Die Sprache der Gewalt
 Ein »Steinewerfer« vor Gericht


Stefan Aust

Was ist los mit ihnen? Haben sie nicht alles, was sie brauchen? Leben sie nicht von BAföG oder vom Scheck ihrer Eltern? Haben sie nicht die bestmögliche Schulausbildung genossen? Können sie nicht - trotz Numerus clausus - immer noch irgend etwas studieren? Sind nicht die Maschen des sozialen Netzes so eng, daß auch Jugendliche nur schwer durchrutschen können? Leben sie nicht im »freiheitlichsten Staat, den es jemals auf deutschem Boden gab«?

Können sie nicht aktiv am »Willensbildungsprozeß der Parteien« teilnehmen? Haben sie nicht sogar ihre eigenen Leute, die »Grünen« oder die »Alternativen« in die Parlamente bringen können?

Haben sie es nicht besser als ihre Eltern oder gar ihre Großeltern, die Nationalsozialismus, Krieg und Wiederaufbau erleben mußten?

Fehlt ihnen der Krieg, wie ein Landesminister argwöhnte? Steinschlag statt Stahlgewitter?

Da entwickeln gestandene Polizeipräsidenten nostalgische Sehnsüchte nach den rebellierenden Studenten der sechziger Jahre, die noch »konkrete politische Ziele« hatten, die sich »artikulieren konnten«', die auf den »langen Marsch durch die Institutionen« gehen wollten.

Konnte man mit den 68ern nicht wenigstens noch diskutieren, obwohl ihr soziologisches Kauderwelsch Gespräche oft erschwerte?

Und nun die Kinder der achtziger Jahre, die mit den Vertretern des politischen Systems nicht einmal mehr streiten, wenigstens nicht verbal, die für Argumente nur noch Hohn und Spott und Gelächter übrig haben. Die nur von sich reden und deren Gefühle nur in privaten Gesprächen geäußert werden, sich öffentlich allenfalls in Wandparolen manifestieren: »Wir haben nichts zu verlieren als unsere Angst« oder »daß der Tod uns lebendig findet und das Leben uns nicht tot«.

Wie soll sich eine technisch und soziologisch fortschrittsgläubige Generation von Älteren mit einer Jugend auseinandersetzen, die mit dem System nur noch via Pflasterstein kommuniziert, oder (danach) über ihre Rechtsanwälte. Die still und stumm auf der Anklagebank sitzt und dem Gericht kein zorniges »Ich klage an« entgegenschleudert. Deren Freunde im Zuschauerraum sitzen - ihre Pässe beim Eintritt ins Gericht fotokopiert und an die zentrale Datenverarbeitung weitergegeben -, das stört sie kaum noch, denn registriert, computerisiert, erkennungsdienstlich behandelt sind sie mehr oder weniger alle.

Bei der Urteilsverkündung ein Aufschrei, Tränen, Beleidigungen gegen das Gericht: »Halt die Fresse, du Schwein!« Nicht von der Anklagebank her, sondern aus dem Zuhörerraum. Ordnungsstrafen werden mit stoischer Ruhe kassiert, denn nichts anderes erwartet man von diesem System.

So war es bei der Urteilsverkündung im Prozeß gegen Guido W., einen vierundzwanzigjährigen Physikstudenten in Berlin. Es war das erste der vielen Strafverfahren gegen Steinewerfer oder auch angebliche Steinewerfer. Dieser Prozeß endete, wie es sich für einen Präzedenzfall gehört: mit einer Haftstrafe, 14 Monate ohne Bewährung, obwohl das Beweismaterial sehr dürftig war.

Guido W. war kein Hausbesetzer, bevor er in die Maschinen der Justiz geriet, jetzt ist er einer. Das Exempel, das an ihm statuiert werden sollte, hat ihn zu dem gemacht, was die Richter und Staatsanwälte in ihm zu sehen glaubten. Guido W. ist ein schmaler, schüchterner Junge mit halblangen dunklen Haaren. Kein knallharter »Streetfighter«, auch kein redegewandter Intellektueller, eher ein freundlicher Oberschüler, der sich nur im Notfall mit seinen Lehrern anlegt und die an ihn gestellten Ansprüche ohne große Widersprüche erfüllt.

Guido W. wurde in Hanau geboren und ging dort auch zur Schule. Nach dem Abitur wurde er zur Bundeswehr eingezogen. Eigentlich wollte er den Kriegsdienst verweigern, aber in der Hoffnung darauf, daß man ihn möglicherweise vergessen könne, wartete er zunächst einmal ab. Man vergaß ihn aber nicht. Bei der Panzer-Artillerie wurde er sogar Gefreiter.

