»Befreit Grönland vom Packeis.«

Paul Parin


 Zur Züricher Unruhe 1980

»Mached us em Staat Gurkesalat«, »Lieber blutt (= nackt) als kaputt«, »Ohne Polizei kein Krawall«, oder, wenn eine verbotene Demonstration an Polizisten vorbeizieht, die auf ihren Einsatz warten: »Gebt der Polizei Samstag/Sonntag frei«. Das sind Parolen der »Zürcher Unruhe« im Frühsommer 1980.

Die Protestbewegung ging auf die Straße, als die traditionellen Theaterfestspiele am 30. Mai mit einer Galavorstellung im Opernhaus eröffnet wurden. Eine Woche später sollte eine Volksabstimmung darüber entscheiden, ob die Stadt einen Kredit von mehr als 60 Millionen Schweizer Franken für die Renovation des Opernhauses bewilligen dürfe. Vor der Vorstellung versammelten sich etwa 200 Jugendliche in ausgelassener Stimmung, versehen mit Spruchbändern, vor dem Eingang der Kunststätte, hinderten die Besucher hineinzugehen und wollten mit ihnen, angeblich etwa eine halbe Stunde lang, darüber diskutieren, warum die Stadt ein seit zehn Jahren versprochenes »autonomes Jugendhaus« als Treffpunkt und Kulturzentrum noch immer nicht bereitgestellt habe. Geeignete Gebäude (die »Rote Fabrik«, die »Fabrik Limmatstraße 18/20«) stehen leer, und es sind ungleich bescheidenere Geldmittel nötig, um sie instand zu setzen. Ein Kontingent Polizisten, mit Helmen und Schilden bewehrt, war im Innern des Opernhauses verborgen. Die Polizisten stürmten heraus, kämpften den Eingang frei und trieben die Jugendlichen, die bald zu fliehen anfingen, gegen die innere Stadt. Pflastersteine flogen in die Scheiben der Oper und in die Schaufenster etlicher Geschäfte und Gaststätten. Die Polizei rückte mit Verstärkung an, schnitt Fluchtwege ab, setzte Tränengas und Hartgummigeschosse ein. Es tobte ein regelrechter Kampf. Es gab mehrere Leichtverletzte auf beiden Seiten. Später in der Nacht wurden Läden mit HiFi-Geräten, Pelz- und Modegeschäfte, ein Spirituosenladen geplündert, wurden Waren vielleicht auch gestohlen, jedenfalls aber öffentlich vernichtet: Schnapsflaschen wurden zerschlagen, Pelze und Kleider zerschnitten, teure Plattenspieler in Abfallkübel und in die Limmat geworfen. Die Polizei konnte das nicht verhindern. Die Presse spricht noch heute von den »Opernhauskrawallen«, obwohl das Volk den Kredit für den Opernumbau bewilligt hat und die Junifestspiele längst zu Ende sind. Die Jugend hat durch Vermittlung der Sozialdemokratischen Partei endlich die »Fabrik Limmatstraße 18/20« bekommen - mit einem Mietvertrag, der eine viertägige (!) Kündigungsfrist vorsieht, und mit einem unzureichenden Kredit für die Instandsetzung. Aber die Bewegung geht weiter, die Unruhe hat der Ruhe noch nicht Platz gemacht.

An den ersten Demonstrationen waren vorwiegend Lehrlinge, Schüler, junge Arbeiter und Arbeitslose und nur wenige Studenten beteiligt. Die Bewegung griff nur für kurze Zeit auf die Universität über, weil in den ersten Tagen der Erziehungsdirektor des Kantons Zürich (der Minister für Unterricht), Dr. Alfred Gilgen, von einem Ethnologieprofessor verlangt hatte, der Regierung einen Videofilm »zuzustellen«, den das Seminar für Medienforschung während der Straßenszenen aufgenommen und den Betroffenen auszugsweise vorgeführt hatte, und Professor Lorenz Löffler sich weigerte, diesen Film abzuliefern. Anscheinend spielen heute in Zürich die Ethnologiestudenten in den Augen der Öffentlichkeit eine ähnliche Rolle wie 1968 die Soziologen.

