This World Has Lost Its Glory

 1.


Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Im Mai 1945 reist Klaus Mann, 'a famous son of a famous father', als Sonderkorrespondent im Gefolge der amerikanischen Truppen nach Deutschland. Er kommt auf die Idee, Richard Strauss aufzusuchen, den er noch aus der Zeit vor Beginn seines Exils 1933 kannte - der 81jährige Komponist empfängt ihn ohne die Spur eines Wiedererkennens im blühenden Garten seiner Villa ('Fünfzehn Opern, dazu die Lieder, die symphonischen Stücke und andere Kleinigkeiten, es genügt: Mein Oeuvre ist abgeschlossen.'). Ja, die Nazi-Diktatur war auch für ihn in vielerlei Hinsicht lästig gewesen. Wie kurz zuvor die Sache mit den Ausgebombten: Man habe Obdachlose bei ihm einquartieren wollen. 'Man stelle sich das vor!' ruft der Meister aus Deutschland, noch immer stocksauer, 'Fremde - hier in meinem Heim!' 'Beruhige dich doch, Papa' schreitet seine Schwiegertochter ein. Es ist doch nie dazu gekommen? 'Gewiß, weil der Krieg zu Ende ging!' Aber wenn es nach Hitler gegangen wäre, an den er noch persönlich einen Brief geschrieben hatte, hätte auch er 'ein Opfer bringen müssen'. Und einen schlechten Musikgeschmack hatte der Führer! Es gab doch noch mehr in der Welt als nur Richard Wagner! Und dann all die Schwierigkeiten, weil er 1933 einen Text von Stefan Zweig vertont hatte. Konnte er denn wissen, da es Rassengesetze geben würden!

Je daran gedacht, Deutschland zu verlassen? fragt Mann beiläufig. Verlassen? 'Ich hatte hier doch meine Einkünfte - und beträchtliche dazu. Und schließlich gibt es hier etwa 80 Opernhäuser.' 'Gab' sagt Mann. 'Mindestens 80!' sagt Strauss. Wenn es weniger Lebensmittel gegeben hätte, aber nein - immer gut gegessen im Dritten Reich! 'Bis jetzt hat man sich immer noch irgendwie durchgewurschtelt.' Aber hätten wir nicht unter der Protektion von Musikliebhaber Baldur von Schirach, Reichsstatthalter der 'Ostmark' (Wien), gestanden - dann hätte es noch was gesetzt. Denn meine Schwiegertochter ist, unter uns gesagt, 'rassisch nicht einwandfrei.' 'Ich kann wohl behaupten, da sie die einzige freie Jüdin in Großdeutschland war!' 'Aber Pappi - so frei war ich nun auch wieder nicht!' fährt die Schwiegertochter auf. 'Du vergißt, was ich mitgemacht habe. Durfte ich zum Beispiel jagen? Nein! Sie haben mir sogar eine Zeitlang verboten zu reiten...' Guten Tag, Herr und Frau Strauss. Nein, vielen Dank, kein signiertes Foto. -

Wie schafft man so etwas? Was muß man innerlich mit sich anstellen, um solche Aussagen machen zu können, während sozusagen die Gräber in den Lüften noch über dem Frühlingsgarten hinwegschweben. - 'da liegt man nicht eng'. Welche Leere ist das - was fehlt hier?

 2.

Alles soll erfaßt werden. Es gibt eine Erzählform, die die paradigmatische genannt wird. Anders als in der Erzählung, in der von Szene zu Szene eine Handlung entfaltet, eine Entwicklung oder ein Geschehen beschrieben wird, ist ein paradigmatisches Werk aus Szenen aufgebaut, in denen von Mal zu Mal die vollständige Erzählung zusammengefaßt ist. Keine Ursachen und spätere Folgen, keine Psychologie sondern Strategie: 'jede einzelne Szene steht für die Totalität des sinnlichen und argumentativen Exzesses, der sich einer folgerichtigen Erzählung entzieht' - sagt Monika Treut. Und fährt anhand von Justine und Juliette von de Sade fort: im paradigmatischen Schreiben ist der Mythos zerstört, es gibt keine 'Chronik' mehr, kein Chronos, die Erzählform 'stellt nur ein stets wieder durchbrochenes und verworfenes Mittel dar, um beschreibbare Anlässe für die endlosen Wiederholungen zu finden, in denen die "Moral" de Sades ausgedrückt werden kann'. Wer versucht, ein derartiges Buch chronologisch zu lesen, bemerkt recht schnell, daß kein Durchkommen ist - es ist kein teleologischer Prozess erkennbar, der auf Vollendung gerichtet ist, es gibt nur das endlose Abspulen von stets denselben Vorstellungen. Nacherzählen ist nicht drin, zusammenfassen unmöglich, es gibt keine essentiellen Seiten zum besseren Verständnis des Ganzen. Alles ist alles - und immer too much, Schwafelei, endloses Geschwätz: die Aufhebung der Zeit durch eine Erzählweise, die wie die Zeiger einer Uhr, immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, welcher ebenso willkürlich ist.

