine abgrundtiefe Abscheu vor der Eisenbahn, dem Symbol des sozialistischen Fortschritts. "Mit der Eisenbahn hörte die individuelle Freiheit des Verkehrs auf."(Hitler) Der Bau der Reichautobahnen wurde als ein Triumpf über den heimatfremden Zug dargestellt: "Der seelische Bruch, den das von England hereingeführte Eisenbahnwesen dem deutschen Lebensgefühl gebracht hat, ist heute im Grundsätzlichen wieder beseitigt." Die Straße als Zugang zur Stadt wurde im technischen Zeitalter entthront. "Seit der Eröffnung der Eisenbahnen kam eine immer geringere Zahl von Fremden auf der Straße in die Stadt." Heute wäre man darüber froh, aber Karl von Loesch sah das anno 1937 in seinem Artikel "Die repräsentative Aufgabe der Straße" ganz anders. "Die geschichtlichen Wege verödeten, sie dienten nur noch dem Nahverkehr. Die Eisenbahn führte fast alle Fernreisenden heran. Aber wie! Durch die Eingeweide der Stadt. Den Reisenden zeigten sie weit schlimmeres als nur mißgestaltete Vorstadtfassaden. Sie gewährte, ja sie erzwang Blicke in verfallene Höfe, auf regellose Brandmauern schlecht geschnittener Grundstücke, auf Fabriken und Wohnhöhlen." Während "das rein ingenieursmäßige der Eisenbahnanlage die Landschaft willkürlich zerschnitt", versprach die Reichsautobahn das gestörte Verhältnis zwischen dem Blut und seinem Boden wieder herzustellen.

In der nazistischen Verkehrstheorie ist das Autowandern eine metaphysische Angelegenheit. Die Fortbewegung durfte natürlich nicht einfach funktionell aufgefaßt werden, man erfuhr sie als ein inneres Erlebnis. Aber am Ende des 20.Jahrhunderts hat man dieses mystische Erlebnis doch besser Zuhause oder in einem fernen, exotischen Land. Autofahren wird nicht länger als ein abenteuerlicher Ausflug erlebt. Die Abneigung ist groß: "86 Prozent aller Deutschen sind mit dem zunehmenden Autoverkehr unzufrieden, für 55 Prozent ist der Verkehrsstreß die größte Umweltplage," so eine Umfrage von 1991. Das Autofahren hinterläßt bestenfalls überhaupt keinen Eindruck. Tiefenbach: "Berge werden abgetragen und Wälder abgeholzt, nur damit die Fahrbahn flach und gerade wird und mühelos hohe Geschwindigkeiten ermöglicht. Die Konstrukteure legen ihren ganzen Ehrgeiz in die Entwicklung von Autos, die leise und unmerklich hohes Tempo ermöglichen. Die Folge ist freilich, daß Autobahnfahren, egal mit welcher Geschwindigkeit und mit welchem Auto, stets monoton und stumpfsinnig ist." Das Auto hat seine Aura verloren. Wir schauen nicht mehr sehnsüchtig auf das Auto als Objekt oder aus dem Auto als Subjekt auf die Umgebung, sondern sitzen in einer Kapsel eingeschlossen und tippen die Koordinaten ein. Das Auto als "das Haus des Seins." In ihren "Anmerkungen zur totalen Automobilmachung" von 1987 bemerkt Gabriele Göttle: "Das moderne Auto steht da wie aus einem Guß, unnahbar und abwesend. Sein Funktionsmechanismus ist ganz nach innen versenkt, ebenso wie der Fahrer." Die Werbespots für Autos sind für sie Visionen einer Zukunft nach der Katastrophe und versprechen nicht länger Komfort, "sondern die Rettung in ein Gehäuse, das den Schutz der zarten Haut und empfindlicher Organe zusichert. Wer sich da hineinflüchten kann, scheint vorübergehend abgeschirmt gegen jedwede Feindseligkeit."