Die bisher eindrucksvollste Demonstration, die vom 21. Juni, war für »alle Unzufriedenen« angesagt und von der Polizei strikt verboten worden. Der Zug wuchs auf etwa 7000 Teilnehmer an, führte während vieler Stunden durch alle wichtigen Straßen der Stadt und verlief friedlich, nachdem die Polizei ihre bereitgestellten massiven Kräfte im letzten Moment zurückgezogen hatte.

Vieles erinnert an die 68er Bewegung, vieles ist jedoch anders. Je näher man hinsieht, desto geringer ist die Ähnlichkeit. Als Zeitereignis ist das, was jetzt »Züricher Unruhe« (Gruppe Olten, 1980) heißt, nicht sehr gewichtig. Die Maßnahmen der Behörden, die erregten Affekte, die öffentlichen Stellungnahmen, Deutungen und Erklärungen charakterisieren die Bewegung als »Kulturkampf«, als Symptom unserer Lebensverhältnisse. Dazu sollten, wie ich meine und betont habe, auch die Psychoanalytiker Stellung nehmen (Parin, 1978). Aber wie? Eine psychoanalytische Deutung könnte nur von einer genauen Schilderung der Ereignisse und einer Analyse von Betroffenen ausgehen. Das ist jetzt nicht möglich. Statt dessen will ich diskutieren, welche Vermutungen, welche Hypothesen man bereits jetzt wagen kann und welche Deutungen in die Irre führen müssen.

Wenn ich auf die psychoanalytisch orientierte Literatur über die Bewegung der sechziger Jahre zurückblicke, scheint mir, daß damals viel »wilde« Psychoanalyse (S. Freud, 1910) gerieben worden ist. Freud warnte seinerzeit davor, ungenügend verstandene Einsichten der Psychoanalyse vorschnell anzuwenden und darüber die konkreten Lebensverhältnisse und die bewußte Einstellung von Patienten zu vernachlässigen. Gerade dies ist damals allzu oft passiert. Dafür ein einziges Beispiel, das der Autor selber korrigiert hat. Gerard Mendel hat in einer »soziopsychoanalytischen Studie«, die 1969 erschien, die »Generationskrise auf eine Formel« gebracht. Er geht von der Frage aus, ob und wie der ödipale Konflikt bei der jungen Generation verarbeitet worden ist, dann entwickelt er ein Konzept über die unbewußten Tendenzen, die aus der kollektiv wirksamen Verarbeitung des Familienraums entstehen, und versucht schließlich, diese mit der Wirkung bekannter Zeiterscheinungen (Industrialisierung; Kosumgesellschaft) zu verbinden. Das Ergebnis ist, trotz aller Mühe, die sich der Autor gegeben hat, eine psychologische Erklärung der Protestbewegung: Diese Generation habe bestimmte psychologische Bedürfnisse, die in den Ereignissen ihren Ausdruck finden. 1972 hat er seinen Irrtum bemerkt. Er entwirft eine Theorie der in politischen und ökonomischen Institutionen wirksamen Kräfte, die ganz bestimmte, bewußte und unbewußte Mechanismen in Gang gesetzt haben. Jetzt sucht er die Ursache des Protests in den Machtverhältnissen, wo man sie suchen muß, wenn man nicht annehmen will, daß historische Bewegungen auf »Erfindungen« der aus dem Unbewußten wirkenden Seelenkräfte zurückgehen. Ob man Mendels zweiter Argumentation folgen kann oder will: Sie entspricht der unbestrittenen Regel, daß der Psychoanalytiker von der psychischen Oberfläche, von der Wahrnehmung der Realität, also vom Ich ausgehen muß, wenn sich seine Konstruktionen nicht in der dünnen Luft unüberprüfbarer Spekulationen verlieren sollen. Allerdings muß man dazu jede »Konfliktfreiheit« des Ichs in Frage stellen und auf die ältere Freudsche Lehre zurückgreifen, wonach das Ich die Stätte von Konflikten zwischen Es, Realität und Über-Ich ist.