Nach seiner Bundeswehrzeit schrieb er sich an der Universität in Frankfurt ein. Er studierte dort fünf Semester lang Physik und machte sein Vordiplom. Weder auf der Schule noch an der Universität zeigte er jemals politische Ambitionen. Zwar nahm er an einigen Demonstrationen zu hochschulpolitischen Fragen teil, aber für weitere politische Aktivitäten reichte sein Engagement nicht aus. »Ich habe wohl irgendwie links gedacht«, sagte er, »aber gemacht habe ich eigentlich nichts.«

Auch im Elternhaus, wo er immer noch regelmäßig auftauchte, wurde wenig über Politik gesprochen. Sein Vater ist Angestellter bei der amerikanischen Armee, die Mutter arbeitet als Sekretärin. »Es war sinnlos, mit meinem Vater über Politik zu diskutieren, weil er von seinen Meinungen nicht runtergegangen ist. Wir haben zwar dieselben Dinge am Staat kritisiert, aber wir hatten unterschiedliche Meinungen darüber, woher die Mißstände kamen und was man dagegen tun konnte. Manchmal habe ich mich mit meinem Vater so in die Haare gekriegt, daß ich dann über Politik nicht mehr mit ihm geredet habe.«

Doch das persönliche Verhältnis zu seinen Eltern wurde davon kaum getrübt. Das Thema Politik wurde einfach weitgehend ausgespart.

Guido wollte Diplom-Physiker werden, dann entweder an der Uni arbeiten oder sich irgendwie selbständig machen. Für die Industrie wollte er nicht arbeiten, allenfalls vorübergehend, um ins Ausland zu kommen.

Nach fünf Semestern verließ er die Frankfurter Universität. Der Wissenschaftsapparat erschien ihm zu kalt, zu groß und zu straff geregelt. Er ging nach Berlin, dort hatte er Freunde, außerdem gefiel ihm die Stadt. Berlin erschien ihm altmodischer, aber mit seiner konfliktreichen Sozialstruktur irgendwie ehrlicher und gemütlicher als die von nüchternen Glasfassaden und kaltem Geschäftsgeist geprägte Stadt Frankfurt.

In Berlin fand er eine kleine Einzimmerwohnung, die er allein bezog. Während der Semesterferien arbeitete er in einer Zigarettenfabrik, um das Geld für sein Studium zu verdienen. Von zu Hause bekam er nur wenig, BAföG gab es auch nicht. So mußte er dazuverdienen. Der Job an einer Maschine reichte gerade fQr den Kauf eines Motorrades; für das nächste Semester reichte es nicht. Er beschloß, das Studium kurzzeitig zu unterbrechen und weiterzuarbeiten, um sich ein kleines finanzielles Polster zu verschaffen. Außerdem ließen sich Job und Studium nur schwer vereinen: »Das war zwar relativ gut bezahlt, zuletzt so um die 1600 Mark, aber ich mußte so blöde Schichtarbeit leisten. Da war mit Uni nicht viel drin.«

Von den Hausbesetzungen in Berlin hatte Guido nur nebenbei gehört. Er wohnte weiterhin in seiner Einzimmerwohnung, besuchte aber gelegentlich Freunde, die in besetzten Häusern lebten.

»Zu der Zeit waren so an die 15 Häuser besetzt, und die Leute, die darin wohnten, kannte ich eigentlich nicht besonders gut. Ich fand das schon in Ordnung, daß die Typen Häuser besetzten, aber selbst habe ich mir nicht zugetraut, in einem besetzten Haus zu wohnen. Ich hatte vor allem mein Studium im Kopf. Außerdem hatte ich Angst, in irgendwelche polizeilichen Ermittlungen zu geraten. Die Polizei stand schließlich immer vor den besetzten Häusern herum. Es gab am laufenden Band Räumungsgerüchte. In so etwas wollte ich nicht hineingeraten. Außerdem habe ich der ganzen Besetzerbewegung nicht viel Aussichten eingeräumt. Das waren damals einfach zu wenig besetzte Häuser. Ich habe damals gedacht, es dauert nur noch ein paar Monate, bis die Polizei alle Häuser räumt. Ich sah einfach keine Zukunft darin, mich dort zu engagieren, obwohl ich ganz gut fand, was die Leute machten.«

