Nürnberg: »Die großen Lumpen schwer aufs Hirn hauen«


Sabine Rosenbladt

Sie haben ihre Stadtmauer wiederaufgebaut, die Nürnberger. Eine komplette, mittelalterliche Stadtmauer mit Türmen, Torbögen, Schießscharten, Wehrgängen. Meterdicke Mauern aus rötlichen Steinquadern. Im Krieg so gut wie total zerstört, wieder aufgebaut 1953, so erklärt ein Schild es den Touristen.

Ich kenne keine andere deutsche Großstadt, die sich Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine neue Stadtmauer zulegt. Warum? Wurde hier in eine angenehmere Vergangenheit zurückgebaut als die unmittelbare, die tausendjährige, deren Prunkbauten rings um den Stadtkern vor sich hin rotten? Nürnberg ist nicht freiwillig zur Stadt der NSDAP-Parteitage, der »Nürnberger Gesetze«, des »Stürmers«, der »Nürnberger Prozesse« geworden. Nicht so ganz jedenfalls: »Dabei«, so heißt es in einer Broschüre des städtischen Presseamtes zu diesem heiklen Thema, »spielte die Haltung der Polizei seit ihrer Verstaatlichung 1923 (es war das erklärte Ziel der bayerischen Regierung, der >roten Stadtverwaltung (die wichtige Polizeiexekutive aus der Hand zu schlagen!) eine besondere Rolle.«

»Im Widerspruch zum politischen Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit trat die Polizei den Nationalsozialisten ausgesprochen >tolerant< gegenüber, ja arbeitete sogar mit ihnen offen oder verdeckt zusammen. Dies erfüllte die NS-Führungskräfte mit Genugtuung und ließ ihre Sympathie zur Stadt wachsen.«

Eine Stadtmauer gegen unerwünschte Sympathien? Nach 1945 ist Nürnberg wieder »rot«, roter Fleck im CSU-beherrschten Bayern. Sozialdemokrat Andreas Urschlechter, Oberbürgermeister, regiert die Stadt seit 24 Jahren. Und wieder, 1974, wird die städtische Polizei verstaatlicht, kommt ein eifriger Polizeipräsident, der dem bayrischen Innenminister untersteht, nicht dem Bürgermeister.

Und dann der 6. März 1981. Ein Paukenschlag. Wie mit Hausbesetzern, Krawallbrüdern, Chaoten umzugehen sei, das zeigt der Republik jetzt ein bayerischer Polizeipräsident, assistiert von fünf bayerischen Ermittlungsrichtern. Nürnberg, diese bedauernswerte Stadt unwillkommener Massenveranstaltungen, ist Schauplatz der größten Massenverhaftung in der Geschichte der Bundesrepublik.

141 auf einen Streich: Da tut sich sogar die Justiz ein wenig schwer, auf einen solchen Batzen ist die ehrwürdige Gerichtsbarkeit nicht eingerichtet. Entlastungszeugen können nicht gehört, Haftbefehle nicht einzeln ausgestellt, Angehörige nicht sofort benachrichtigt werden...Für die Verhafteten andererseits ist es nicht gerade leicht, einen Anwalt ihrer Wahl zu finden: Seit den Terroristenprozessen gilt das Verbot des Doppelmandats, § 146 StPO. Also müssen 141 Verteidiger her. »Sind Sie noch frei?« werden Rechtsanwälte von verschüchterten Müttern angesprochen.

Ein gigantisches, nie gesehenes Schauspiel muß demnach auch der Prozeß selbst werden. Ob Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes wieder einmal umgebaut werden muß? Als dort nämlich vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 das Internationale Militärtribunal gegen 24 Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches stattfand, waren bauliche Veränderungen nötig, um Gericht, Angeklagte, Verteidiger und rund 250 Journalisten aus aller Welt überhaupt unterzubringen.

Die Vergangenheit drängt sich ständig auf in dieser Stadt. Sie wird von beiden Lagern zitiert, in die Nürnberg nach dem 6. März zerfallen ist, dem kleineren, das über die Polizeiaktion entsetzt ist, dem größeren, das sich vor Chaos und Anarchie fürchtet. Leserbriefschreiber A. Müller aus der Schweiggerstraße 14a: »Ein Tip gegen Hausbesetzungen: Blockwarte. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Dies ist das probateste Mittel, um Ausschreitungen zu verhindern.« Da sind sie wieder, die ewig Unverbesserlichen: »Ich danke unserer Bayerischen Staatsregierung in München, die unser, schönes Nürnberg und unser schönes Land mit eisernem Besen sauberhält«, schreibt Babette Schillinger aus 8504 Stein.

Sogar das Vokabular ist dasselbe geblieben.

Von solchen angsterregendsauberen Deutschen fühlen sich in Nürnberg die Kinder der letzten Nazigeneration verfolgt., »Waren es unter Wahnsinnsvorstellungen bisher Juden, Zigeuner usw., so sind heute Jugendliche und Instandbesetzer. dran«, schreibt einer von ihnen.

Am 4. Februar 1981 erhält Bayerns Innenminister Gerold Tandler einen Brief von Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Darin heißt es:

»Die schweren Ausschreitungen randalierender, brutaler Chaoten in Berlin, Frankfurt, Göttingen und Hamburg sind, Anlaß zu ernster Sorge.

Wir haben keinen Grund zu glauben, daß ähnliche Vorgänge in Bayern völlig ausgeschlossen sind. Wie nahe wir ähnlichen Zuständen schon sind, zeigen die kürzlich erfolgten Hausbesetzungen in Erlangen und Nürnberg.

Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß die Welle der Gewalttätigkeiten auch bei uns spürbar werden kann. Ich * halte es daher für notwendig, daß Sie schon jetzt alle Maßnahmen ergreifen, damit sich solche Vorgänge hier nicht ereignen können.

Die Erklärungen der Berliner Polizei, sie komme zu spät oder sie werde vom taktischen Vorgehen der Randalierer überrascht, enttäuscht tief das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. In Bayern daß es nicht dazu kommen, daß der Pöbel die Straße regiert. Dazu gehört die rechtzeitige Aufklärung im Vorraum der anarchistischen Szene ebenso wie die Verhinderung und notfalls die Unterbindung derartiger, Gewaltakte. Die Vermeidung solcher bürgerkriegsähnliehen Zustände gehört zur Friedenspflicht des Staates.