Seltsame Bücher sind das, und immer von enormem Umfang. Merkwürdigerweise gehöhren die Memoiren der Filmemacherin Leni Riefenstahl zu genau diesem Typ von Prosa.

 3.

Den liebe ich, der Unmögliches begehrt. Leni Riefenstahl war glücklich in den dreißiger Jahren. Sie selbst hat das seinerzeit mit einer Anzahl netter Bücher dokumentiert. Treffend zeigte es sich gleich in ihrem Debut, Kampf in Schnee und Eis, von 1933, der von den ersten Jahren ihrer Filmkarriere handelte. Und dann gab es da noch eine ganze Geschichte: Tänzerin, Knieverletzung, was nun, sieht einen Film über Bergsport und denkt: das will ich auch!, lernt Bergsteigen (mit bloßen Füssen), wird Schauspielerin unter der Regie des Mannes, der den Film gemacht hatte, der sie so für die Berge begeistert hatte - und herrliche Abenteuer als Schauspielerin folgen, in Filmen mit den Titeln Der heilige Berg, Die weiße Hölle vom Piz Palü, Stürme über dem Montblanc, Der weiße Rausch (sie schleppten Ende der zwanziger Jahre die kolossalen Kameras von damals über Bergspitzen, Gletscherspalten und unter Lawinen, für Filme, deren Bilder nun beinahe buchstäblich verblaßt sind), lernt nebenbei das Filmhandwerk und debütiert dann mit einem eigenen low-budget-Projekt: Das blaue Licht - fantastisch, den Film dort in Ticino im italienischen Tirol zu machen, mit den spröden dort ansässigen Bauern mit ihren guten Gesichtern, arbeitet dann an einer deutsch-amerikanischen Riesenproduktion mit, SOS Eisberg, in Grönland soll gedreht werden, und hat dort, nach einer langen Schiffsreise, das ultimative Naturerlebnis. Einsamer nie als im August - Erfüllungsstunde: so schön, so großartig ist es sonst nirgends auf der Erde. Durch einen Sturz von einem kenternden Eisberg ins Polarmeer erkrankt, muß sie schließlich in die zivilisierte Welt zurückgeflogen werden, voller Heimweh nach ihren Eskimofreunden, bei denen, so endet ihr Buch, es noch etwas gibt, das wir hier verloren haben: 'die Zeit, und damit unser eigentliches Leben'.

1934 folgt ein zweites Buch, Hinter den Kulissen des Reichtagsfilms - auch hier derselbe Frohsinn. Die Geschichte dreht sich um die Organisation ihres dritten Films. (Vorher hatte sie, sofort nach der Rückkehr und Genesung vom Eisbergfilm, den Reichsparteitag 1933 der NSDAP in einem kurzen Film aufgenommen.) Nun hat ihr Hitler persönlich erneut den Auftrag zu einer 'künstlerischen Gestaltung des Nürnberger Reichsparteitages durch den Film' gegeben. Was ist künstlerische Gestaltung - die Kernfrage des Buches. Folgendes, sagt Regisseurin Riefenstahl: keine Chronik machen! Was tatsächlich zwischen dem 5. und 10. September 1934 auf den Parteitagen geschieht ist unerheblich - 'Eine Chronik müßte die Nürnberger Ereignisse durch ihren Abklatsch, durch ihre fotografische Treue ermüdend und ernüchternd aneinanderreihen.' Es geht darum, dem heroischen Stil und dem innerlichen Rhythmus des Geschehens auf die Spur zu kommen. Die Methode, die sie dazu anwendet, ist, zunächst alles aufzuzeichnen - und dann wird es geschehen: 'Ganz von selbst schält sich aus der inneren Anschauung der Aufgabe der Begriff von der "künstlerischen Gestaltung".' 'Besessen hinter den wirklichen Ereignissen her; es darf kein "halt" und kein "unmöglich" geben. Alles Geschehen muß blitzschnell intuitiv erfaßt werden.' Was für eine power! Was für ein Schneid! Wie unbekümmert selbstsicher sie in diesen Tagen war! Auch das bekomme ich hin: die Zeit, und damit unser eigentliches Leben, als Material zu nutzen, um künstlich einen Rhythmus, einen Stil heraufzubeschwören, wodurch der Film als eine Art Energiezentrale für die 'innere Bereitschaft' fungieren kann, wodurch alle 'Zweifel, alle Bedenken, alle Hemmnisse' überwunden werden können. (Man kann alle Bedenken und Hemmnisse nur über Bord werfen, wenn man innerlich dazu bereit ist.) Der künstlerische Film zeigt das Unzeigbare, das was die Ereignisse vollständig macht, und steigert es kumulativ zu einer Klimax: Hitlers Schlußrede an die versammelten Parteimitglieder in der Kongresshalle. Da geschieht es: 'Die Menschen sind im Innersten gepackt' - so Leni (tiefer als das Innere: das Innerste).

