Leben ohne Lebenshilfe |
"Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist 'Besserung' genannt worden: erst diese zoologischen Termini drücken Realitäten aus - Realitäten freilich, von denen der typische 'Verbesserer', der Priester, Nichts weiß - Nichts wissen will..." Nietzsche
Das theoretische Leben, mit all seinen Eingebungen, Unterstellungen, düsteren Vermutungen und weitreichenden Implikationen wird unerträglich, wenn die Früchte des Schreibens nicht in ausführbare Aufträge münden. Sobald die Zusammenhänge sich offenbart haben, werden die zusammengetragenen Satzkonstruktionen ein ökologisches Problem. Sie fordern, kanalisiert und verarbeitet zu werden. Die Ideen müssen entweder sicher entsorgt oder in brauchbares Gedankengut umgesetzt werden. Wenn das nicht geschieht, gerät der intellektuelle Kreislauf durcheinander. Die Gedanken müssen getrennt werden, sonst entsteht ein Entsorgungsstau. Das reine Denken von Einst ist nun ein reinigendes Denken, das die eigene Gedankenbeherrschung zur Obsession hat. Das Entsorgungsproblem ist die Achse, um die sich diese Reinlichkeitsmanie dreht. Das Zuvieldenken neigt nicht wie früher zu Totalisierung oder Wahnsinn, sondern lähmt die ökonomischen Pflichten. Die Gabe der Genialität impliziert eine verbindliche Arbeitsproduktivität, von der jeder rechtschaffene Mensch absehen würde.
In der Panik, einer verarbeitenden Existenz voller chronischer Fragen ausgeliefert zu sein, entsagt man lieber gleich ganz. Genährt vom Willen, auszubrechen, gibt man sich der Vision eines Nirvana der Gedankenlosigkeit hin. Geplagt von Anfällen von Relativismus und existentiellen Zweifeln, wartet man auf die Ankunft des Geistes. Aber auf einmal sieht man aus einer allesüberragenden Höhe die Nichtigkeit des alltäglichen Gepfriemels. Die kosmische Position offenbart eine befreite Existenz, erfüllt von Klarheit und Einfachheit. Nachdem man einmal einen Blick in diese Herrlichkeit geworfen hat, will man nicht mehr zurück. Gefangen in einem Strom persönlicher Verpflichtungen, bürokratischem Kram und unentrinnbarer Eintönigkeit, kommt das unbestimmte Verlangen auf, in der Welt zu sein, aber nicht von dieser Welt. Dann klingt ein christlicher Lehrsatz wie ein Koan, der dem Irdischen den Schleier entreißt. Es gibt diejenigen, die weiter in der Tretmühle laufen, und Bekehrte, die das Licht sahen. Aber die weitaus größte Gruppe bleibt in der Moräne von Problematiken stecken, die sie langsam zu ersticken droht. Sie verkörpern die Frage nach Lebenshilfe. Gemeinhin wird darunter psychologischer Rat in Buchform verstanden. Aber die professionals haben tüchtig Konkurrenz von Selbsthilfekundigen, Wunderdoktoren, Kolumnisten, Fernsehpersönlichkeiten, paranormal Begabten und charismatischen Pfarrern bekommen. Jede Betrachtung, Erscheinung oder Thematisierung kann die Rolle von Lebenshilfe erfüllen. Auch Madonna kann einem weiterhelfen, eine Agentur Bilwet kann Trost bieten, der Tango kann einen aus der abwärts gerichteten Spirale ziehen. Lebenshilfe ist keine Therapie und auch keine Religion. Sie ist eine praktische Methode, die auf ein diffuses Unbehagen von Millionen anspielt. Sie appelliert an den kleinen Kummer und verarbeitet das vage Selbstmitleid in ein behandelbares Symptom in Form eines verständlichen Diskurses. Die Lebenshilfe ist genauso abwechslungsreich und umfangreich wie das Leben selbst. Sie kann nicht schaden und wird ohne Hinweise auf der Verpackung frei verabreicht. Die Lebenshilfe wird offensichtlich als eine Ware betrachtet, die man wie ein warmes Brötchen kaufen kann. Sie ist Umsatz, Nahrung, die die Verdauung in Gang halten soll. Die Lebenshilfe besitzt eine Aura der Seinsverbundenheit, welche gewöhnliche Botschaften nicht haben. Die Kritik am Konsumterror prallt hieran ab. Natürlich existiert ein florierender Markt der Wohlfahrt und des Glücks. Aber die Gene für die tragischen Seiten der Existenz verhindern einen objektivierenden Blick. Die ökonomen und Systemdenker wissen selbst keinen guten Rat zu den aktuellen und umfangreichen Außerungen von Verdruß und Ratlosigkeit. Die Sphäre der Lebenshilfe ist unantastbar und kann selbst auch lediglich in Symptomen gedeutet werden. Es ist ein anderer Kreislauf. Ein Gespäch über Lebenshilfe ist nicht möglich. Man liest ein solches Buch und schweigt darüber. Man kann wieder weiter. Eine Zügelung der innerern Verwirrung bringt den Trost einer feinen, tiefbetroffenen und wohlgemeinten Zusprache. Der Text kommt zu uns durch einen Hirten, der den Herumirrenden zur sicheren Herde zurückführt. Beruhigende Geschichten, die einen wieder in Gang bringen, wenn das Leben zum Stillstand gekommen ist.