Ich meine, daß man so zu historischen Ereignissen analytisch Stellung nehmen kann, ohne in die Irrtümer »wilder« Psychoanalyse zu verfallen. Geht man von der »psychischen Oberfläche« aus, kann man auch am ehesten der Einsicht Adornos (1946) Rechnung tragen: »In der bestehenden Verfassung des Daseins gehen die Beziehungen zwischen den Menschen weder aus ihrem freien Willen noch aus ihren Trieben hervor, sondern aus sozialen und ökonomischen Gesetzen, die sich über ihre Köpfe hinweg durchsetzen.« Obzwar die Bewegung der Jugend sich in Zürich an einem nur für die Stadt bedeutsamen Anlaß entzündet hat, steht sie doch in einer Reihe von ähnlichen Ereignissen: Protest gegen die feierliche Vereidigung von Rekuten in Bremen; Demonstration der »Kraaker« anläßlich der Krönung der neuen Königin in Amsterdam; Häuserbesetzungen in Freiburg i. Br. Militärparaden, feierliche Krönungen und festliche Abende in der Oper sind Symbole bürgerlicher Macht-und Prachtentfaltung, die nicht in die heutige Zeit passen, sondern für das 19, Jahrhundert typisch sind.

Ein Mangel an billigen Wohnungen herrscht zwar auch in Zürich. Proteste dagegen und Versuche, die Stadtverwaltung zu veranlassen, zum Abbruch bestimmte Häuser zur Miete freizugeben, waren hier die einzigen Vorzeichen sozialer Unruhe. Da gab es z. B. die Aktion »Renovieren statt demolieren«, bei der Jugendliche solche Häuser tatkräftig zu renovieren begannen, worauf die Behörde keine andere Reaktion fand, als die fröhlichen Handwerker verhaften zu lassen.

Eine erste Vermutung ist, daß Symbole etablierter Macht, die kraß hervorstechen, weil sie aus einer anderen Zeit stammen, die Artikulation eines bis dahin latenten Protests gestattet haben, während die bürokratisch verbrämte, geschlossene und nicht sichtbare Macht der heute etablierten Strukturen nicht »besetzt«, also nicht ebenso leicht zum Ziel alloplastischer Ichstrebungen genommen werden kann. Während ich diese Zeilen schreibe, überholen mich die Ereignisse. Kann man als Analytiker deuten, solange Aktionen vor sich gehen, deren Hintergründe man erraten will? Am Samstag, den 12. Juli hatte die bewegte Jugend vor, wiederum eine unbewilligte Demonstration zu veranstalten, um die Aussetzung der laufenden Gerichtsverfahren gegen Teilnehmer früherer Proteste zu verlangen. Nur etwa 250 Jugendliche versammelten sich im neuen Jugendhaus; die Ferienzeit war inzwischen angebrochen. Die Polizei löste den sich bildepden Zug nach einminütiger Warnfrist mit Hartgummigeschossen, Wasserwerfern und Tränengas innerhalb von fünf Minuten auf. Dann aber belagerte sie das von den Arbeitsgruppen der Autonomen bereits renovierte Jugendhaus stundenlang, betrat es zwar nicht, schoß aber mit Tränengas hinein, bis es ganz vergast war, beschoß es massiv mit Wasserwerfern, so daß die Innenräume verwüstet wurden, und verfolgte Gruppen von Jugendlichen, die sich in die Innenstadt geflüchtet hatten und dort Ablenkungsmanöver versuchten. In den Gäßchen der Altstadt wurde die Menschenjagd mit brutalen Angriffen bis in die Morgenstunden des Sonr4ag fortgesetzt. Es gab einige schwere und viele leichtere Verletzungen bei Demonstranten; 124 von ihnen wurden verhaftet. Und natürlich flogen, mit der Zeit wieder Steine und Flaschen gegen die Polizei, wurden rudimentäre Barikaden errichtet, Scheiben eingeschlagen und einige Geschäfte verwüstet. Eine erste Deutung dieses Geschehens ist nicht schwer. Sie ist allbekannt. In der BRD fand man dafür die Formel: »Der Stein bestimmt das Bewußtsein.«