Ihr drittes Buch, Schönheit im Olympischen Kampf von 1938, enthält Standfotos aus ihrem Film über die olympischen Spiele. Nun ist alles noch etwas großartiger und mitreißender. Während der Spiele von 1936 in Berlin war Leni Riefenstahl faktisch die einzige gewesen, die Bilder machen durfte: sie konnte jedem - auch den ausländischen Kameramännern und Fotografen - verbieten, irgendwo Aufnahmen zu machen, wenn ihr das nicht paßte (und das tat sie dann auch in großem Stil, was ihr ordentlich unter die Nase gerieben wurde, als sie im November 1938 die USA besuchte). Sie selbst nahm mit ihrem Team soviele Bilder auf, daß sie 18 Monate brauchte, um einen Film daraus zu destillieren. Aber wie sie es genoß! Wie sicher sie wußte, daß sie hier einen Höhepunkt erreichte! Es existieren eine Anzahl Publicityfotos von Leni selbst, aufgenommen während der Spiele. Auf einem davon steht ein Läufer, der sich nach irgendeinem Sieg verschnauft, umringt von einen Halbkreis von Kameramännern und Fotografen. Auf dem Boden sitzt Leni (die einzige ohne Kamera). Sie sitzt mit den Beinen seitwärts nach hinten und stützt sich auf ihre Hände, ihr Kopf (mit einem gestreiften Haarband) reckt sich dem vornübergebeugten Läufer entgegen. Strahlend sieht sie ihn an, mit einem riesigen Lachen, man sieht Zähne blinken. Glorreiche Tage! Nicht einer der Kameraleute lacht, sie zeigen einfach professionelles Engagement. Nur Leni strahlt eine ja!-nur zu!-Fröhlichkeit aus. Frauenlachen - Männerwelt! Immer die einzige Frau gewesen! Man nehme das Foto: 'Adolf Hitler und Leni Riefenstahl begrüßen das deutsche olympische Team'. In einem kleinen Saal, mit einer Palme im Hintergrund und Gobelins an der Wand, stehen dicht gedrängt etwa hundert braungebrannte Männer in dunklen Anzügen zur Mitte gebeugt, wo eine Runde um einen Tisch sitzt, mit halbleergetrunkenen Biergläsern darauf. Jemand in der rechten vorderen Ecke hat gerade eine Frage gestellt und hinten lachen Männer. Riefenstahl sehen wir rechts auf einem Stuhl (helles Kleid, gestreiftes Haarband auf ihrem Schoß) mit einer Hand gegen ihre rechte Wange, dem Fragesteller lauschend und zu ihm aufschauend. Hinter ihr sitzt Hitler und starrt Leni mit großen Augen an: Bewunderung, Verblüffung? Wie kriegt das Frauchen das nur hin? Er hat glänzende schwarze Schuhe an, eine dunkle Hose und eine helle Uniformjacke (das einzige weiße Jackett im Raum). Um seinen Arm trägt er ein dunkles Band mit so einem Hakendingens drauf. Einige Männer haben sich so weit vornüber gebeugt, daß sie über Riefenstahl hängen.- Sie fraßen ihr aus der Hand! Das gesamte deutsche Team fraß ihr aus der Hand! Fünf lange Jahre lang!