Die Invaliden zeigen ihre Stümpfe, doch die Psychoprothesen liegen schon bereit. Die Bitte um Hilfe ist dem Notschrei vorausgeeilt. Das Genre der Lebenshilfe funktioniert heutzutage präventiv. Man blickt wöchentlich kurz in den einen oder anderen existentiellen Abgrund: alternative Trauerarbeit, Scheiden ohne Mühe, zweite Generation Kriegsverbrecher, Gerontophilie, obdachlose Eltern, Dschihad im Treppenhaus, glücklich sein ohne Arbeit, bluten für Europa. Es kümmert einen nicht und doch nagt etwas. Der Appell an dieses Unbehagen deutet auf den Sinn des Lebens. Kurz schimmert eine unbeschreibbare Größe auf, die sich über das alltägliche Abarbeiten von Terminen und Aufgabenlisten erhebt. Ein Zipfel des Imago-Schleiers wird einen Augenblick gelüftet und die Nichtigkeit der eigenen Betätigungen kommt ans Tageslicht. Die Manager der Lebenshilfe besitzen die Gabe, etwas mit dieser Information anzufangen, und verfügen über die Schreibtechnik, dem in Büchern, Zeitschriften und Fernsehprogrammen Ausdruck zu geben. Sie sind die Pornographen des zivilisierten Gruselns. Ihre realistischen Novellen, die von wirklich geschehenen Leidensgeschichten erzählen, lassen uns Bekanntschaft mit der tragischen Wendung in der Existenz von Menschen wie du und ich machen.
Diese postmoderne Variante der ars morendi bereitet uns auf eine sinnstiftende Erfahrung der Läuterung vor. Sie wappnet uns mental gegen diffuse Bedrohungen. Anstelle des früheren Lebertrans gegen die TBC will die prä-handicapale Lebensweise uns das Gefühl des Leidens und der Tücke geben, in der stillen Hoffnung, daß es vorübergehen wird, wenn man erst einmal daran arbeiten will. Man hat immer etwas davon. Als Zeuge von Aids, sich hinziehenden Bürgerkriegen, fleischfressenden Bakterien, Postfaschismus, Hautkrankheiten und Inkontinenz richtet man seine Aufmerksamkeit auf die riskanten Seiten des modernen Lebens. Sollte es unversehens doch soweit kommen, dann beschleunigt die geparkte Info den Verarbeitungsprozeß. Man hat dann genug Zeit, das Schicksal positiv zu erfahren, und das fördert seinerseits wiederum den Wiedereintritt in die Gesellschaft. Die Lebenshilfe legt auf diese Weise eine stabile Basis unter den persönlichen Wachstumsprozeß, sodaß das menschliche Kapital in gutem Zustand bleibt.