Aber zurück zu der relativ undramatischen Phase und zu unseren Deutungsansätzen. Wir waren bei den auslösenden Symbolen. »Packeis« ist das Symbol für den Staat, die Arbeits- und Geldwelt mit ihren Banken, Fabriken, Schulen und Bürokratien, die Zürich zudecken wie ein Naturereignis, kalt und unverrückbar, lückenlos. Kann man den Staat zerschlagen? Nein. Aber wenn man ihn zu »Gurkensalat« zerschleißt, ihn mit Salz, Essig und dem Öl des Witzes anrichtet, wird er vielleicht genießbar. Man könnte einwenden: Die unbedarften Massen skandieren Sprüche, die keinen Sinn haben, deren Sinn sie nicht verstehen. Erst meine Deutung unterstelle ihnen den Sinn. Dagegen gibt es Argumente. Während der langen Demonstration am 21. Juni wurden die Slogans für Sprechchöre allmählich langweilig. Als »action research« erfand ich einen neuen: »Autonomie, jetzt oder nie!« Das paßte im manifesten Sinn vorzüglich, es ging ja weniger um das Jugendhaus als um die autonome Führung durch die Jungen selbst. Vox populi nahm den Spruch auf, skandierte ihn im Rhythmus immer lauter und ließ ihn nach weniger als drei Minuten wieder fallen! Warum? Er enthielt nichts vom tieferen Sinn, der die Bewegung ausmacht. Er vermittelte in Form und Rhythmus etwas, das für die 68er typisch war und hier und heute nicht mehr gilt: zielgerichtete und konkrete, also im engeren Sinn politische Aktion. (Reden von Marxisten-Leninisten und ähnlich argumentierenden jungen »Genossen« werden bei den Vollversammlungen regelmäßig ausgelacht und, wenn sie zu lange dauern, zum Schweigen gebracht.) Noch direkter ist an szenischen Darstellungen abzulesen, daß und wie Symbole verstanden werden. Als man Studenten beschimpfte, ihr Vorgehen sei infantil, holten fünfzig von ihnen Sand in den Lichthof der Uni und mimten, mit Schürzchen und bunten Lätzchen angetan, stundenlang lustvoll einen Kindergarten. Einige Professoren, wohl ohne Sinn für Ausdruckskunde, meinten, die seien wirklich blöde wie Vierjährige. An einem Abend zog eine Gruppe von Burschen und Mädchen splitternackt durch die Innenstadt unter dem Slogan: »Nackt gegen die Gewalt«. Die poetische Metapher wurde szenisch dargestellt; auf die Hinterseite, die sie den mehr belustigten als empörten Zuschauern entgegenstreckten, hatten so manche das A der Anarchie gemalt.

So mutig, spielerisch und selbstbewußt die jungen Leute auch auftreten, der Humor hat immer einen düsteren Beiklang; die Angst, die sie haben, wird nicht verdrängt, sie reden darüber und tragen sie mit Gesten zur Schau. Jeder neue Einfall, so sehr man darüber lachen muß, erinnert an die lustigen und makabren Nummern trauriger Clowns. So verstehen sie sich untereinander, ohne lange zu reden, und wer will, kann ihre Sprache, die ausdrückt, daß sie nicht ins Gespräch kommen, nachvollziehen.