 4.

In der Bergwelt war ich glücklich. Als Leni Riefenstahl 1982 ihre Memoiren zu schreiben beginnt, hat sie ein Problem. Wie macht man das? Wie beschreibt man, daß man die die schönste Zeit seines Lebens genau in jener Periode verbrachte, die als einer der scheußlichsten sick jokes of history in die Annalen einging? Daß man genau jene Männer um den kleinen Finger wickelte, die seither allgemein als Massenmörder, Kriegsverbrecher oder als all zu normale Halbidioten gelten? Daß man seine Kreativität auf den für einen persönlich höchsten Punkt gesteigert hat, mit Hilfe eines Materials, das jeder (inklusive derjenigen, die es produzierten) im Nachhinein für den absoluten Tiefpunkt des Jahrhunderts hält. Daß man sein Leben in Dingen verwirklicht hat, die heute, milde gesagt, als vollkommen lächerlich beurteilt werden? Vierzig Jahre lang (denn 1942 hatte auch Leni ziemliche Hemmungen und Bedenken bekommen - Grund für sie, ihren folgenden und letzten Film über eine Oper zu machen, der so sehr an ihre Bergfilme vor 1933 anschloß, daß es absolut nichts mit dem Zeitraum dazwischen zu tun haben konnte - und selbst das gelang nicht, denn die Zigeunerjungen-mit-Träne-im-Auge, die sie für ihr Tiefland brauchte, waren damals nur noch an Orten zu finden, an die wir bis heute bei den jeweiligen Denkmälern mit Grauen zurückdenken) - vierzig Jahre lang hat sie diese Fragen in ihrem Inneren gedreht und gewendet. Leere. Was in Riefenstahls albernen Filmen auffällt, und was schon in den Antworten von Richard Strauss auffiel, und was in den Memoiren beinahe unerträglich wird, ist eine bestimmte Art atemberaubender Abwesenheit. Etwas, was anderswo vollkommen selbstverständlich und unauffällig existiert, fehlt hier mit einem Mal. Eine innere Resonanz, eine Art Bewegtheit, eine Anwesenheit - der kosmische Hintergrund vibriert nicht mit. Strauss ist nicht einfach ein bißchen gewissenlos, sein 'völlig ruchloser, völlig amoralischer Egoismus' scheint nie davon gehört zu haben, daß es so etwas wie öffentliche Verantwortung und private Verantwortlichkeit gibt. Natürlich gab es eine Zeit, in der auch Strauss über normales gesellschaftliches Verhalten im Bilde war, aber es ist ihm gelungen, diese Zeit vollkommen abzuschütteln: aktiv, von Anfang bis Ende, gewissenhaft, ist es ihm gelungen, Minute für Minute aus seinem Gedächtnis wegzudenken, aber auf die Dauer mit stets geringerer Anstrengung, und schließlich, ohne daß es ihm je bewußt war, 'restlos' wegzufegen - bis nur noch er selbst übrigblieb. Mein Oeuvre ist fertig und der Rest kümmert mich einen feuchten Dreck. Ich will mich nicht mehr ändern. Mich gibt's. Das Leben (ob es nun Nazis, Alliierte oder die Geschichte selbst betrifft) wird schon für den Fortschritt sorgen - bei mir muß das nicht mehr sein.