Die Panik ist kein akutes state-of-mind mehr, sondern eine erstarrte und anhaltende Geistesverfassung. Darum hat die Lebenshilfe einen solchen Umsatz. Es ist wie mit der Regenbogenpresse: auch wenn man sie nicht kauft, man bekommt doch unwillkürlich mit, was passiert. Das macht die Kritik an diesem Marktsektor so hilflos. Das Entlarven von Quacksalberei, von heuchlerischer Betroffenheit und des Großhandels in falschen Hoffnungen kann nur noch zu einem besser gestylten Angebot führen. Es resultiert höchstens in der Dynamisierung veralteter religiöser oder medizinischer Praktiken. Das aufgeklärte Bürgertum, für das die Feuilletonkritik bestimmt ist, ist einer der größten Abnehmer von Lebenshilfe. Die Arzte, Lehrer, Manager, arrivierten Mittelständler, Rechtsanwälte und höheren Beamten betrachten es jedoch als unstandesgemäß, sich hierzu zu bekennen. Ebenso wie Pornographie, Regenbogenpresse und Unterhaltungsprogramme werden nur banale Ausgaben von Lebenshilfe geliefert. Das macht die Kritik einfacher und erweckt den Eindruck, daß die Lebensprobleme in ihrer vollen Härte nur die niederen Stände treffen. Mit einer gesunden und mäßigen Diät von Lebenshilfe- Produkten können diejenigen, die am längeren Hebel sitzen, einen vernünftigen Lebensablauf wählen. Aus ihrer Vorkenntnis von Leiden und Misere entwickelt sich ein spirituelles Überlegenheitsgefühl, welches die eigentliche Manifestation des aktuellen Klassenbewußtseins ist, das nicht mehr auf Einkommen oder Abkunft basiert, sondern auf einem beinharten Selbstwertgefühl, das alles überstehen kann und durch nichts berührt wird. Sie sind die Gewinner, die am wenigsten Hilfsbedürftigen, die im Genuß von light philosophy schwelgen. Sie müssen sich nicht in lebenswichtige Fragen knien, sondern gebrauchen die Lebenshilfe wie einen personal organizer für funktionelles Büroverhalten. Der softe Verhaltenscode absorbiert wie ein Schwamm alle nagenden Fragen und macht die Erfolgreichen unempfänglich für menschliche Signale. Es wurde von ihnen ja alles schon in einem frühen Stadium erkannt und in sozialtechnischen Begriffen gedeutet, wodurch ihre Beobachtungsgabe sich abstumpft und sie ihre Fähigkeit, selbständig zu interpretieren, verlieren. Wenn sich die Probleme nichtsdestotrotz ankündigen, könnte nur noch eine Meta-Lebenshilfe Rettung bieten. Da diese Form von Weisheit nicht erhältlich ist, fällt man auf unehrenvolle Selbstzerstörung zurück oder eröffnet den Angriff auf den anderen. Ist der Konflikt erst einmal total außer Kontrolle geraten, dann erreichen wir wirklich die Höhepunkte menschlicher Existenz.
Brüder Bilwet werden im deutschen Kulturgebiet irrtümlicheweise wegen großer und kleiner Lebensfragen angegangen: wie es denn nun weiter ginge mit den Medien und ihrer Theorie, der Zukunft der Städte, der Perspektive von Bewegungen und dem Leben unter dem Diktat der deutschen Einheit. Der nicht- journalistische, unakademische und nicht-künstlerische Charakter der Spekulationen aus den Niederlanden wird gierig betrachtet, obgleich der Performancegehalt zu wünschen übrig läßt. Wir können noch einiges von Linda de Mol und Rudi Carell lernen. Aktion Bilwet wirkt nichtsdestotrotz reinigend auf den Wahnsinn und die ambulanten Texte lindern den nicht zu unterdrückenden Selbsthaß. Angeblich immer gut gelaunt, läßt sie Zweifel daran bestehen, ob sie es ernst meint oder ob sie einen Witz reißt. Sie verzichtet wohlweislich darauf, Suchenden eine Lachtherapie zu verschaffen, oder eine Antwort bereit zu haben. Sie bekennt sich offen dazu, die Frau Antje der Theorie zu sein. Genau wie der geschmackslose Käse und die wässrigen Tomaten will Bilwet gerne enttäuschen. Alle Hoffnung, daß die Theorie noch ein erlösendes Wort bringen kann, muß dem Erdboden gleich gemacht werden. Theorie ist keine Lebenshilfe und kein Ersatz für in Vergessenheit geratene Kulte und Ideologien. Erst dann kann sich die Theorie der Verpflichtung, Hoffnung, Trost, Moral, Sinngebung, Macht, Erlösung und andere medizinische Nebenwirkungen herbeizuführen, entledigen.
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