Denn die Verkehrsformen sind andere geworden. In unserer Abstimmungsdemokratie, in der man reden und abstimmen kann, so viel man will, und in der sich seit Generationen am dichten Gefüge anonymer Machtgruppen nichts geändert hat, ist die Form des Gesprächs obsolet geworden. Der Slogan »me muess rede mitenand«, den schon in den fünfziger Jahren eine rechtsstehende Pressuregroup gepachtet hatte, ist nicht nur lächerlich geworden. Gespräch bedeutet für die, die heute protestieren, Korruption, Verrat an der Sache der Freiheit, individuelle Resignation anstelle solidarischer Aktion.

Wenn man von einem narzißtischen Rückzug aus der Politik sprechen wollte, könnte man die neue Organisationsform solidarischer Gruppen, die ohne die herkömmliche organisatorische Strukturierung auskommen und sich mit ständig wechselnden und spielerisch austauschbaren Feindbildern ein großes Aktivitätspotential nach außen bewahrt haben, nicht erklären. Auch die »depressive Position« kann hier nicht vorherrschen. Die Gesamtsituation ist zwar düster bis hoffnungslos, die Reaktion darauf aber (bisher) voll von Phantasie, Humor und trotz der gleichbleibenden Gesamtrichtung, von ständig wechselnder Bewegung. Dies muß den Kenner der deutsch-schweizerischen Sozialisationspraktiken, der gehemmt-schwerblütigen Art unserer Bevölkerung aufhorchen lassen. Handelt es sich um einen kompensatorischen Gruppenprozeß? Die wechselseitige Identifikation von Menschen beiderlei Geschlechts, die in der gleichen Lage sind, die sie einschränkt und bedroht, aber doch nicht lähmt, weil sie genügend Freiraum finden, ermöglicht die Kompensation für Frustrationen aber nur, solange die Kommunikation in der Gruppe gewährleistet ist. Es scheint, daß da ein psychologisch echter Anarchismus entstanden ist. Ni dieu, ni roi. Das Über-Ich draußen ist abgebaut; es wird keine Aggression frei. Es gibt kaum Sündenböcke; selbst die Polizei soll sonntags frei haben... Allerdings schlägt man schließlich zurück, ehe man ganz zusammengeschlagen wird, schert sich dann nicht mehr um »Bonzen« und »Bullen« (die in Zürich »Schmier« (!) heißen) und geht wieder seinen eigenen Bedürfnissen nach. Das Ich ist auch von analen Reaktionsbildungen entlastet. Allerdings kann diese solidarisch-identifikatorisch wirksame Ich-Stärkung ohne jeden Führer und ohne strikte Ideologie nur um den Preis aufrechterhalten werden, daß jeder anal-reaktive Ansatz, jeder Versuch einer inneren Organisation der Gruppe (der erste Schritt zur Bürokratisierung) vermieden wird. Bezeichnend genug, daß die Behörden wochenlang den Konflikt auf eine einzige Frage zuspitzten: »Wir wollen euch ja gerne alles geben und gewähren, nach unseren Möglichkeiten, wenn ihr nur Verantwortliche ernennt, Delegierte wählt, verhandelt und Verträge mit uns abschließt.« Aber gerade das wurde verweigert. Das ist leicht zu verstehen; es widerspricht nicht nur dem anarchistischen Modell, das die jungen Beteiligten historisch wohl kaum kennen, das ihnen aber psychologisch frommt. Was die Behörden wollen, ist ihnen vielmehr zuwider, weil es Leistungsdruck, anal-hierarchische Struktur und die Abwehr von zielgehemmten, spielerisch-beweglichen Gratifikationen in ihr Ich zurückbringen würde, denen sie real ohnehin lückenlos und flächendeckend ausgeliefert sind und die Schule, Elternhaus und Berufsleben zudem in ihrem psychischen Apparat verankert haben. Die psychosoziale Organisation der Macht ist der eigentliche Feind, drinnen und draußen. Für Nichtanalytiker ist das kaum zu verstehen. Wie kann man gegen etwas so schwer Definierbares kämpfen, das drinnen und draußen gleichzeitig ist, das sich zwar symbolisch ausdrückt und die Realität strukturiert, selbst aber keine materielle Realität mehr ist oder keine zu sein scheint.