Um diese Zeit ist Entwicklungsfremdheit auch Riefenstahls Tiefe geworden: sie ist künftig endgültig so, wie sie um 1932 gewesen sein muß. Auch sie ist (vermutlich ab 1938, der Zeit der Amerikareise) jemand geworden, der 'ist', der daraus seine 'Moral' macht: das bin ich und weiter kann mir niemand etwas anhaben! Und das dann vierzig Jahre durchhalten, während immer wieder, endlos und unermüdlich behauptet und bewiesen wird, daß man etwas anderes ist (ein Lügner, ein Nazipropagandist, eine geile Fotze, ein Krimineller, ein Mitläufer, eine Schlampe) und daß man jetzt endlich einmal Verantwortung zeigen soll (bloß mal sagen: 'Damals habe ich das nicht durchschaut, aber in der Tat, wenn ich darauf zurückschaue, muß ich konstatieren, daß Triumpf des Willens und Olympia zum Teil für Propagandazwecke gemacht und benutzt wurden.' Eine solche Aussage würde akzeptiert werden, auch wenn nachgewiesen ist, daß Riefenstahl 1938 schon wußte, daß ihr olympischer Film politisch vielleicht nicht ganz einwandfrei war; auf ihrer Promotiontour in die USA nahm sie drei Versionen des Films mit: die längste für widerliche Deutsche in den States, voll von Hitler und steifen Armen, und den kürzesten für the general public - ohne Haken sozusagen, nur frischer und fröhlicher Faschismus und außerdem Sport). Nach 1945 hat Leni Riefenstahl Jahrzehnte lang Prozesse geführt, gegen alles und jeden, der eine etwas andere Version ihrer Lebensgeschichte als ihre eigene vertrat, denn sie wollte noch weiterkommen, anders als bei Strauss war ihr Oeuvre noch nicht komplett (sie wollte Penthesilea von Heinrich von Kleist verfilmen), aber das ginge nur, wenn sie 1933-45 nie erlebt hätte und ihr Leben (immer wieder immer wieder) von vorne anfangen könnte. (Aus der Verfilmung wurde nichts). 1955 zog es sie nach Afrika, wo sie ihr Naturerlebnis vom Ende der zwanziger Jahre noch einmal wiederholte (die Berge waren von Massentouristen überlaufen) und wieder später, im Alter von 72 Jahren, warf sie ihr höchstpersönliches Naturerlebnis-fern-der- Zivilisation ins replay ein, indem sie Tiefseetauchen lernte (ihre Afrikaner trugen damals schon Unterhosen und ließen sich nur noch gegen cash fotografieren). Das bin ich - dieser Körper bin ich, und auch das darf sich nie ändern, immer zu höchster Leistung fähig. Ihr Körper hat vergessen, wie er alt werden muß (aktiv vergessen: mit Frischzellentherapie wurde er jung gehalten).

Man schafft es nur, zu 'sein' (eine Identität konsequent durchzuhalten), wenn man eine Strategie ausarbeitet, einen möglichst detaillierten Lebensplan organisiert, in dem bis in die kleinsten Einzelheiten die Möglichkeit, daß man etwas anderes sein könnte, als man ist, auf jede Weise liquidiert wurde, weil es niemals bestanden hat. Nie ein Aufstoßen, nie etwas Merkwürdiges, das einfach hereingeschneit kommt - hier, in meinem Heim -, alles ist Abbildung der eigenen Vorstellung von dem, wie es immer aussehen soll. - Und genau das ist Authentizität.

 5.

O wie vereinfacht sich das Leben! Faschismus heißt: alles ist sauber, alles muß sauber sein, nichts darf einfach so geschehen. Es gibt nur Außenseite. Wenn man selbst etwas tut, das nicht sauber ist, muß man es so schmutzig tun, daß niemand sich je vorstellen kann, daß es wirklich passiert ist, denn jeder kann sich ja nur Dinge vorstellen, die sauber sind - halte die Dinge unwirklich, lautet das Motto der Faschisten. Im Inneren hat man mit nichts Probleme.

Ende der zwanziger Jahre ergreift Leni Riefenstahl, obwohl sie eigentlich nie die große Stadt verlassen hat, unvermittelt eine Passion für das Hochgebirge. Merkwürdig? Dann sieht sie eben einen Film und wird von der Schönheit des Berggipfels ergriffen - der Film war ein großer Publikumserfolg - wenn jeder es schön findet, darf ich das doch auch? Dann ist sie Feuer und Flamme für die Nazis - aber nicht nachdem Hitler persönlich ihr den Befehl dazu gegeben hat (mit ganz Deutschland tat er das! Warum sollte ich dann nicht -). Irgendwann in den fünfziger Jahren packt sie das 'Afrikafieber' - hoho, nun, das kam durch ein Buch von Hemingway (Nobelpreis). Dann folgen die Nuba - Fotoalbum! Die Tiefsee - Bildband! (Hohe Auflage!) Sobald auch nur irgendetwas geschieht, das auf eine eigene innere Bewegung deuten könnte, beruft Leni sich auf Massenerfolg (Massenmensch).