Ich bitte Sie, hier höchste Aufmerksamkeit walten zu lassen.«

Zu diesem Strauß-Brief meint der bayerische FDP-Sprecher, Gyger, es scheine den Ministerpräsidenten »schrecklich zu wurmen, daß er bei den Krawallen in Berlin und Hamburg keine Möglichkeiten des eigenen Eingreifens sieht«.

Darauf antwortet die bayerische Staatskanzlei in einer Presseerklärung zwei Tage später: »Es gibt leider sehr ernsten Anlaß zu der Befürchtung, daß die Welle der Gewalt auch nach Bayern rollen könnte, weshalb größte Aufmerksamkeit der Ordnungsbehörden geboten ist.« Und in der Tat kommt es drei Wochen später, am 28. Februar, in Nürnberg zu schweren Ausschreitungen. Ort der Handlung: Das Fußballstadion. Nach einem Bundesligaspiel liefern sich jugendliche Fans des 1. FC Nürnberg und des TSC 1860 München stundenlange, wüste Schlägereien. Mit abgeschlagenen Flaschenhälsen, Ketten, Steinen und Stöcken mit Eisenspitzen gehen sie aufeinander los. »Tod und Haß dem TSC« skandiert ein Transparent. Ein Münchner wird schwer verletzt, ein Polizeibeamter von einem Stein getroffen, nach Schätzung des Notarztes haben 200 bis 250 Besucher des Spiels etwas abbekommen. Blut fließt reichlich. »Während der ganzen Zeit«, berichtet ein Sportreporter der «Nürnberger Nachrichten», »sind die gegnerischen Fan-Blöcke unter sich. Erst als die Schlägerei schon auf den Bahnhof Dutzendteich zutreibt, rückt die Bereitschaftspolizei mit ihren Schutzschilden an. Sie versucht, einen Kordon um die 60er-Fans zu bilden, damit sie unbeschadet zu ihrem Sonderzug kommen. Allerdings vergeblich. Die Bepos werden von einem Steinhagel empfangen, die Münchner an den Flanken wieder verprügelt und einmal rund um die Steintribüne getrieben.«

Ein ganz beachtenswerter, ein gefährlicher Krawall also.

' Doch scheint es sich kaum um die richtige Art von Ausschreitung gehandelt zu haben, die, vor der der Ministerpräsident seinen Innenminister so dringlich gewarnt hatte. »Nürnberger Nachrichten«. »Eine Reihe der Täter - die meisten von ihnen waren betrunken - kamen vorübergehend in Polizeigewahrsam.« Insgesamt werden 13 Rowdies festgenommen und nach erkennungsdienstlicher Behandlung wieder freigelassen.

Die Polizei hat mittlerweile Wichtigeres zu tun. Weihnachten und Sylvester sind in Nürnberg tatsächlich zwei Häuser besetzt worden. In der Johannisstraße 70 haben rund 30 junge Leute ein Gebäude bezogen, das seit sechs Monaten leer steht und in gutem Zustand ist. Nach Berliner Vorbild wollen sie auf Wohnungsnot aufmerksam machen und den Erhalt billigen Wohnraums fordern. Denn auch in Nürnberg, sind Wohnungen knapp. Einerseits wurde der soziale Wohnungsbau drastisch gedrosselt, andererseits drängen auch hier Spekulanten ins lukrative Geschäft mit dem Altbaubestand. Ehemalige Wohngebäude werden aufwendig modernisiert und in Büros umgewandelt. Beim städtischen Wohnungsamt sind 14000 Wohnungssuchende registriert.

Von der Bevölkerung werden die »Instandbesetzer« in der Johannisstraße freundlich aufgenommen. Nachbarn bringen heißen Tee und belegte Brötchen. Einen Vertreter der DKP, die in Nürnberg einen Sitz im Stadtrat hat, empfangen die Besetzer allerdings kühl: Sie wollen sich nicht von einer Partei vereinnahmen lassen, betonen, sie seien eine »unpolitische« Gruppe.

Bereits am 5. Januar wird das zweite besetzte Haus in der Veillodter Straße 33 von der Polizei wieder geräumt. Als Grund gibt die Polizeiführung einen Überfall auf den Hausbesitzer, einen Architekten, an. Der hatte Strafantrag gegen die Besetzer gestellt. Eine Nacht vor der Räumung war er in seiner Wohnung von vier maskierten Männern zusammengeschlagen, seiner Frau die Handtasche geraubt worden. »Nürnberger Nachrichten«. »Die Polizei ist überzeugt, daß es sich bei der Tat um einen Racheakt der Hausbesetzer gehandelt hat.«

Obwohl die Besetzer beider Häuser sich in aller Form von dem Überfall distanzieren und in einer Presseerklärung den Verdacht äußern, »daß diese Aktion gegen den Hausbesitzer auch eine Aktion gegen uns ist«, werden bei der Räumung des Hauses 69 Besetzer samt ihrem Anwalt Hans Graf verhaftet. Vorgeworfen wird ihnen zunächst nicht etwa: Hausfriedensbruch, sondern »Körperverletzung und schwe

(Dieser Satzfehler befindet sich auch im Original)

Gyger, es scheine den Ministerpräsidenten »schrecklich zu wurmen, daß er bei den Krawallen in Berlin und Hamburg keine Möglichkeiten des eigenen Eingreifens sieht«. Darauf antwortet die bayerische Staatskanzlei in einer Presseerklärung zwei Tage später: »Es gibt leider sehr ernsten Anlaß zu der Befürchtung, daß die Welle der Gewalt auch nach Bayern rollen könnte, weshalb größte Aufmerksamkeit der Ordnungsbehörden geboten ist.« Und in der Tat kommt es drei Wochen später, am 28. Februar, in Nürnberg zu schweren Ausschreitungen. Ort der Handlung: Das Fußballstadion. Nach einem Bundesligaspiel liefern sich jugendliche Fans des 1. FC Nürnberg und des TSC 1860 München stundenlange, wüste Schlägereien. Mit abgeschlagenen Flaschenhälsen, Ketten, Steinen und Stöcken mit Eisenspitzen gehen sie aufeinander los. »Tod und Haß dem TSC« skandiert ein Transparent. Ein Münchner wird schwer verletzt, ein Polizeibeamter von einem Stein getroffen, nach Schätzung des Notarztes haben 200 bis 250 Besucher des Spiels etwas abbekommen. Blut fließt reichlich. »Während der ganzen Zeit«, berichtet ein Sportreporter der «Nürnberger Nachrichten», »sind die gegnerischen Fan-Blöcke unter sich. Erst als die Schlägerei schon auf den Bahnhof Dutzendteich zutreibt, rückt die Bereitschaftspolizei mit ihren Schutzschilden an. Sie versucht, einen Kordon um die 60er-Fans zu bilden, damit sie unbeschadet zu ihrem Sonderzug kommen. Allerdings vergeblich. Die Bepos werden von einem Steinhagel empfangen, die Münchner an den Flanken wieder verprügelt und einmal rund um die Steintribüne getrieben.«

Ein ganz beachtenswerter, ein gefährlicher Krawall also. Doch scheint es sich kaum um die richtige Art von Ausschreitung gehandelt zu haben, die, vor der der Ministerpräsident seinen Innenminister so dringlich gewarnt hatte. »Nürnberger Nachrichten«. »Eine Reihe der Täter - die meisten von ihnen waren betrunken - kamen vorübergehend in Polizeigewahrsam.«

Insgesamt werden 13 Rowdies festgenommen und nach erkennungsdienstlicher Behandlung wieder freigelassen.