Was die Leute machten, waren im wesentlichen handwerkliche Arbeiten. Sie waren in leerstehende Gebäude eingezogen und richteten sich darin häuslich ein. Sie räumten das Gerümpel fort, dichteten die Fenster ab oder setzten neue ein, installierten Bäder und Küchen, tapezierten, strichen Wände, legten mehrere kleine zu einer großen Wohnung zusammen, legten neue Fußböden und machten die Öfen funktionsfähig. Und sie sicherten die Eingänge der besetzten Häuser gegen private Räumkommandos der Hausbesitzer und die der Polizei ab. Sie bauten sich eine faszinierende eigene Welt, gegen das bestehende Gesetz, aber im Einklang mit ihren eigenen Empfindungen über das, was Recht ist und was Unrecht. Guido W. bewunderte den Mut der Hausbesetzer, die trotz drohender, gewaltsamer Räumungen, trotz drohender Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch, ihre Arbeit und ihr spärliches Geld in fremder Leute Häuser investierten.

Dennoch wollte er selbst nicht in einem solchen Haus wohnen. »Irgendwie war mir mein Studium wichtiger. Und beides zusammen ging schlecht. Das sah ich an einem Freund, der kam zu überhaupt nichts mehr, seit der in einem besetzten Haus lebte. Das ist doch ein Fulltimejob. Da mußt du das Haus renovieren, da mußt du um 5 Uhr aufstehen, wenn die Telefonkette ausgelöst wird. Das war einfach zu stressig für mich, um noch nebenher etwas anderes zu machen.« Doch dann kam die Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1980. Am Fraenkelufer in Kreuzberg kam es anläßlich der polizeilichen Räumung eines gerade besetzten Hauses zu einer der härtesten Straßenschlachten der vergangenen Jahre in Berlin. Senat und Polizei erwarteten, daß die Hausbesetzer und ihre Sympathisanten nach inzwischen 20 geduldeten Hausbesetzungen diese Räumung nicht widerstandslos hinnehmen würden. Kurz zuvor war es zu den ersten Verhandlungen zwischen Abgesandten der Hausbesetzer und denen des Senats gekommen. Bausenator Ristock hatte ein leerstehendes Haus in der Admiralstraße, unmittelbar neben dem Fraenkelufer, als Ausweichquartier für die Bewohner eines zur Räumung anstehenden besetzten Gebäudes in Aussicht gestellt. Offizielle Begründung für den Polizeieinsatz in jener Nacht war der vorgebliche Versuch von Hausbesetzern, eben jenes Haus in der Admiralstraße, das für die friedliche »Umsiedlung« vorgesehen war, dennoch zu besetzen.

Der Senat wollte sich von seinem Konzept nicht durch eine Besetzung ausgerechnet dieses Hauses abbringen lassen. Ristock: »Chaoten zerstören mir meine Politik nicht!« Doch in Wahrheit hatte niemand Anstalten gemacht, das Haus in der Admiralstraße zu besetzen, statt dessen waren Leute mit Sack und Pack in ein leerstehendes Haus nebenan gezogen. Ausgangspunkt der Gewalteskalation war also ein von der Polizei mehr oder weniger provoziertes Mißverständnis.

Wie auch immer: irgendwann mußte es zur Konfrontation zwischen Staatsmacht und Besetzern kommen. Lange hatte der sozialliberale Berliner Senat Hausbesetzungen stillschweigend hingenommen und war deshalb zunehmend in das Schußfeld der Springer-Presse, der CDU und rechter Kreise in Polizei und Justiz geraten.

Auch hatten militante Kreise der Hausbesetzerszene die Stimmung übermütig als revolutionär fehlinterpretiert.

Die Konfrontation war unvermeidlich und ließ nicht lange auf sich warten.

Auszug aus dem polizeilichen »Verlaufsbericht« über die Ereignisse vom 12. Dezember 1980:

Beginn der Ausschreitungen: Am 12. 12. 80 versuchten gegen 17.00 Uhr mehrere Personen, das Grundstück in Berlin 61, Fraenkelufer 48 zu besetzen.

Einsatzkräfte der Schutzpolizei verhinderten die Hausbesetzung und nahmen in diesem Zusammenhang sieben Personen vorläufig fest.

Bereits 30 Minuten später versammelten sich ca. 30 bis 40 Personen vor dem o. a. Objekt und errichteten davor Barrikaden.