Und die großen Lieben ihres Lebens? Die Männer? Leni Riefenstahls Memoiren bestehen aus Erinnerungen einer aktiv Vergeßlichen. Daß sie nicht über die Vorgeschichte und die ästhetischen Prinzipien hinter Triumpf des Willens zum Beispiel schreibt, wie es der filmbegeisterte Leser erwarten würde, liegt daran, daß sie es wirklich nicht mehr weiß. In etwa 300 Kapiteln wird über 900 Seiten bis zum Zermürben dieselbe Geschichte abgespult: immer wahnsinnig viel gearbeitet, ich (aber die anderen). Immer überall dabei gewesen (aber die anderen). Leni kannte nicht nur Hitler, Mussolini, Speer persönlich, um nur einige zu nennen - sie war auch dabei, als sie ihre dramatischsten Beschlüsse faßten (ein Land zu erobern, einen Pakt zu schließen, einen Angriff zu starten). Sie will sowohl alles mitgemacht, als auch nie etwas gewußt haben. Wozu dienen Memoiren? Ihre strategische Vergeßlichkeit zwang sie, ihre Erinnerungen selbst aufzuschreiben, und das nicht einem Ghostwriter oder Journalisten zu überlassen, denn die würden sich an die falschen Dinge nicht- erinnern. (Daß sie kaum über Triumpf des Willens schreibt kommt daher, daß sie heute leugnet, das Buch von 1934 je geschrieben zu haben.)

Margarete Mitscherlich nennt sie wegen dieses Wälzers 'eine von Männlichkeitswahn besessene Superverleugnerin'. Tatsächlich verspürt man als Leser schon nach zehn Seiten den Drang, Leni begreiflich zu machen, wenn man schon lügen will, es so zu tun, daß es nicht so furchtbar auffällt. Auf Seite 13 hat sie schon wieder vergessen, was sie auf Seite 12 behauptet hat (inklusive dem was jeder weiß: D-day findet bei ihr nicht in der Normandie, sondern in Dünkirchen statt). Man lügt aus Respekt vor der Wahrheit; man hält es der Mühe wert, diese hinter einem Netz von weitschweifigem Gelaber zu verbergen. Aber Leni verbirgt nichts, es ist nichts mehr übrig. Natürlich weiß auch Leni Riefenstahl, daß Memoiren den Sinn haben, endlich einmal alles zu sagen, 'die Wahrheit, die nackte Wahrheit!', und die Wahrheit (hat sie irgendwo gehört) ist, daß die Dinge nun einmal nicht so hübsch sind, wie jeder sie gerne hätte. Sich etwas zu konsequent auf diese Einsicht stützend, bezeichnet Leni alle Männer in ihrem Leben - von ihrem Vater bis zu ihrem Bergfilmregisseur, von Goebbels bis zu allen Afrikanisten - als Dreckskerle, Vergewaltiger, geile Rüpel, Muttersöhnchen, unter der Fuchtel einer Schlampe, Hosenscheißer, geldgeil, Feiglinge, Fehlschläge, Schwätzer mit einem großen Maul und einem kleinen Schwanz - nur (leider, leider!) auf eine Art, wie sie es einmal irgendwo gelesen hat, anstatt auf ihre eigene Art. In Riefenstahls Memoiren ist niemand und nichts, was jemand tut, interessant. (Übrigens erinnert sie sich durchaus ganz genau, wer je etwas Unfreundliches über sie gesagt hat, in Interviews, in Memoiren oder in der Klatschbiographie, die ein Glenn B. Infield mit offenem Hosenschlitz über sie schrieb.) Mit wieviel Durchsetzungsvermögen Leni auch ihre eigene Vergangenheit abwertet, es gibt doch einen Mann, der 100% gut dabei wegkommt. Ende Februar 1932 geht Leni zufällig in eine Sporthalle, in der an diesem Tag gerade etwa 10.000 Menschen versammelt sind, um der Rede eines A. Hitlers zu lauschen. All' die Menschen, was tu' ich hier, ah, dort ist der Redner dieses Abends. The voice spricht in ein Mikro und da tönt es: 'Volksgenossen! Volksgenossinnen!' Riefenstahl, 1987: 'Merkwürdigerweise hatte ich im gleichen Augenblick eine beinahe apokalyptische Vision, die ich nie mehr vergessen konnte', (konnte! Und Sie wissen ja, wie sehr ich mich bemüht habe!) 'Mir war, als ob sich die Erdoberfläche vor mir ausbreitete - wie eine Halbkugel, die sich plötzlich in der Mitte spaltet und aus der ein ungeheurer Wasserstrahl herausgeschleudert wurde, so gewaltig, daß er den Himmel berührte und die Erde erschütterte.' So phallisch dieses Bild auch ist, der 'Wasserstrahl' macht deutlich, daß Leni hier keinen Orgasmus hat, sondern spontan in ihre Hose pinkelt - genau wie alle anderen Frauen, die es überkam, wenn Hitler eine Rede anfing (die Schlußrede in der Kongresshalle in Triumpf des Willens: in ihrem 'Innersten gepackt': 'die Teppiche triefen' berichtet Veit Harlan im Schatten seiner Memoiren über diese Zeit). Für diese Befreiung von der durch ein Arschloch von Vater eingebleuten Angst vor dem Bettnässen wird Leni ein Jahr später gestraft, als sie sich in Grönland nach einem Sturz ins Nördliche Eismeer eine chronische Blasenentzündung zuzieht, und von da an immer Schmerzen beim Pissen gehabt haben muß. Aber immer gut befreundet geblieben mit A.H. (aber er hatte mit den falschen Menschen Umgang und man sehe sich an, was aus ihm geworden ist).