Polizeipräsident Kraus dagegen plädiert in einem Zeitungsinterview am 20. Februar für eine Verschärfung des Hausfriedensbruch-Paragraphen: »Um aber auch dann, wenn Strafanträge nicht gestellt werden, vorgehen zu können, wäre es notwendig, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch der Körperverletzung gleichzusetzen.« Damit liegt Kraus voll auf der Linie seines Dienstherren, des Innenministers Tandler. Einen Tag zuvor nämlich hatte Tandler in München »einen harten Kurs gegenüber Hausbesetzern und gewalttätigen Demonstranten« angekündigt. Der Innenminister laut »Nürnberger Nachrichten«. »In Zukunft wird Bayerns Polizei, wie das bei der Räumung des besetzten Nürnberger Hauses in der Johannisstraße 70 bereits geschehen ist, nicht erst einen Strafantrag der Besitzer abwarten, sondern von sich aus aktiv werden. Bayerns Polizeipräsidenten hätten, so erklärte Tandler weiter, angesichts der >Eskalation des Straßenterrors< beschlossen, >Flagge zu zeigen<...«

Bayerns Ministerpräsident wird noch deutlicher. Am 4. März, Aschermittwoch, gibt Franz Josef Strauß laut »Spiegel« in Passau die Parole aus: »Die großen Lumpen muß man schwer aufs Hirn hauen.« In Nürnberg ist es schon am nächsten Tag soweit.

Das »Komm« liegt gleich hinter der Stadtmauer. Eine lange Schachtel mit vorgeklebter Jugendstil-Fassade in fleischfarbenem Rosa. Von innen wirkt es wie eine große, bunte, vollgekritzelte Spielstube. An den Wänden ebenso wilde wie sprachlich verwegene Parolen: Tanzt alles kaputt. -

Onaniert zärtlicher!

Mit diesem Kommunikationszentrum, in der Fußgängerzone, in der Nähe von Mc'Donald's und dem Kaufhof, macht die Nürnberger SPD unter ihrem Kulturdezernenten Dr. Hermann Glaser seit acht Jahren progressive Jugendpolitik. Was Züricher Jugendliche vergeblich forderten - ein selbstverwaltetes Zentrum -, das ist hier, soweit dies bei einern städtischen Projekt überhaupt möglich ist, verwirklicht:

Aus dem »Komm«-Etat von jährlich über 600000 Mark stehen der Selbstverwaltung 210000 Mark zu, für vier angestellte Sekretäre, für Gruppen, Werbung, Programme und Anschaffungen.

Die CSU allerdings gebärdete sich von Anfang an so, als sei das »Komm« ein vergifteter Stachel im Fleische des Freistaats, der nur Verfall und Verderben bewirken könne. Das »Agitationszentrum«, der »Kristallisationspunkt linker Krawallmacher«, die »berüchtigte Stätte« ist beliebtestes Wahlkampfthema jeder Kommunalwahl: Denn Wählerstimmen von dieser Jugend versprechen sich die Christsozialen ohnehin nicht.

Dieses »Komm« ist die »Schaltzentrale«, die die CSU-Opposition im Nürnberger Rathaus »sofort liquidieren« würde, hielte sie nur erst die Macht in ihren Händen. Hier wird nach den Erkenntnissen der wackeren Streiter für Sauberkeit und Ordnung »geistige Kindesaussetzung« praktiziert: »Aufwiegelung statt Zuspruch, Zerstörung statt humaner Ziele und exklusive Problembeschaffung.«

Wie wollte bayerischer Biedersinn auch anders urteilen, als daß alles Böse in dieser Stadt just von diesem Punkt seinen Anfang nehmen müsse. Weil Jugendliche hier Gelegenheit haben, über Drogen und Hausbesetzungen zu reden, ist das »Komm« in den Augen der CSU Brutherd für Drogen- und Hausbesetzerprobleme. Wenn also nun »Flagge gezeigt« werden soll, wo anders als hier?

Schon vor dem 5. März müssen sich »Komm«-Besucher an eine Art Belagerungszustand gewöhnen: Polizeieinheiten beziehen bei Veranstaltungen Stellung, »wie sie es bei jeder Vollversammlung machen«, so Polizeipräsident Kraus. (Vollversammlungen sind das Beschlußorgan der Selbstverwaltung.) Zivilstreifen observieren das Gebäude. »Komm«-Mitarbeiter sind davon überzeugt, daß mit Hilfe einer Verkehrsüberwachungskamera, die gegenüber in der Stadtmauer eingelassen ist, der »Komm«-Eingang ständig beobachtet wird.

Da kommt Wut hoch. Die Polizei ist hier nicht sehr beliebt, seit sie im September 1980 Teilnehmer einer NPD-Kundgebung so erfolgreich vor Demonstranten schützte, daß die Nazis einen festgenommenen Protestierer unter den Augen der Ordnungshüter sogar verprügeln durften. Die Drohgesten aus München, die Räumung des Hauses Johannisstraße 70 tun ein übriges. Der Showdown kann beginnen.

Am Donnerstag, den 5. März, wird im »Komm« um 20 Uhr ein Film über die Amsterdamer Kraker gezeigt. Über den Verlauf des Abends existiert bei der Polizei ein Vermerk vom 30. März mit dem Zusatz: »Der hier bekannte Mitteiler ist ein dem bayerischen Staatsministerium des Innern unterstellter Beamter.«

Aus diesem Vermerk geht hervor, daß der anonyme V-Mann sowohl an der Veranstaltung im »Komm« als auch an der späteren Demonstration in der Innenstadt teilgenommen hat. In der Kriminalpolizeiinspektion Nürnberg gibt er einen detaillierten Bericht über beide Ereignisse zu Protokoll.