Die Umgebung, die man während des Fahrens in sich aufnimmt, und der die Nazis so viel Bedeutung beimaßen, existiert schlichtweg nicht mehr. Göttle: "Das Nahe fliegt draußen weitgehend ungesehen vorbei. Das Gefühl, ein Fremder zu sein, empfindet der durch Fahren beanspruchte Autofahrer in seinem vertrauten Innenraum nicht." Die taz-Essayistin glaubt nicht mehr an verkehrspädagogische oder -politische Maßnahmen. "Als ideale und zugleich dynamisch aggressive Monaden, scheinen die automobilen Teilnehmer nicht mehr resozialisierbar zu sein." Die soziale Autorealität kommt ihr vor "wie das Rasen des Hamsters im Laufrad. Immer auf dem selben Fleck, im Vollgefühl eigener Mobilität." Ihre Erzählung voller Argernisse kommt zu einer kulturpessimistischen Schlußfolgerung: "Das moderne Auto ist vielleicht die Apotheose bürgerlicher Aufklärung, das Model ihrer gescheiterten Ideale."

Ist das Wohlwollen aufgebraucht und sind alle alternativen Szenarien erschöpfend aufgezählt und durchgerechnet, wird es Zeit, dem heruntergeschluckten Arger freien Lauf zu lassen. Wenn wir Henryk Broder glauben können, so sind es weniger die Ausländer und Asylsucher, als die eigenen Landsleute, welche der Deutsche haßt. Die unangenehmen Verkehrsteilnehmer sind ein Hindernis. Nachdem Ludger Lütkehaus im Sommer 1989 aus den USA zurückkehrt, wo er den automobilen Stoizismus genoß, wird er angesichts der Zustände auf deutschen Straßen wütend und greift zur Feder, um für die taz ein echtes Pamphlet zu schreiben. "Bloß keine weiteren Statistiken, keine wohltätigen Appelle." Was eine ironische Verkehrsanthropologie hätte werden können, mündete in Selbsthaß, gehüllt in verbitterte Mentalitätskritik. "Der Deutsche im Verkehr ist ein asozialer Fetischist, ein Zwangsneurotiker der Geschwindigkeit, ein autoritärer Anarchist und von abgründiger Dummheit." Hier gibt es nichts zu lachen, es geht um nichts weniger als eine "Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln." Jenseits konstruktiver Vorschläge bekommt Lütkehaus Wahnvorstellungen von einem Aufstand der automobilen Horden. Das Zivilisationsniveau sackt unter Null; es gibt nur noch "Jagdszenen von Oberholstein bis Niederbayern." Die Mit- Automobilisten betrachtet der Automobilist "prinzipiell als Konkurrenten und Gegner mit denen er nach den Gesetzen des Straßenkampfes ums Dasein verfährt. Bestenfalls sind sie lästige Hindernisse, die er möglichst schnell aus dem Weg räumt. Kurz: Manchester-Automobilismus." Die "Waschzwänge und Reinlichkeitsdressur" weisen auf einen Rückfall in ein anales Stadium. "Der Katalysator ist gleichsam zur durchlässigen Windel einer analen Lust geworden: Mit ihm kann man endlich sauberbleiben und doch weitermachen." Die penetranten Überholmanöver, das wilde Beschleunigen, wenn die Ampel auf Grün springt, und das abrupte Bremsen bei Rot, den anderen mißgönnen, sich einzufädeln, sind für Lütkehaus alles "Vor- und Frühformen verkehsbedingter Idiotie" und Anzeichen einer "rapide reduzierten Intelligenz."

