Die Wohlfahrtsverbände schätzen, daß es
1994/95 in der Bundesrepublik zwischen 1,1 und 1,3 Millionen
Menschen gibt, die keinen festen Wohnsitz haben, also obdachlos
sind.
In seinem Buch ‘Wohnen in Deutschland’ gibt der SPD
Bundestagsabgeordnete Peter Conradi die Zahl derjenigen Menschen,
die allein im Westen der Bundesrepublik bei Freunden, Verwandten
oder Bekannten leben - die also keine eigene Wohnung haben - mit
2,576 Millionen an. Nimmt man nun die Obdachlosen und diese quasi
Obdachlosen sowie die Menschen, die in absolut unzumutbaren
Wohnverhältnissen vegetieren müssen, dann leben in der
Bundesrepublik rund vier Millionen Menschen in akuter Wohnungsnot
oder sind obdachlos. [1360]
In der ehemaligen DDR herrscht seit dem Beitritt
zum Staatsgebiet der BRD eine besonders dramatische Situation auf
dem Wohnungsmarkt. So bestimmt der ‘Einigungsvertrag’, daß
die rund vier Millionen volkseigenen und genossenschaftlichen
Wohnungen der DDR dem eigentlich nur bei privaten Wohnungen
gültigen ‘Gesetz zur Regelung der Miethöhe’ unterworfen
werden, obwohl “diese Wohnungen mit öffentlichen Mitteln
gebaut worden sind und ihnen deshalb der Status von
Sozialwohnungen zustehen müßte .”[1361] Durch Verordnungen der Bundesregierung
werden bis 1994 die zu DDR-Zeiten extrem niedrigen Mieten und
Mietnebenkosten auf das sechs- bis achtfache angehoben. “Die
Wohnkosten-Belastung überschreitet vielfach trotz Wohngeld ein
sozial verträgliches Maß .”[1362] Schließlich verheißt die für 1995
angekündigte Einführung des Vergleichsmietensystems für die
fünf neuen Bundesländer eine weitere Verschärfung der
Situation.
In der Bundesrepublik fehlen 2,5 bis 3 Millionen
Wohnungen. Jedes Jahr müßten 500.000 bis 600.000 Wohnungen
gebaut werden, um die Wohnungsnot mittelfristig zu beseitigen. [1363]
“Auf absehbare Zeit ist (...) mit einem Auseinanderklaffen
von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt zu rechnen ”[1364], erklärte jüngst ein
Funktionär des Bonner Städtebauinstituts, einer von der
Wohnungswirtschaft finanzierten Einrichtung. Die Ware Wohnraum
ist knapp in der Bundesrepublik - die Nachfrage ist entsprechend
groß. Dieser ständig vorhandene Nachfrageüberhang führt dazu,
daß alles, was mit Wohnungsbau und Wohnen zu tun hat, weit über
dem Produktionspreis am Markt angeboten wird. Direkte Folge davon
ist eine scheinbar unaufhaltsame Explosion der Mieten.
Die Wohnungsmieten steigen weiterhin viel schneller als die
allgemeinen Lebenshaltungskosten: In den ersten neun Monaten des
Jahres 1994 zogen die Mieten in Westdeutschland um 4,7 % und in
Ostdeutschland sogar um 10,1 % an. Die Lebenshaltung verteuerte
sich demgegenüber lediglich um 3,1% (West) bzw. 3,4% (Ost). Aber
damit nicht genug: In Ballungsräumen sind Mietsteigerungen um 30
Prozent keine Seltenheit. Lediglich in den ‘höheren
Preisregionen’ kann von einer Entspannung des Marktes die Rede
sein: Bei Objekten jenseits von 20 DM Kaltmiete pro Quadratmeter
existiert ein genügend großes Angebot [1365].
Allerdings bestehen in der BRD sehr deutliche regionale
Unterschiede bei der Wohnraum-Versorgung. So wird im
Raumordnungsbericht 1994 vor allem für die Städte München,
Stuttgart, Frankfurt/Main und Düsseldorf eine “zugespitzte
Lage in der Wohnungsversorgung mit gravierenden Auswirkungen auf [die]
Miethöhe [sowie] Zugangsprobleme[n]”[1366] beschrieben.