17.45 Uhr
Errichten von Barrikaden vor dem Objekt in Höhe Admiralbrücke und Fraenkelufer/Admiralstraße. Einsatzkraftfahrzeuge mit Steinen beworfen.
18.10 Uhr
Beseitigung der Barrikaden und Räumung der Admiralstraße in Richtung Kottbusser Tor unter der Anwendung des Schlagstockes und Tränengas.
Raumschutz im Bereich der besetzten Kreuzberger Objekte.
18.23 Uhr
Festnahme von drei Steinwerfern (2 männlich, 1 weiblich)
18.30 Uhr
Erneute Ansammlung von Störern am Kottbusser Tor, Räumung in Richtung Admiralbrücke und Beseitigen von Barrikaden.
Dabei Steinwürfe auf eingesetzte Beamte und Polizeikraftfahrzeuge.
19.07 Uhr
ca. 150 - 200 Störer im Bereich zwischen Oranienplatz und Kottbusser Brücke.Einwerfen von Schaufensterscheiben der Firma Kaiser's Kaffee, Geschäften und Banken sowie Sachbeschädigungen an privaten Kraftfahrzeugen. Störer zum Teil mit Schlagwerkzeugen bewaffnet.
19.17 Uhr
Umkippen des Fustrw., EB 51/2. Dabei ein Beamter verletzt (durch Ktw mit Beinbruch, links, dem Krankenhaus Am Urban zugeführt).
Polizeikraftfahrzeug durch Einsatzkräfte aufgerichtet und mit eigener Kraft aus Gefahrenzone gefahren.
19.40 Uhr
Eintreffen und sofortiger Einsatz angeforderter Verstärkungskräfte.
20.15 Uhr
Straßensperren Admiralstraße durch TEA beseitigt. Steinhagel gegen eingesetzte Polizeikräfte.
20.58 Uhr
Erneutes Errichten von Straßensperren im Bereich Fraenkelufer.
21.01 Uhr
Oranienstraße durch 200 - 300 Personen blockiert. Sperren der Oranienstraße und Ableiten des Verkehrs zwischen Moritzplatz und Heinrichplatz durch VKD-Kräfte.
21.26 Uhr
Plünderung des Kaiser's Kaffee-Geschäftes am Kottbusser Tor.
21.27 Uhr
In Brand gesetzter Bauwagen in der Admiralstraße durchFw gelöscht.
21.30 Uhr
Plünderung des Schuhgeschäftes Salamander am Kottbusser Tor.
21.40 Uhr
Umgestürzter Bauwagen am Planufer.
21.50 Uhr
Umwerfen von Privat-Kraftfahrzeugen in der Adalbert/Oranienstraße.
Adalbertstraße durch Sperren verbarrikadiert.4 Straftäter festgenommen.
22.11 Uhr
Räumen der Oranienstraße. Steinhagel auf eingesetzte Beamte in Höhe Heinrichplatz. Werfen eines Molotowcocktails.
22.15 Uhr
Naunynstr. 70 Umkippen eines Bauwagens.
22.18 Uhr
Plünderung bei der Firma »Aldi« am Kottbusser Tor.
Im gesamten Bereich verstärkte Raumstreifen. Eingesetzte Kräfte werden wiederum mit Steinen beworfen und mit Stahlkugeln beschossen.
Dieses, durch Brutalität und Zerstörungswillen gekennzeichnete Vorgehen (siehe auch Lichtbildmappe) setzte sich bis in die Morgenstunden fort.
Erst um 4.30 Uhr heißt es dann in dem Verlaufsbericht:
»Lage im gesamten Bereich normal.«

Das Ergebnis dieser langen Kreuzberger Nacht (aus der Sicht der Polizei):

57 Festnahmen wegen Landfriedensbruch, Plünderei und Körperverletzung, 3 Dienstkartenaushändigungen, 66 verletzte Polizeibeamte, davon verbleiben 63 im Dienst, 2 Beamte vom Dienst abgetreten, 1 Dea stationär im Urban-Khs, 35 z. t. erheblich beschädigte Pol.-einsatzfahrzeuge, abhandengekommene Ausrüstungsgegenstände: 5 Gasschutzbrillen, 3 Antennen fug 10, 1 Kripodienstmarke, 1 Pol.-Melderschlüssel, 2 Anhaltestäbe, 2 Schutzschilde, 4 Handfesseln, 5 Schlagstöcke, 1 Stahlhelm, 1 Schutzhelm, 1 Dienstmütze, 5 Taschenmesser, 6 Kombiwerkzeuge, 17 Taschenlampen, 18 Paar Handschuhe, 1 Schulterklappe.