»Unter den ca. 300 Besuchern«, so der Vermerk, »befanden sich auch Hausbesetzer aus Nürnberg, Fürth, Erlangen, Berlin.« In dem Film seien »verschiedene Hausbesetzungen sowie Räumungen durch Sicherheitskräfte in Amsterdam« gezeigt worden. »Filmszenen, die sich gegen die Sicherheitskräfte richteten (Werfen von Steinen, Umkippen von PKW u. a.) wurden von den ca. 300 Personen im >Komm< mit großem Beifall bedacht.«

An den Film habe sich eine Diskussion angeschlossen. »Dabei forderte eine Minderheit der Diskussionsteilnehmer dazu auf, bei weiteren Demonstrationen und Hausbesetzungen nicht mehr so friedfertig zu sein, sondern mit Gewalt gegen den Staat vorzugehen. Dies wurde jedoch von der:, Mehrheit abgelehnt, da Gewalt ja doch nichts bringen würde. Plötzlich wurden aus der >gewalttätigen Minderheit< Rufe laut, die nicht näher lokalisiert werden konnten: >Laßt uns spazieren gehen, wir wollen Jogging.< Fazit: Wer Gewalt bei Demonstrationen anwenden wolle, der könne dies tun.« Die Staatsanwaltschaft legt, auf diesen Bericht des V-Manns gestützt, die Diskussion später als Beschlußfassung für eine Demonstration aus, deren gewalttätiger Ausgang allen Teilnehmern vorher bekannt gewesen sei.

Überraschenderweise zieht jedoch die Polizei nach dem Ende der Veranstaltung gegen 22 Uhr ihre »zusätzlichen Kräfte« vor dem »Komm« ab. Als sollten gewalttätige Demonstranten nicht von ihrem schlagzeilenträchtigen Tun abgebracht werden, steht vor dem »Komm« nur noch ein einsames Zivilfahrzeug mit zwei Polizisten, das nun »geschüttelt« wird. Polizeipräsident Kraus erklärt diese seltsame Panne hinterher mit der Begründung, die Demonstranten hätten die Polizei »irregeführt«, indem sie »so getan hätten, als gingen sie nach Hause«.

»Allmählich«, so der Bericht des V-Manns, »formierte sich dann ein Demonstrationszug mit ca. 150 Personen, von denen die meisten vermummt waren. In der Breiten Gasse flogen dann die ersten Steine und Flaschen. Hierzu ist zu sagen, daß diese Werfer aus der Mitte des Zuges kamen, sich nach außen drängten, die Steine und Flaschen warfen, um sich dann wieder in die Mitte des Zuges, d. h. in den Schutz der übrigen Demonstranten zurückzubegeben.«

Der V-Mann identifiziert sodann zwei Steinewerfer und mehrere andere Demonstrationsteilnehmer nach ihm vorgelegten Fotos und teilt mit: »Als sich der Demonstrationszug wieder in Richtung >Komm< bewegte, war er bereits auf ca. 100 Personen zusammengeschrumpft.«

Ein »Protokoll über die Demo« aus Demonstrantenkreisen beschreibt die Sachlage genauer. Danach stehen nach der Veranstaltung »ca. 200 Anwesende« vor dem »Komm« in kleinen Gruppen und diskutieren. »Um ca. 22.10 rufen einige wenige unbekannte Personen zu einer Demo auf (»Kommt, wir machen einen Spaziergang«).

Etwa 150 bis 180 Leute schließen sich dem Zug an, der sich »in langsamer Geschwindigkeit« und verfolgt von Zivilfahrzeugen der Polizei durch die Fußgängerzone bewegt.

Dabei werden in der Breiten Gasse mehrere >Bild<-Zeitungskästen umgekippt. Weitere Sachschäden gibt es vorerst nicht. Die Seitenstraßen der Breiten Gasse sind dem Demo-Protokoll zufolge bereits »von jeweils 2 - 3 Streifenwagen der Polizei abgeriegelt, die nach dem Passieren des Zuges ihm folgen, teilweise auch nebenherfahren«. Die Demonstration biegt nun in die Färberstraße ein. »In der Färberstraße fährt ein Teil der inzwischen ca. 20 - 25 Streifenwagen links und rechts am Zug vor und beginnt einen Einkesselungsversuch.«

»Die Stimmung« ist laut Papier-»bei den meisten Teilnehmern inzwischen panisch. Wie schon in der Breiten Gasse fallen ca. 10 - 15 männliche Personen auf, die einzeln dauernd ihren Standort wechseln und die Schäden verursachen. In mehreren Fällen begeben sie sich einzeln aus dem Zug heraus zwischen die Streifenwagen und beschädigen die Fassaden (Sprühdosen, Steinwürfe auf Fensterscheiben), ohne von der Polizei behindert oder festgehalten zu werden.«

Hier die Schäden bis zu diesem Zeitpunkt: »Raiffeisenbank, Färberstr. 45, eine Scheibe gesprungen (DM 1206,05), WKV Kreditbank, Färberstr. 41, zwei Schaufensterscheiben eingeschlagen (DM 3924,83).«

»An der Einmündung zum Frauentorgraben macht die Polizei einen Einkesselungsversuch, der nach Aussagen Beteiligter halbherzig durchgeführt wird und eventuell hätte gelingen können. (Durch die panische Stimmung unter den meisten Demonstranten ist eine Fehleinschätzung eventuell möglich.) Darauf macht der Zug kehrt und läuft die Färberstraße zurück.«