Später hatte sie noch einmal eine Vision und noch einmal trifft sie Männer, die aus ihrer Sicht gut wegkommen. Die Vision hat sie, als ihr ihr späterer Ehemann über den Weg läuft: 'Das Ungewöhnliche war, daß ich in diesem Moment, im Bruchteil einer Sekunde, eine Vision hatte, die zweite meines Lebens: Zwei Kometen mit riesigen Schweifen rasten auf mich zu, prallten zusammen und explodierten.' Und diesmal bedeutet es zugleich Sex - ihre erste Nacht: 'Noch nie hatte ich solche Leidenschaft kennengelernt, noch nie wurde ich so geliebt.' (Strafe: er erweist sich als Arschloch, der seinen Schweif in jeden Komet steckt auf den er bumsen kann, um zu explodieren - die Ehe hält nicht lange.)

Die echten Männer schließlich trifft sie in Afrika: the last of the Nuba, die stets nackten Kämpfer von Südsudan - 'Meine schwarzen Freunde' nennt sie sie. Nachdem sie sie fünf Jahre nacheinander besucht hat, wird ihr als Ehrenbezeugung oder als Zeichen des Vertrauens zugestanden, an einem Fest teilzunehmen, bei dem Frauen ihren zukünftigen Ehemann wählen. Sie beobachtet nachts zwischen den Feuern, wie ein Mädchen so einen Heiratsantrag macht (das Mädchen legt dabei ihr Bein auf seine Schulter). Leni will Fotos machen, 'aber ich wurde von ihren Müttern daran gehindert'. Diese tanzen nämlich taktisch um sie herum. 'Inzwischen hatten zwei andere Mädchen die Beine auf die Schultern der Männer gelegt. Ich hätte schreien können, daß ich dieses Ritual nicht aufnehmen konnte. Ich riß mich von den Weibern los und rannte auf die andere Seite der Rabola, wo ein Mädchen vor ihrem Auserwählten tanzte.' Als sie ihre Kamera eingestellt hat, sind die Mütter wieder da und tanzen um sie herum. Leni ersinnt eine List: sie hopst ein bißchen mit, reißt sich dann aber los, 'um im allerletzten Licht noch einige Aufnahmen zu erwischen'. (Nie wirklich Freunde gewesen.) Ihre letzten Freunde findet sie in der Tiefsee: 'Zuerst faszinierten mich die Fische in ihrer Vielfalt und Farbenprächtigkeit.' Faszinierende Fische. Ein Tauchausflug: 'Fische begleiteten mich - aber wenn sie fotografiert werden sollten, hielten sie nicht still. Es gibt Erlebnisse unter Wasser, die man nur einmal hat, und nicht immer ist man in solchen Augenblicken mit der Kamera schußbereit.' Das ist es: allzeit schußbereit stehen, um, sobald etwas Einzigartiges geschieht, abzufeuern. Nichts darf sich bewegen. Alles muß so sein, wie man es haben will. Noch einmal: wozu dienen Memoiren? Wozu sonst - nachdem jeder Versuch mißglückt ist, einen essentiellen Rhythmus aus dem Gerüttel der eigenen Chronik zu schöpfen - als die Wirklichkeit aufzuheben, indem sie in ihrer Gesamtheit wiederholt wird, einschließlich aller Wiederholungen in dieser Wirklichkeit, die den Zweck hatten, sie unwirklich zu machen? Laut Monika Treut haben die kurzen Stückchen mit der ewig selben Story bei de Sade zwei Funktionen: zuerst zerstören sie den Mythos, daß so etwas wie eine Chronik, eine epische Abfolge, im Leben existiert; aber außerdem ist ihr Ziel, 'in eine Ekstase zu führen, um für die "integrale Ungeheuerlichkeit" des Souveränen Menschen zu zeugen.' Was ist Lenis Ekstase, Lenis Großartigkeit? Ich bin großartig, also bin ich - ich bin großartig, ich bin (tot) ich bin ich bin großartig ich bin tot ich großartig bin ich bin ich bin großartig (tot). Wozu sonst will man seine Existenz beweisen, als um ihr ein Ende zu machen?