Es war schon Abend, als Guido W. telefonisch davon erfuhr, daß am Fraenkelufer Häuser geräumt wurden. Zusammen mit einem Freund beschloß er, sich die Sache anzusehen. »Es war nicht allein Neugier, sondern wir waren der Ansicht, daß es schon eine Menge bringt, wenn viele Leute da sind. Wir haben nicht damit gerechnet, daß es dort Randale geben könnte. Das war relativ neu.«

Gegen halb zehn Uhr setzte sich Guido in die U-Bahn und fuhr zum Kottbusser Tor. Die Eingänge auf der einen Seite der Station waren abgesperrt. Guido machte einen Bogen und verließ den U-Bahnhof auf der anderen Seite. Anfangs schien alles ruhig, er konnte weder Polizei noch Demonstranten entdecken. Doch als er dann die Straße Richtung Fraenkelufer hinunterging, sah er, daß die Scheiben der umliegenden Banken und einiger größerer Geschäfte zerstört waren. Er konnte einige Leute beobachten, die mit Lebensmitteln bepackt durch die zersplitterten Scheiben eines »Aldi«-Supermarktes ins Freie kletterten.

Guido schlenderte weiter, bis er auf der Straße einen Freund traf, der in der Nähe wohnte. Beide gingen in dessen Wohnung, von der aus sie die Szenerie überschauen konnten. In der Adalbertstraße war eine »Barrikade« aufgebaut, die allerdings lediglich aus einigen Brettern und Tonnen bestand, die ein geschickter Autofahrer leicht hätte umfahren können. Sie beobachteten, wie die Polizei diese Sperre wegräumte und dabei mit Steinen beworfen wurde. Die Demonstranten hatten sich in kleinen Grüppchen über das ganze Gebiet verteilt, insgesamt, so Guidos Beobachtung, vielleicht hundert Leute, Schaulust von einer Menge Schaulustiger. In diese wollten sich Guido und sein Freund einreihen, außerdem wollten sie in einer Kneipe ein Bier trinken und sich zur Lage informieren. Doch gerade als sie das Haus verlassen wollten, brach das Chaos aus. Ein paar »Wannen«, Mannschaftstransporter der Polizei, bogen um die Ecke und wurden mit Steinen beworfen. Die grünen Kleinbusse stoppten abrupt und Beamte sprangen mit gezogenen Holzknüppeln heraus. Demonstranten, Steinewerfer und Schaulustige rannten davon. Die Polizisten hinterher.

Guido W. rannte, so schnell er konnte, doch eine Gruppe von Polizisten blieb ihm dicht auf den Fersen. Da versuchte er, sich in einen Hausflur zu retten. Er stürmte die Treppen hoch, aber zwei Polizisten folgten ihm. Im vierten Stock war die Flucht schließlich zu Ende. Es ging nicht mehr weiter. Die beiden Polizisten holten Guido ein und nahmen ihn fest. »Ich habe keinen Widerstand geleistet, das war auch ziemlich sinnlos, denn die Polizisten waren ziemlich groß und stark. Die haben mich dann gepackt und die Treppen runtergezerrt, und während es treppab ging, haben die Beamten mit ihren Knüppeln auf mich eingeschlagen. So ging das bis iris Erdgeschoß. Da haben sie aufgehört zu knüppeln, weil Leute zusahen. Ich hatte Prellungen und Platzwunden am Kopf. Anschließend haben sie dann gesagt, ich hätte mit Steinen geworfen, aber das haben sie sich voll aus den Fingern gesogen. Sicher, da unten sind Steine geflogen, ich hab das auch gesehen, wie ein Polizist einen Stein an die Schulter bekommen hat. Das muß auch ziemlich wehgetan haben. Ich bin es aber nicht gewesen, der diesen oder einen anderen Stein geworfen hat. Ich sah das so: Nach meiner Festnahme hatten sie einen, und der mußte es dann auch gewesen sein.«

»Ich habe auch bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet. Aber das scheint irgendwie dazuzugehören. Wer festgenommen wird, leistet auch Widerstand. Das ist schon so richtig eine Floskel wie >Guten Tag< oder so. Ich hab mich einfach auf den Boden gelegt und weder gestrampelt noch sonst irgendwas.«

Guido W. wurde also in die Gefangenensammelstelle gebracht, später ging's zum Haftrichter und schließlich nach Moabit ins Gefängnis.

»Beim Haftrichter hat es etwa 10 Minuten gedauert, den Haftbefehl hatten sie weitgehend vorgedruckt. Das ging ruck-zuck.«

Da saß Guido W. also in seiner Zelle.