Die Eroberung der Straße durch das Auto verlief in Deutschland alles andere als allmählich. Während des Nationalsozialismus war die Motorisierung der Massen lediglich ein ästhetisches und pädagogisches Programm, das die Autoträume mobilisierte, und es wurde aufgegeben, als der militärisch-ökonomische Komplex dieses ab 1938 verlangte. Nachdem ab den fünfziger Jahren die Motorisierung allgemein durchgeführt war, suchte man seit den achtziger Jahren wieder nach einer pädagogischen Idee, diesmal um vom "Autowahn" wegzukommen. Eine gleiche Absicht sehen wir auch im Werk von Paul Virilio. Angefangen mit seiner Studie der Fortifikationen entlang der atlantischen Westküste, entwickelte er in "Geschwindigkeit und Politik" eine Verkehrstheorie, die er mit seinem Hauptwerk "Der negative Horizont" abschloß. Über die Perzeptionslehre gipfelte seine anfängliche Dromologie in einer radikalen Medienkritik, die seit dem Golfkrieg einen moralischen Unterton bekam. Die Mobilisierung des Zivilen und Militärischen endet bei Virilio in einem "rasenden Stillstand." Paul Virilio hat weder Vorläufer noch Nachfolger oder Schüler, die seine Bewegungslehre weiter ausgearbeitet haben. Auch eine Diskursanalyse oder Genealogie von Straße bzw. Autobahn läßt noch auf sich warten. Dies entspringt der Überzeugung, daß die dromologische 'Position' auf Dauer unmöglich und unerträglich sei. Virilio ist es als einem von wenigen gelungen, die Bewegung im öffentlichen Raum genau nicht von einem festen Standpunkt aus zu beschreiben, sondern die Geschwindigkeit selbst als Ausgangspunkt zu nehmen. Sein Werk ist kein Projekt, sondern ein Projektil. Virilio beschreibt keine Lokalitäten, sondern eine Bewegung in der Zeit. Daher kann er auch, wenn es darauf ankommt, von Architekten, die zur Erhaltung ihrer Berufspraxis an einer Politik der Gestaltung der Stelle festhalten müssen, nicht au serieux genommen werden. Sie bleiben modern und zeichnen Vektoren, bewegen sich gelegentlich über diesem oder jenem Vektor, aber werden nicht aus dem Vektor heraus denken. Das allgemeine Verkehrsbewußtsein ist fixiert und zeigt kulturpessimistische Züge, von der Sorge über die stagnierende Subjektivität eingegeben. Während die Staus eine immer stärker akzeptierte Erscheinung werden, mit der man nun einmal leben muß, sprechen die Verkehrsplaner nur noch über ökonomische und ökologische Probleme. Die Wunschproduktion hat sich daher zu der noch freien, vagen Sphäre der Medien verschoben. Man träumt von einer leeren und superschnellen "Infobahn" (das amerikanische Synonym für den geplanten Datahighway), auf der man über die volle Bandbreite hinweg kommunizieren kann, ohne Hindernisse oder Verzögerung. Die populäre Kultur kann das Auto nicht mehr zum Vehikel ihrer Phantasien erhöhen. Die Verbindung des Autos mit Sex, wie bei Bruce Springsteen ("Well I got some beer and the highway's free, and I got you and baby you got me") gehört in eine ferne Vergangenheit und wird konsequent in einem nostalgischen setting präsentiert. Im Musikvideo "Amazing" von Aerosmith findet man noch alle Elemente aus dem automobilen Zeitalter, nur sitzt da jetzt ein Junge mit einem VR-Helm auf dem Kopf und steuert den Joystick. Er fährt mit voller Geschwindigkeit durch eine leere Landschaft, über eine leere Wüstenstraße, er nimmt ein Mädchen mit, das ihn dann verführt, und sie kommen, ineinander verschlungen, zu einem ekstatischen Orgasmus. In diesem animierten Jungentraum nutzt der Motor sogar den Luftraum und verweist damit auf die Raumfahrt als neuen imaginären Raum. Das setting ist die mittlerweile allzu bekannte wilde, große, leere und verlassene LÄvy-Strauss-501-Wüste, die gut zu der sorglosen Fünfziger-Jahre-Verbindung von Geschlechts- und Straßenverkehr paßt, mit all ihren verlockenden Gefahren... nur ist es heute ein Virtual Reality-Programm. Benommen nimmt der Junge nach Ablauf der wilden Fahrt seinen VR-Helm ab und zieht seine Datenhandschuhe aus, verzückt von seinem rasenden Stillstandsabenteuer im Cyberspace.

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