 6.

All writing is posthumous. Nie selbst etwas erlebt. Immer auf Jagd nach der Authentizität anderer gewesen: echte Bergmenschen, echte Männer, echte Nazis (nur Hitler: um ihn herum hatte sie während der Olympiade von 1936 eine Batterie Kameraleute aufgestellt, um 'seine allernatürlichsten Posen' zu schießen), dann: das echte Afrika, echte Schwarze, echte Nuba, echte Fische. Ihr ganzes Leben eine Fotosafarie, um jede Spur von authentischer Erfahrung zu killen. - Aber das ist genau das, was Fotografie und Film ist: die innere Notwendigkeit, die Welt im Bild festzuhalten (ihre Bewegung festzuhalten in bewegten Bildern), das heißt: die Welt von ihrem Inneren zu befreien - was ist das für eine Leere, was fehlt hier? Nichts kann sich im Bild mehr verändern, alles ist ein für allemal verpflichtet, zu 'sein', allzeit wiederholbar, an den verschiedensten Orten, unter den verschiedensten Umständen - ungeachtet der Kultur, ungeachtet der Sprache, ungeachtet der grausigen Vergangenheit; ohne Folgen und ohne Fortsetzung, immer Erinnerung, immer mehr vom Gleichen. - Kein Widerstand gegen die Zeit (denn Fotos zerfallen und Film zerfällt noch viel schneller, nicht nur chemisch, sondern mehr noch technologisch), sondern Widerstand gegen die Vergänglichkeit als Veränderlichkeit (die Kamera ist die Extension der menschlichen Fähigkeit, aktiv zu vergessen). Kein Körnchen ursprüngliches Geschehen darf bleiben: alles gehört registriert, alles ins Bild gezwungen, alles ausgeschaltet - und der Preis ist immer Vernichtung des eigenen Zeitbegriffs (in Riefenstahls Memoiren kommt kaum ein Datum vor), Vernichtung der laufenden Metamorphose, Vernichtung des Prozesses.

Aber das Ziel ist Authentizität auf einer anderen Ebene, Einmaligkeit auf einer Metaebene (Kunst). So wie das Automobil, der Zug und das Flugzeug durch Verbrennung einer fernen Vergangenheit vorwärts kommen (die geologische Formation, welche heute zu Steinkohle, öl komprimiert ist), so ist die Fotografie - das Bild - ein Vorwärtskommen, welches die ihm unmittelbar vorausgehende Welt verbrennt, wegfegt - Vorwärtskommen in Richtung der Ebene, auf der das Authentische immer für die massenhafteste Verbreitung vorgesehen ist (Welterfolg). Die Erlebnisse, die ihr Leben veränderen, kommen bei Leni immer aus einem Massenprodukt hervor. Genau wie Leni ihr innerstes Erlebnis jedesmal wieder erneuern muß, um dasselbe zu bleiben (Berge Nazi Nuba Tiefsee), so müssen die Massenmedien ständig wieder erneuern (LP tape CD Füller typewriter PC Radio TV HD), um dasselbe zu bleiben und weiterhin dasselbe zu zeigen: das Allgegenwärtige, das Unmittelbare, das Massen- Authentische, die restlose Vernichtung des Einmal-aber-nie-mehr-wieder (aber was folgt, ist keine Massenmetamorphose).

Ist es das? Ist das Authentische der Anfangspunkt der Verwandlung? Das Ereignis, das einen authentisch macht, wodurch man nicht mehr jemand zu sein braucht, sondern sich auf den Weg auf die einzig mögliche Route macht, auf der man metamorphosieren kann - die eigene, die des eigenen Körpers - die postauthentische Metamorphose - die einzig wirkliche, nur für einen und für einen ganz allein bestimmte Tür?

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