»Erst habe ich gedacht, es könnte nicht sehr lange dauern, denn ich habe ja gar nicht gewußt, was die mir nun konkret vorwerfen. Andererseits habe ich dann auch gedacht, das mit dem Studium könnte ich jetzt erst mal vergessen, denn man mußte ja mit dem Schlimmsten rechnen.

Ich finde, drinnen ist die Zeit schneller vorangegangen als draußen, weil ja nichts passierte. Ein Tag war wie der andere. Das Gefängnis ist wie ein kleines Leben. Wir haben auch gelacht, die anderen und ich. Man kann ja schließlich nicht die ganze Zeit mit 'ner Wut im Bauch herumlaufen. Oder böse aus der Wäsche gucken, das kann ich eigentlich nicht.

Schließlich, einige Wochen später, der Prozeß vor dem Schöffengericht. Das erste Landfriedensbruch-Verfahren gegen einen »Hausbesetzer«, gegen einen »Krawallmacher«, gegen einen »Randalierer«. Guido Weitz fand sich mit seiner Rolle ab, was hätte er auch anderes tun können. Der Zuhörerraum war voll besetzt - ein großes Aufgebot an Journalisten, viele Rechtsanwälte, die sich aus dem Prozeß Anregungen für folgende Strafverfahren dieser Art holen wollten.

Es folgte ein Aufmarsch von Zeugen und Polizeibeamten, die vorgaben, Guido W. beim Steinewerfen beobachtet zu haben.

Zeuge Nummer eins, Horst R., 20 Jahre alt, Polizeibeamter:

»Ich konnte nur sehen, wie er Steine auf das Polizeifahrzeug warf. Ob er den Stein auf mich geworfen hat, habe ich nicht gesehen. Er stand in einer Personengruppe. Er hatte ein blaues Halstuch an. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Die Gruppe war etwa zehn Personen stark. Wir saßen im Fahrzeug und waren ca. 15 Meter entfernt. Als ich aus dem Fahrzeug trat, traf mich der Stein von hinten. Ich hatte Prellungen und Schürfwunden. Ich habe nicht gesehen, wie er den Stein geworfen hat. Ich habe Herrn W. erst wieder im Wagen gesehen...«

Auf Befragung erklärte der Zeuge: »Ich konnte die Person nur anhand des blauen Halstuches erkennen. Das ist das, was ich weiß.«

Und etwas später: »Die Aussagen waren von den Kollegen beeinflußt, möchte ich sagen. Das, was ich vorher sagte, ist das, was ich mitbekommen habe. Ansonsten war ich damals verbittert, weil ich den Stein abbekommen habe.« Zeuge Nummer zwei: Hermann L., 42 Jahre, Polizeibeamter:

»Ich habe nicht gesehen, daß er den Beamten mit einem Stein beworfen hat. Er hat nur den Wagen beworfen, das habe ich gesehen. Er trug ein braunes Halstuch. Es war der .Wagen vor mir. Dies war beim Abbiegen von der Adalbertstraße zur Oranienstraße. Er stand dort unter der Laterne an der Straßenecke. Dort stand er mit vier bis fünf Personen in der Gruppe. Dann klatschte der Stein auch schon gegen unser Fahrzeug, vorher bückte er sich. Er hatte ein ' beigebraunes >Palästinensertuch<.«

Zeuge Nummer drei: Anton S., 25 Jahre, Polizeibeamter: »Ein Stein flog auf mich zu, verfehlte mich, traf aber den neben mir stehenden Kollegen. Dieser schrie auf. Geworfen wurde ein Mosaikstein. Ich erhielt den Auftrag, den Steinwerfer zu verhaften. Ich verfolgte die Person bis in ein Haus zum vierten Stock, wo ich ihn festnahm. Ich habe mir die Person gut merken können, da die Person ein Tuch, über den Hals geschlungen hatte. An die Farbe des Tuches kann ich mich nicht erinnern...«

Zeuge Nummer vier: Klaus-Dieter S., 27 Jahre alt, Polizeibeamter:

»Den Stein auf Herrn R. schmiß er im Stehen. Er war zu diesem Zeitpunkt eine Einzelperson. Die örtliche Trennung von der flüchtenden Gruppe betrug fünf bis zehn Meter. Ich befand mich unmittelbar am Fahrzeug. Ich war gerade ausgestiegen. Da sah ich, wie er den Stein schmiß. Es ist noch eine Frau bzw. ich glaube noch zwei männliche Personen in das Haus gelaufen. Nur Herr W. ist bis zum vierten Stock gelaufen. Mein Kollege bekam Fußtritte und ich einen Tritt gegen das Schienbein. Davon zog ich eine Prellung davon. Herr W. mußte sich hinlegen, und wir führten ihn dann ab. Ich konnte ihn anhand des Tuches, der Lederjacke und der Tatsache heraus erkennen, daß er Bartträger ist... Meines Erachtens war es ein schwarz-weißes Tuch.«

Welche Farbe hatte das Halstuch, an dem Guido W. »mit Sicherheit erkannt« worden war, nun wirklich? Es war rot-weiß kariert und wurde dem Gericht von Guidos Anwälten vorgelegt.