Zur Frage, warum denn die Jungen nur alle zusammen mit den Behörden verhandeln wollen und warum sie keinen Delegierten wählen und anerkennen, meinte ein Psychoanalytiker - in »wilder« Analyse -, daß sie einen Mangel an Urvertrauen hätten: Nicht einmal einem der ihren, und sei es einer oder eine der besten, schenkten sie ja genug Vertrauen. Sie seien von paranoischem Mißtrauen geprägt.

Schon eine kurze Untersuchung einiger weniger zeigt, daß es sich umgekehrt verhält. Gerade diejenigen, deren gutes Selbstvertrauen, deren haltbare Objektbeziehungen usw. auf ein stabiles Urvertrauen hindeuten, wenden sich gegen die Ernennung von Delegationen und gegen eine hierarchische Strukturierung ihrer Bewegung. Mit Recht vertrauen sie auf die Solidarität in der freien Gemeinschaft. Andere unter den Jungen aber, die ein niedriges Selbstgefühl und weniger gute und vertrauensvolle Beziehungen haben, wollten ihr Anliegen doch lieber durch gewählte Delegierte oder eine der bestehenden Parteien vertreten lassen. Ihr Urvertrauen ist gering, ihr Ich unterliegt Ängsten. Sie sind in ihrer Entwicklung gestört. Sie möchten einem starken Führer folgen.

Vielleicht wird man mir zugestehen, daß eine solche Ich- Analyse im Ansatz stimmt. Sie ist ja ohnehin unvollständig und bleibt auf die Aufklärung der psychischen Entwicklung und die Aufdeckung der ausschlaggebenden Konflikte zwischen Es-Strebungen und Abwehr angewiesen. Doch könnte die modernste Form der »wilden« Analyse einwenden: Das gestörte Selbst, der Sprung in der narzißtischen Entwicklung, der »neue Sozialisationstyp« (nach Th. Ziehe u. a.) erkläre das Verhalten einer Jugend, die sich so sehr der Gesellschaft der Erwachsenen und Arrivierten verweigert. Dies seien die traurigen Produkte einer »vaterlosen Gesellschaft«, sie seien einer kalten Welt wie einst ihren unempathischen Mßttern ausgeliefert und darum selbstbezogen, uninteressiert und verführbar.

Ich kann diesen Kritiken nicht rechtgeben. Doch habe ich bisher verschwiegen, daß ich viele der unruhigen jungen Menschen kenne, unter ihnen aber keine Person gefunden habe, die nicht an einer Identitätsstörung, wie sie Erik H. Erikson beschrieben hat, litte. Kein Jüngling und kein Mädchen, von den Teens bis weit hinein in die Twenties weiß, was in ihrem Leben geschehen soll, welcher Beruf mit Freude auzuüben, welche Ziele, Ideale, Utopien zu verwirklichen wären. Nichts können sie libidinös besetzen, auch wenn sie schon Lehrer, Bankbeamter, Arbeiter oder Schauspieler geworden sind; keine Ehe verspricht Zufriedenheit, Kinder- und Alterssegen; kein fertiger Arzt und kein werdender Jurist erlebt sich als Helfer der Leidenden, als Hüter des Rechts. Diese Unmöglichkeit, eine Erwachsenen-Identität zu finden, ist nicht die Folge ungenügender Besetzung des Selbst. Die Identität wird verweigert, weil die angebotene Zukunft, die möglichen sozialen Rollen bewußt abgelehnt werden. Das ist der Grund für die Ratlosigkeit, »wie es jetzt weitergehen soll, wo ich noch jung bin«. ein veralteter, zeitlich verplanter Alltag, die in technische und institutionelle Zwänge gefaßt entfremdete Arbeitswelt, das Dickicht der Städte, die Konsumgesellschaft mit ihrer repressiven Toleranz und den in der Verführung versteckten Zwängen, die Ausbeutung und Unterdrückung der Machtlosen, hier und anderswo, die Schädigung der Umwelt, die drohende Verarmung und endgültige Zerstörung unseres Planeten.