Weitere Schäden: »Stadtsparkasse, Färberstr. 19, eine Scheibe eingeschlagen, eine Scheibe mit Farbe besprüht, ein Türgriff abgebrochen (ca. DM 1900,-), Möbelgeschäft Beck, Färberstr. 19, Kratzspuren an zwei Scheiben, Commerzbank, Dr. Kurt-Schumacher-Str. 1 - 7, Fenster und Wände mit Farbe besprüht, ein Mercedes, Antenne und Lack beschädigt, Mülltonnen auf die Straße gestellt. Nach Angaben der Kaufhof AG wurden am Parkhaus in der Frauengasse 12a/12b und am Geschäftshaus Pfannenschmiedsgasse/An der Mauthalle Scheiben eingeworfen. Die genauen Schäden konnten nicht in Erfahrung gebracht werden, auch ist der Zeitpunkt der Beschädigungen nicht sicher.« Mit den Streifenwagen im Rücken und zur Seite schiebt sich der Zug laut Protokoll, stetig schneller werdend, in Richtung »Komm«. »Ein Großteil der Demoteilnehmer trifft nach und nach beim >Komm< ein (ca. 22.45 Uhr). Ein Teil entfernt sich durch den Fußgängertunnel ungehindert, obwohl vor dem >Komm< starke Polizeikräfte zusammengezogen sind. Ca. 50 - 70 Teilnehmer der Demo ziehen sich ins >Komm< zurück, die allgemeine Meinung ist, die Sache wäre ausgestanden. Direkt darauf heißt es, das >Komm< sei umstellt, um 22.58 Uhr verläßt der letzte das >Komm< durch den Vorderausgang, ohne festgenommen zu werden. Kurz danach heißt es, jeder der das >Komm< verließe, werde als Flüchtling behandelt.« »Kurz darauf ist das Telefon des >Komm< abgeschaltet, es kommen nur noch Anrufe von draußen durch. Einige der Personen, die während der Demo auffielen, sind noch anwesend und rufen, obwohl die allgemeine Stimmung verängstigt ist, vom Fenster aus der Polizei Beleidigungen zu, wobei sie gefilmt werden. In den folgenden Stunden verlassen sie nach und nach das >Komm< durch einen Notausgang am Baumeisterhaus (Peuntgasse/Königstormauer), an dem keinerlei Polizei postiert ist.« Soweit der Bericht. Er ist von einem Studenten verfaßt, der an der Demonstration selbst nicht teilgenommen hat, als Quelle jedoch »mündliche Information von einigen Beteiligten« angibt. Seine Darstellung wird von anderen Demonstranten weitgehend bestätigt. Die Schäden sind nach einer Aufstellung der »Frankfurter Rundschau« zitiert. (Die Polizei hatte die Schadenshöhe mit 30000 Mark beziffert.)

Jetzt hat auch der Freistaat Bayern seinen Krawall. Was nun folgt, ist die atemlose Durchführung eines Plans, der sich in den Köpfen der bayerischen Ordnungshüter schon festgesetzt haben muß, bevor der Feind überhaupt Gelegenheit hatte, ihrem Feindbild zu entsprechen.

Polizei und Justiz arbeiten reibungslos, im Rücken eine Staatsregierung, die eifrig zum Halali geblasen hat. Und die sich jetzt tummeln muß, um gutzuheißen, was sie für die angemessene Antwort des Rechtsstaates auf die herbeigeredete »Welle der Gewalt« hält.

Um 3.30 Uhr in dieser Nacht werden sämtliche 164 »Komm-Insassen« (Polizei-Wortschöpfung) festgenommen. Sie haben das Gebäude freiwillig und in kleinen Gruppen verlassen, nachdem der von einer privaten Feier herbeigeeilte SPD-Bundestagsabgeordnete Egon Lutz sie »zusammen mit dem Einsatzleiter«, wie er später sagt, dazu bewegt hat. Lutz' 17jährige Tochter Petra ist auch dabei. Im Polizeipräsidium wird Lutz mit der Begründung, er sei »alkoholisiert«, weggeschickt. Fünf Ermittlungsrichter füllen rund um die Uhr Haftbefehle aus. Pro Haftbefehl benötigen sie dazu im Schnitt 4 Minuten. 141 Jugendliche werden wegen »schweren Landfriedensbruchs« verhaftet.

Der inneren Logik des Ereignisses folgend - je mehr Festnahmen, desto schlimmer müssen die Ausschreitungen gewesen sein - berichtet die Presse zunächst über »schwerste Verwüstungen« in Nürnbergs Innenstadt.

Die Rechnung scheint aufzugehen. Auch die SPD-Stadtratsfraktion äußert sich am nächsten Tag »bestürzt darüber, daß sich nun offenbar auch in Nürnberg innerhalb der Jugendlichen Kräfte durchgesetzt hätten, die vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückgeschreckt hätten«. Der Kulturdezernent und »Komm«-Hausherr Dr. Hermann Glaser lobt »die Sorge der Polizei um Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit«. Egon Lutz bescheinigt den Polizeibeamten »tadelsfreies Verhalten«.

Ein kleiner, eigentlich eher zufälliger Schönheitsfehler läßt aber dann die öffentliche Meinung umkippen: Es stellt sich nämlich heraus, daß, während draußen die Demonstration läuft, im »Komm« eine Gruppe, wahrscheinlich etwa 70 junge Leute, sitzt und Tee trinkt, Schach spielt, Musik hört. Auch sie sind wegen »schweren Landfriedensbruchs« verhaftet worden.

Nun werden die Ereignisse gründlicher unter die Lupe genommen. Während Innenminister Tandler noch jubelt: »Krawallmacher wissen jedenfalls, woran sie in Bayern sind«, formiert sich ein Protest, der ganz neue Fronten schafft: Über 300 Eltern und Verwandte versammeln sich im »Komm«, gutbürgerliche Leute, die die Sorge um ihre Kinder jetzt an deren Seite treibt.

»Wenn nicht Bonzenkinder eingeknastet worden wären, hätte sich doch niemand über die Kriminalisierung von Hausbesetzern aufgeregt!« murrt ein Mitglied der Szene später - und vermutlich nicht zu Unrecht.

So aber, mit der Empörung von erwachsenen und unverdächtigen Bürgern im Rücken, hakt die Lokalpresse kritischer nach. Überregionale Zeitungen werden aufmerksam. Die SPD, nachdem sie sich sorgfältig von Gewalttätern distanziert hat, protestiert heftig. Die Kirche öffn'et ihre Türen für eine Kundgebung zorniger Bürger. Was ist in Nürnberg passiert? Die Nürnberger Justiz hat wortgleiche, hektographierte Haftbefehle ausgestellt. Danach trifft auf alle Festgenommenen zum Beispiel zu: »Fluchtgefahr. D. Beschuldigte hat eine Strafe zu erwarten, angesichts derer die vorhandenen Bindungen nicht ausreichen.«

Weiter: »Außerdem besteht Verdunkelungsgefahr, da die Mittäter sich in Freiheit miteinander absprechen würden. Tatverdacht und Haftgründe ergeben sich aus den Ermittlungen, insbesondere daraus, daß d. Beschuldigte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat festgenommen wurde.«

Kühner war wohl noch die ebenfalls 141 mal aufgestellte Behauptung: »D. Beschuldigte gehört zur Hausbesetzerszene oder sympathisiert mit ihr.« Wer sich etwa fragen sollte, wieso fünf Ermittlungsrichter alle Verhafteten derartig über einen Kamm scheren konnten, erhält eine ebenso schlichte wie entwaffnende Antwort: Aus Zeitgründen. Denn nach dem Gesetz muß jeder Festgenommene innerhalb von 24 Stunden einem Haftrichter vorgeführt werden. »Bei den Vorgängen in Nürnberg sind die Gesetze, soweit das überhaupt möglich gewesen ist, von der Justiz eingehalten worden«, sagt der Erste Staatsanwalt Gerulf Schmidt treuherzig.