Doch wer erwartet hätte, daß damit die Anklage ins Wanken geraten würde, hatte sich getäuscht. Ob blau, schwarz, braun oder rot-weiß: Als Halstuchträger wurde weiterhin Guido W. identifiziert.

Das Urteil in der ersten Instanz lautete: Guido W. wird wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vierzehn Monaten verurteilt.

Weder die möglichen Farbvariationen sogenannter Palästinensertücher, noch die Halstuchmode in der Szene überhaupt und schon gar nicht das Eingeständnis des Zeugen R., seine Aussage sei von Kollegen beeinflußt worden, führten dazu, das Gericht nachdenklich zu machen. Der Gedanke, daß möglicherweise die gesamten, zum Teil recht detaillierten Aussagen der übrigen Beamten auf ähnliche Weise zustandegekommen und zumindest anzweifelbar seien, kam denen, die sich der objektiven Wahrheitsfindung verpflichtet haben, offenbar nicht.

Zum Problem des buntschillernden Halstuches nahm das Gericht denn auch'mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit Stellung:

»Zwar konnte keiner der angegebenen Zeugen eine genaue Beschreibung des Halstuches, insbesondere der Farbe des Halstuches, das der Angeklagte getragen hatte, geben. Es ist auch offenkundig, daß Palästinensertücher von einer großen Anzahl gerade auch junger Menschen getragen werden. Allen drei Zeugen ist jedoch die Person, die sie beobachtet hatten, gerade deshalb aufgefallen, weil sie überhaupt ein Halstuch trug.«

Nachdem das Gericht Guido W. auf diese Weise eindeutig als Steinwerfer identifiziert'hatte, konnte es zur Begründung des hohen, nicht auf Bewährung ausgesetzten Strafmaßes schreiten:

»Zu Lasten des Angeklagten wertet das Gericht jedoch, daß dieser mit einer erheblichen Intensität vorgegangen ist. Der Angeklagte hat nicht nur einmal, sondern zweimal mit Steinen geworfen. Zu Lasten des Angeklagten würdigt das Gericht auch, daß dieser es nicht bei der Gewalt gegen Sachen hat bewenden lassen. Vielmehr hat er auch die Gewalt gegen Menschen billigend in Kauf genommen. Wenn auch das Gericht dem Angeklagten zugute hält, daß er die Wohnungspolitik in Berlin als verfehlt angesehen haben mag und dagegen protestieren wollte, so muß dem Angeklagten doch deutlich vor Augen geführt werden, daß die Art seines Vorgehens Straftatbestände erheblichen Gewichtes erfüllt.«

Nach fünfeinhalb Monaten Haft wurde Guido W. auf freien Fuß gesetzt. Seinen Job hatte er inzwischen verloren. Doch plötzlich gestaltete sich das Verhältnis zu seinen Eltern besser als je zuvor. Seine Mutter, die bis dahin noch niemals in Berlin gewesen war, hatte ihn an die zehnmal im Gefängnis besucht. Selbst sein Vater war zweimal dort gewesen.

Vor allem hatte sich sein Verhältnis zur Besetzerszene grundlegend geändert. Sein Name war plötzlich bekannt,er war plötzlich zu einer Symbolfigur der Hausbesetzer geworden. Ein besetztes Haus wurde nach ihm benannt. Guido W.: »Das Haus, das nach mir benannt wurde, ist nur ein kleines Hinterhaus. Ich bin auch nicht danach gefragt worden, oh ich damit einverstanden bin. Aber ich fand das echt lustig.«