Die Zukunft ist nicht mehr attraktiv, bietet keinen Anlaß mehr für libidinöse Besetzung. Für diese bewegte Jugend gibt es keine vernünftig erfüllbaren Wünsche mehr und darum keine richtige Identität.

Diese Frage taucht am Problem der »Drogenwelle« immer wieder auf. Sicher zerstören Drogen die Zukunft des Süchtigen. Aber macht nicht eine zerstörte Zukunft, die anzutreten sich nicht lohnt, süchtig?

Man kann einwenden, die jungen Leute, selbst Akademiker, blickten doch nicht durch. Sie wüßten noch gar nichts von der Realität. Beim Warten auf die Demonstration stand man lange herum, bis in der Vollversammlung alle Rednerinnen und Redner sich dazu geäußert hatten, ob man ungehorsamerweise marschieren sollte oder nicht, und wenn ja, wohin und wie. In der Zwischenzeit fragte ich ein paar Leute. Ein junger Mann, wohl ein Lehrling, sagte: »Ich bin Feinmechaniker und habe Arbeit.« Ich: »Ein feiner Beruf.« Er: »Bis ich 40 bin, gibt's die Metalle nicht mehr, mit denen ich schaffe.« Ein anderer, sicher noch Lehrling, sagte zu seinem Kollegen: »Wenn wir heute gehen, fliegen wieder Pflastersteine.« Ich: »Was hältst du davon, das ist doch Gewalt?« Er: »Darauf kommt's nicht mehr an.« Und er zog aus der Tasche ein zerknittertes Blatt, einen Ausriß aus dem »Tagesanzeiger«. Ich solle lesen: »Das schwedische Institut für Friedensforschung hat berechnet, daß die in Europa gelagerten Atomwaffen genügen, um jede europäische Stadt x-mal auszuradieren.« - Kommt es da noch auf Pflastersteine an?

Auch der Ausweg in eine authentische Kreativität ist nicht offen. Das sagt ein Transparent, das sie herumtragen: »Wir sind die Kulturleichen der Stadt.« Es geht ja vorderhand um ein Kulturzentrum und Jugendhaus.

Die sechziger Jahre standen im Zeichen der Emanzipation. Gegen den Vietnamkrieg, den Schah, die Springerpresse, die Notstandsgesetze und für die Utopie. Die Mittel waren Organisation und Aggression.

Jetzt in Zürich geht es nur noch um Autonomie, um Ungehorsam gegen die Imperative einer unausweichlichen Zukunft, in einer geschlossenen Gesellschaft, deren Triebkräfte man nicht mehr personifizieren kann. Man kann einen Polizisten oder einen faschistoiden Unterrichtsminister nicht mehr mit Aggression besetzen, sondern nur noch kurz abwehren, ihn auslachen und sich dann eigenen Angelegenheiten zuwenden. Eine anarchistische Gegenwelt, die noch so lange überlebt, wie sie sich einig weiß in der Verweigerung. Grönland ist vom Packeis bedeckt. Wir wärmen uns am Feuerchen unserer Freundschaft und freuen uns an den Funken, die mal draus steigen. Aber glaubt uns, ihr Herren der Welt: »Wir haben Grund genug zum Weinen, auch ohne euer Tränengas«. (Transparentinschrift)

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