Bei solchem Rechtsverständnis war es denn auch nicht möglich, Entlastungszeugen zu vernehmen, die aussagen wollten, daß der oder die Beschuldigte zur Tatzeit im »Komm« saßen. Selbst wenn er gewollt hätte, so Ermittlungsrichter Gerold Wahl zum »Zeit«-Reporter Gunter Hoffmann, »das ging nicht in der Eile«. Rechtsstaat im Akkord.

Immerhin gibt Richter Wahl zu, wohl etwas reichlich gutgläubig gewesen zu sein, was die Verhaftung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat betrifft. Die »Zeit« schreibt: »Die Polizei hatte jedenfalls als >Ermittlungsergebnis< mitgeteilt, daß alle in irgendeiner Form beim Steinewerfen dabei waren.« Bisher, so der Richter, habe man sich »immer auf die Angaben der Polizei verlassen können«. Da habe es diesmal aber mit so manchem »gehapert«.

Weniger Skrupel scheint da Ermittlungsrichter Günther Meyerhöfer zu haben, auf dessen Konto 50 der 141 Haftbefehle gehen. »Und wenn ich mal wieder für eine solche Aktion eingeteilt werde, dann werde ich wieder so handeln«, erklärt er gegenüber dem »Stern«. Richter Meyerhöfer stand an diesem Tag gar nicht auf dem Dienstverteilungsplan. Aber Kollegen sollen ihn (laut »Stern«) am 6. März schon mittags in der Gerichtskantine tönen gehört haben »Wenn heute Not am Mann ist, bin ich dabei.« Eine Aussage, die er inzwischen bestreitet.

Die Presseerklärung des Polizeipräsidenten Kraus klingt nicht minder schwungvoll. Schon am nächsten Tag sieht er, wie er den »Nürnberger Nachrichten« mitteilt, »durch die Ausschreitungen in der Nacht zum Freitag seine Skepsis gegenüber der Verhandlungsbereitschaft der Stadt mit Hausbesetzern bestätigt«.

Und daß Unbeteiligte verhaftet wurden, hält er »nicht für möglich«. Denn: »Da wurde vorher festgestellt, daß das >Komm< beim Eintreffen der Demonstranten leer war.« Mysteriöse Andeutungen macht Kraus auch über den »harten Kern der Krawallmacher«. In der »Nürnberger Zeitung« vom 7. März wird der Polizeipräsident zitiert: »Allein die Tatsache, daß drei Leute da waren, die mit Nürnberg nichts zu tun haben und Flugblätter der >Rote-Armee-Fraktion< (RAF) verteilten, spricht eine eigene Sprache.« Und zwar welche? Der Polizeipräsident klassifizierte diese Personen als »Top-Leute, die dem Umfeld der Terrorszene zugerechnet werden müssen«, denen es »nicht mehr darum geht, auf Wohnungsprobleme aufmerksam zu machen. Schäden sind kein Argument, um mehr Wohnraum zu bekommen«.

Hausbesetzer gleich Terroristen, Hausbesetzer-Sympathisanten gleich Terroristen-Sympathisanten - hier scheint sich also zu bestätigen, was Ministerpräsident Strauß warnend vorausgesagt hatte: In der Hausbesetzerszene sei »der Kern einer neuen terroristischen Bewegung« zu sehen.

Innenminister Tandler antwortete am 9. März auf die Frage der »AZ«. »Sie haben im Zusammenhang mit Hausbesetzungen von >terroristischem Umfeld< gesprochen. Gilt das auch für die Nürnberger Vorkommnisse?« - »Leider ja, unter den in Nürnberg Festgenommenen befinden sich auch einige, die nach den Erkenntnissen der deutschen Sicherheitsbehörden dem terroristischen Umfeld zuzurechnen sind.«

CSU-Chef Strauß gegenüber »Bild am Sonntag«. »Wir haben festgestellt, daß davon drei aus dem Umfeld des Terrorismus stammen. Nach unseren Erkenntnissen bin ich sicher: Die gewalttätigen Hausbesetzer sind der Kern einer neuen terroristischen Bewegung.«

Wie, wann und wo sind die angeblichen Terroristen festgenommen worden? Polizeipräsident Kraus präzisiert das in einer Gegendarstellung in Nürnbergs Stadtblatt »plärrer« vom 23. April: »Richtig ist, daß bereits in der ersten Pressekonferenz am 6. 3. 1981 darauf hingewiesen wurde, daß im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, aber deutlich abgesetzt von der randalierenden Gruppe, drei dem Umfeld des Terrorismus zuzurechnende Personen festgenommen worden sind.«

»Der Junge ist vollkommen runter, er flüstert nur noch«, erzählt die Mutter eines 18jährigen Lehrlings.

»Meine 16 Jahre alte Tochter ist jetzt - nach den Gesprächen, die sie in der Justizvollzugsanstalt Aichach mit Häftlingen führen konnte - der Meinung, daß alle dort Einsitzenden insgesamt unschuldig sind.«

»Meine Freundin, die ist am Freitag dreimal leibesvisitiert worden. Wo sie dich nackt ausziehen, wo sie in sämtlichen Körperöffnungen rumstochern und dich wirklich demütigen bis zum letzten ... Die ist gestern nimmer aus der Badewanne rausgekommen. Die hat fünf Kilo abgenommen seit Freitag. Alles, was sie ißt, erbricht sie bloß noch.«