Und nun erst fühlte er sich wirklich der Hausbesetzerszene zugehörig: »Durch meine Prozeßgeschichte habe ich jetzt einen ganz guten Kontakt zu den Leuten gefunden. Ich bin näher an die herangerückt. Ich bin halt ziemlich bekannt geworden, dafür kann ich nichts. Und irgendwie haben mir die Leute, die wissen, wer ich bin, viel Solidarität entgegengebracht. Es gibt kein Mißtrauen. Wenn ich in irgendein Haus rein komme, um einen Bekannten zu besuchen, dann freuen sich die Leute, mich zu sehen. Ich hab dadurch unheimlich viel Solidarität gespürt. Das hat mir viel gebracht. Es gibt sicher Leute, die das nicht ausgehalten hätten in dem Prozeß, daß da so die Unwahrheit gesagt wird. Aber ich, ich bin da ganz ruhig sitzengeblieben, es wäre von minderer Bedeutung gewesen, wenn ich da aufgestanden wäre. Die Wut der Polizisten kann ich vielleicht verstehen, aber nicht das mit den Aussagen. Das kann ich echt nicht begreifen. Und dafür kann ich auch keine Entschuldigungen gelten lassen. Auf deren Aussagen hin mußte ich ja in den Knast gehen.

Das kann ich nicht akzeptieren, wenn die sich vielleicht nicht sicher sind, jemanden aber trotzdem belasten. Möglich, daß die auch unter irgendeinem Erfolgszwang stehen, aber das ist mir scheißegal, dafür will ich nicht in den Knast. Verändert hat sich bei mir, daß ich für diesen Staat nichts mehr tun werde. Was hier abläuft ist eine derart repressive Geschichte gegen Andersdenkende, immer hinter dem vorgehaltenen heuchelnden Wort von der Meinungsfreiheit. Die gibt es nicht mehr. Das ist mir irgendwie klar geworden. Im nachhinein hab ich mich schon richtig geärgert, daß ich nicht tatsächlich mit Steinen geworfen habe, dann hätte es wenigstens einen Grund für meine Festnahme gegeben. Aber so habe ich fünfeinhalb Monate für nichts eingesessen und muß möglicherweise auch noch wieder zurück ins Gefängnis.

Das alles hat dazu geführt, daß ich mich erst wirklich dazugehörig fühle. Erst jetzt fühle ich mich wirklich als Teil der Hausbesetzerbewegung. Vorher war ich so ein Außenstehender.«

Sechs Monate nach der Krawallnacht am Fraenkelufer wurde in zweiter Instanz, vor dem Landgericht, gegen Guido W. verhandelt. Das Urteil von 14 Monaten ohne Bewährung blieb bestehen. Nur die Begründung hatte sich geändert. Der Richter glaubte all jenen Zeugen nicht mehr, die gesehen haben wollten, wie Guido W. den Stein auf einen Polizisten warf. Dieser Vorgang wurde schlicht unter den Teppich gekehrt. Dennoch wurde das harte Strafmaß, das in erster Instanz ja vor allem damit begründet wurde, daß W. sich nicht mit »Gewalt gegen Sachen« begnügt hatte, sondern auch »Gewalt gegen Personen« ausgeübt hatte, nicht reduziert.

In der mündlichen Urteilsbegründung sagte der vorsitzende Richter; besonders schwerwiegend sei beim Landfriedensbruch das gewaltsame Vorgehen einer Menschenmenge gegen Sachen und Menschen. Mit seinen Steinwürfen hätte sich der Angeklagte mit dieser Menge identifiziert. Nicht nur das Unrechtsverhalten des einzelnen stünde vor Gericht, sondern auch dessen Mitverantwortung für die gesamte Gruppe. Im übrigen seien die Ereignisse vom 12. Dezember kein einmaliges Ereignis, sie hätten sich seitdem wiederholt. Dieser Entwicklung solle Einhalt geboten werden. In den Medien seien diese Vorfälle mit Sympathie beurteilt worden, aber sie seien in Wirklichkeit nichts anderes als die Verwirklichung eines Aggressiohsbedürfnisses. Wenngleich man dieses dem Angeklagten nicht vorwerfen könne, so gälte es hier dennoch strafverschärfend.

Im Klartext: Bei dem Delikt Landfriedensbruch wird kein individuelles Verhalten bestraft. Es bedeutet Kollektivschuld, nach dem alten »rechtsstaatlichen« Prinzip »Mitgefangen - mitgehangen«.

Wolfgang Panka, einer von Guido W.s' Verteidigern, sagte nach der Urteilsverkündung:

»Dies ist kein Urteil, das sich mit der individuellen Hauptverhandlung gegen Guido W. beschäftigt. Das ist ein Urteil über Demonstrationen, Hausbesetzungen, Steinwürfe, Krawalle insgesamt.«

So werden Straftäter produziert.

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