Wenn der freie Markt die Nachfrage nach
preiswertem Wohnraum nicht decken kann und will, bleibt nur noch
der Staat mit sozialem Wohnungsbau und Miethilfen - dem Wohngeld
- übrig. Aber auch hier zeichnet sich die Katastrophe schon seit
längerem ab: Die Regierungskoalition aus CDU und FDP hat die
Subventionen für den sozialen Wohnungsbau in den letzten Jahren
immer weiter reduziert. Nach Berechnungen der IG Bau-Steine-Erden
gehen 92% der Subventionen für Wohnungsbau und -kauf (1994
immerhin rund 75 Milliarden Mark) in Form von staatlichen
Steuergeschenken an die, welche bereits Immobilien besitzen bzw.
ein so hohes Einkommen haben, daß sie auch ohne staatliche
Unterstützung bauen könnten. Der Rest, lediglich 8 Prozent,
bleibt für Wohngeld und sozialen Wohnungsbau übrig [1368]. Seit der letzten
Erhöhung des Wohngeldes im Jahre 1990 sind die Mieten in
Westdeutschland um durchschnittlich 22 Prozent gestiegen,
Neuvertragsmieten sogar um 30 bis 50 Prozent. Nach Angaben des
Deutschen Mieterbundes muß heute jedeR zweite
WohngeldempfängerIn eine Miete zahlen, die durch die
Höchstbeträge des Wohngeldes nicht mehr abgedeckt ist. [1369]
Im Jahre 1994 beträgt der Anteil der Sozialwohnungen am
allgemeinen Bestand (aufgrund des Auslaufens der Sozialbindung)
nur noch etwa 2,5 bis 3 Millionen Wohneinheiten, das sind magere
11 Prozent. [1370] Die
neuesten Überlegungen - vor allem der FDP - sehen vor, die
staatlichen Subventionen für den sozialen Wohnungsbau völlig
einzustellen und statt dessen kommunale Belegungsrechte in
Privathäusern zu erwerben. Diese geplanten ‘Belegungsrechte’
stellen den Versuch dar, private HauseigentümerInnen noch viel
unverblümter, direkter durch Steuermittel zu subventionieren.
Allerdings ist dieser Vorschlag schon deshalb nicht praktikabel, “weil
die Kassen der kommunalen Gebietskörperschaften nicht nur
absolut leer sind, sondern weil sie darüber hinaus in der Regel
noch höher verschuldet sind als Bund und Länder .”[1371]
[1360] Vgl. Ebert, W., Wohnungsnot in der Bundesrepublik, aus:
Marxistische Blätter 2/95, S. 58.
[1361] PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht,
S. 14.
[1362] Ebenda, S. 14.
[1363] Das entspricht einem Netto-Zugang von ca. 200.000
Wohnungen, da bundesweit von einem jährlichen Abgang - durch
Abriß, Umwandlung etc. - von 300.000 bis 400.000 Wohnungen
ausgegangen werden kann, vgl. ebenda, S. 17 ff.
[1364] WZ, 19.11.1994.
[1365] Vgl. ebenda.
[1366] PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht,
S. 19.
[1367] Wohngeld ist unserer Auffassung nach in erster Linie
eine zusätzliche Subvention für die VermieterInnen von
Wohnraum: MieterInnen, die Wohngeld erhalten, haben den gesamten
individuellen bürokratischen Aufwand zu leisten, während das
Wohngeld selbst bei den HausbesitzerInnen landet.
[1368] Vgl. Ebert, W., Wohnungsnot in der Bundesrepublik, aus:
Marxistische Blätter 2/95, S. 62.
[1369] Vgl. ebenda, S. 60.
[1370] Noch 1971 betrug dieser Anteil mit 7 Mio.
Sozialwohnungen (von insgesamt 25 Mio.) zwischen 25 und 30%, vgl.
PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht,
S. 25.
[1371] Ebert, W., Wohnungsnot in der Bundesrepublik, aus:
Marxistische Blätter 2/95, S. 61.