Unter den Verhafteten ist ein 26jähriger Türke, der ein paar Minuten vor der Polizei-Razzia das »Komm« betreten hat, um seine Freundin abzuholen. Eine 19jährige Mutter aus Nürnberg kommt in die Justizvollzugsanstalt Regensburg und wird erst nach zehn Tagen freigelassen. Ihr Sohn David ist zehn Monate alt. Nürnbergs CSU-Chef Holzbauer weiß, wie junge Frauen solche Erfahrungen meiden können: »Wäre sie in Regensburg geblieben und hätte auf ihr Kind aufgepaßt, anstatt sich im Komm< rumzutreiben - es wäre besser gewesen.« Ähnliche Vorwürfe werden auch gegen die Eltern der verhafteten Jugendlichen laut: Was machen 15jährige nachts um 3 Uhr noch im »Komm«? Wieso kümmern sich Eltern nicht um ihre Kinder? »Meine Eltern kümmern sich sehr wohl um mich und würden ihr Leben für ihre Kinder riskieren«, schreibt die jüngste Verhaftete in einem Leserbrief an die »Nürnberger Nachrichten«. »Von ihnen habe ich das Denken gelernt. Sie schieben mich nicht ins >Komm< ab, sondern wenn ich dort hingehe, dann tue ich das, weil es mir dort gefällt ... Ich komme dann jedoch trotzdem abends heim, sofern das >Komm< nicht von Polizisten umstellt ist und allen Leuten, die es verlassen, mit Knast gedroht wird.« Auch Pressemeldungen über eigens angereiste »Randalierer« aus Berlin, Braunschweig, Osnabrück und Schweinfurt

76 bedürfen einer Korrektur. Ein Berliner etwa ist bei einer befreundeten Nürnberger Familie zu Gast und wird nach einem Stadtbummel zusammen mit der Tochter des Hauses im »Komm« verhaftet. Ein Schweinfurter Geschwisterpaar lebt in Nürnberg, weil beide dort in die Lehre gehen. So bricht auch die Verschwörertheorie nach und nach in sich zusammen. Zwar lassen sich Verdachtsmomente, daß die Massenverhaftung von Justiz- und Polizeibehörden schon vor der Demonstration geplant wurde, ebenfalls nicht recht erhärten: Berichte von Gefängnisinsassen aus Bayreuth und Hinweise aus der Justizvollzugsanstalt in Nürnberg, daß schon am Donnerstag Zellen für eine größere Zahl von Verhafteten freigemacht worden seien, werden von den Anstaltsleitungen dementiert.

Dennoch wird die Aktion inzwischen selbst innerhalb der CSU unterschiedlich beurteilt. Während Innenminister Tandler auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung über die Nürnberger Vorfälle eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts (»Vermummungsverbot«) verlangt und die zusätzliche Bewaffnung der Polizei mit Gummigeschossen und Brechgas-Beimischung für Wasserwerfer ankündigt, rückt die Münchner Fraktionsspitze von den Scharfmachern in ihrer Partei etwas ab.

Eine Woche nach der Massenverhaftung läßt Fraktionschef Gustl Lang seinen Pressesprecher Karl Gietl erklären, die Fraktion werde sich »mit Gewißheit nicht scheuen, Pannen als solche zu bezeichnen, wenn es tatsächlich in der Hektik des Geschehens zu solchen gekommen sein sollte«.

Dies erbost zwar den Ministerpräsidenten. Strauß poltert etwas von »politischem Unfug« und läßt seinen Pressesprecher Hans Tross verkünden, er sei »nicht glücklich«, daß »über mögliche Pannen spekuliert wird«. Aber auch er redet nicht mehr von »141 Gewalttätern«, sondern immerhin von »Personen«. Und Justizminister Hillermeier gibt in einem »Spiegel«-Interview zu, daß auch Unschuldige verhaftet worden seien. Allerdings meint er, daß so was »leider immer wieder mal«

»Der Junge ist vollkommen runter, er flüstert nur noch«, erzählt die Mutter eines 18jährigen Lehrlings.

»Meine 16 Jahre alte Tochter ist jetzt - nach den Gesprächen, die sie in der Justizvollzugsanstalt Aichach mit Häftlingen führen konnte - der Meinung, daß alle dort Einsitzenden insgesamt unschuldig sind.«

»Meine Freundin, die ist am Freitag dreimal leibesvisitiert worden. Wo sie dich nackt ausziehen, wo sie in sämtlichen Körperöffnungen rumstochern und dich wirklich demütigen bis zum letzten ... Die ist gestern nimmer aus der Badewanne rausgekommen. Die hat fünf Kilo abgenommen seit Freitag. Alles, was sie ißt, erbricht sie bloß noch.«

Unter den Verhafteten ist ein 26jähriger Türke, der ein paar Minuten vor der Polizei-Razzia das »Komm« betreten hat, um seine Freundin abzuholen. Eine 19jährige Mutter aus Nürnberg kommt in die Justizvollzugsanstalt Regensburg und wird erst nach zehn Tagen freigelassen. Ihr Sohn David ist zehn Monate alt. Nürnbergs CSU-Chef Holzbauer weiß, wie junge Frauen solche Erfahrungen meiden können: »Wäre sie in Regensburg geblieben und hätte auf ihr Kind aufgepaßt, anstatt sich im Komm< rumzutreiben - es wäre besser gewesen.« Ähnliche Vorwürfe werden auch gegen die Eltern der verhafteten Jugendlichen laut: Was machen 15jährige nachts um 3 Uhr noch im »Komm«? Wieso kümmern sich Eltern nicht um ihre Kinder? »Meine Eltern kümmern sich sehr wohl um mich und würden ihr Leben für ihre Kinder riskieren«, schreibt die jüngste Verhaftete in einem Leserbrief an die »Nürnberger Nachrichten«. »Von ihnen habe ich das Denken gelernt. Sie schieben mich nicht ins >Komm< ab, sondern wenn ich dort hingehe, dann tue ich das, weil es mir dort gefällt ... Ich komme dann jedoch trotzdem abends heim, sofern das >Komm< nicht von Polizisten umstellt ist und allen Leuten, die es verlassen, mit Knast gedroht wird.« Auch Pressemeldungen über eigens angereiste »Randalierer« aus Berlin, Braunschweig, Osnabrück und Schweinfurt

78 bedürfen einer Korrektur. Ein Berliner etwa ist bei einer befreundeten Nürnberger Familie zu Gast und wird nach einem Stadtbummel zusammen mit der Tochter des Hauses im »Komm« verhaftet. Ein Schweinfurter Geschwisterpaar lebt in Nürnberg, weil beide dort in die Lehre gehen. So bricht auch die Verschwörertheorie nach und nach in sich zusammen. Zwar lassen sich Verdachtsmomente, daß die Massenverhaftung von Justiz- und Polizeibehörden schon vor der Demonstration geplant wurde, ebenfalls nicht recht erhärten: Berichte von Gefängnisinsassen aus Bayreuth und Hinweise aus der Justizvollzugsanstalt in Nürnberg, daß schon am Donnerstag Zellen für eine größere Zahl von Verhafteten freigemacht worden seien, werden von den Anstaltsleitungen dementiert.

Dennoch wird die Aktion inzwischen selbst innerhalb der CSU unterschiedlich beurteilt. Während Innenminister Tandler auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung über die Nürnberger Vorfälle eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts (»Vermummungsverbot«) verlangt und die zusätzliche Bewaffnung der Polizei mit Gummigeschossen und Brechgas-Beimischung für Wasserwerfer ankündigt, rückt die Münchner Fraktionsspitze von den Scharfmachern in ihrer Partei etwas ab.

Eine Woche nach der Massenverhaftung läßt Fraktionschef Gustl Lang seinen Pressesprecher Karl Gietl erklären, die Fraktion werde sich »mit Gewißheit nicht scheuen, Pannen als solche zu bezeichnen, wenn es tatsächlich in der Hektik des Geschehens zu solchen gekommen sein sollte«.

Dies erbost zwar den Ministerpräsidenten. Strauß poltert etwas von »politischem Unfug« und läßt seinen Pressesprecher Hans Tross verkünden, er sei »nicht glücklich«, daß »über mögliche Pannen spekuliert wird«. Aber auch er redet nicht mehr von »141 Gewalttätern«, sondern immerhin von »Personen«.

Und Justizminister Hillermeier gibt in einem »Spiegel«-Interview zu, daß auch Unschuldige verhaftet worden seien. Allerdings meint er, daß so was »leider immer wieder mal«

vorkäme. Und für unschuldige U-Häftlinge gäbe es ja auch ' eine Haftentschädigung: »Zehn Mark pro Tag.«

Der Versuch, an Nürnbergs Schulen Diskussionen über die Verhaftungen zu verbieten, endet ebenfalls mit einem Rückzugsgefecht. So hatte etwa der Ministerialdirigent für Gymnasien in Mittelfranken, Dr. Wilhelm Wolf, den Leiter des Scharrer-Gymnasiums, Hans Georg Müller, angerufen. (An dieser Schule war eine Protestresolution verfaßt und von mehreren Lehrern unterschrieben worden.)

Wolf fragte an, wieviele Schüler des Gymnasiums einsäßen und »ob sich Lehrer im Schulbereich im Rahmen der Demonstrationsszene aktiv beteiligt haben, und wenn ja, welche«. Außerdem, so Rektor Müller, habe er die »dringende Empfehlung« gegeben, allen Kolleginnen und Kollegen zu untersagen, »im Unterricht und sonstwie im Schulbereich über die Verhaftungsaktion mit Schülern zu diskutieren oder sonstige Aktivitäten zu betreiben«.

Als die SPD wegen dieses Maulkorb-Erlasses eine Dringlichkeits-Anfrage im Bayerischen Landtag stellt, macht Wolf einen Rückzieher: Es habe sich lediglich um ein »kollegiales Gespräch« gehandelt. Oberstudiendirektor Müller, so die »Nürnberger Nachrichten«, »zeigte sich in seiner Stellungnahme sehr verwundert, daß Dr. Wolf nicht mehr zu seinen Worten steht«.

Trotz dieses Zurückweichens beweist die bayerische Staatsregierung aber auch, daß sie in der Sache nichts dazugelernt hat und die »harte Linie« gegenüber den Hausbesetzern und allem, was sie dafür hält, durchzusetzen gewillt ist. Strauß bagatellisiert die Verhaftung Unschuldiger ausgerechnet mit dem Hinweis auf die rechtsradikale Wehrsportgruppe:: Hoffmann, die nach dem Blutbad auf dem Münchener Oktoberfest ja schließlich auch festgenommen worden sei. Und Justizminister Hillermeier verteidigt hartnäckig die »unabhängige Justiz.«

Dabei wird immer deutlicher, daß schon die Teilnahme an der Demonstration ausreichen soll, um die Beschuldigten wegen »schweren Landfriedensbruchs« zu verurteilen. Polizei-Pressesprecher Willi Peter (Spitzname in Nürnberg: »der schwarze Peter«) spricht von »Hausbesetzer- und Demonstranten-Szene«. Polizeipräsident Kraus erläutert, »beim Landfriedensbruch mache sich jeder strafbar, der daran teilnimmt. Dabei sei nicht gesagt, daß er unbedingt einen Stein geworfen haben muß«.

Das Trommelfeuer bewirkt, daß auch die Kritiker der Massenverhaftung nach und nach eine Trennung machen zwischen »Unschuldigen« im »Komm« und »schuldigen« Demonstrationsteilnehmern. »Demonstrationen als Unruhe und Unordnung zu empfinden«, sagt der Staatsrechtler Prof. Küchenhoff in Nürnberg, »das ist eine Geistes- und Bewußtseinslage, die sich noch im Stadium des Preußischen Allgemeinen Landrechts befindet.«

Dieses Stadium scheint die Nürnberger Justiz des Jahres 1981 keineswegs überwunden zu haben. Mit extremen Reaktionen wird der »Szene« deutlich gemacht, was sie von ihren Richtern zu erwarten hat.

So sagt am 11. März die 21jährige »Komm«-Mitarbeiterin Angela Gitterer vor dem Ermittlungsrichter aus, daß sie zwei der Inhaftierten zwischen 22und23 Uhr am Abend des5. März in der »Komm«-Teestube gesehen hat. Sie macht diese Aussage vielleicht ein wenig ungenau, denn nach anderen Angaben sollen sich diese beiden in der fraglichen Zeit auch in der »Spielothek« des »Komm« aufgehalten haben - also nicht unbedingt zwischen 22 und 23 Uhr in der Teestube.

Angela Gitterer wird auf ihre Aussage vereidigt - und am 1. April verhaftet: Verdacht auf Meineid. Weil zwei Polizeibeamte die Betreffenden auf der Demonstration gesehen haben wollen, wird Untersuchungshaft angeordnet. Angela Gitterer wird außerdem wegen »Strafvereitelung« angeklagt und bleibt acht Wochen, bis zum Beginn des ungewöhnlich schnell angesetzten Verfahrens, in Haft.

Ende Mai verurteilt eine Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth die 21jährige, die nicht vorbestraft ist, wegen Meineids zu einem Jahr und sechs Monaten Haft mit Bewährung. Begründung: Sie habe fünf Tage freiwillig im »Komm« Telefondienst gemacht und sich aus eigenem Antrieb zur Beschaffung von Alibis zur Verfügung gestellt, die falsch gewesen seien.

Dabei stützt sich die Kammer auf die Aussage eines Polizeibeamten, der einen der Inhaftierten während der Demonstration an seinem auffallenden Tirolerhut erkannt haben will, und auf die Angaben eines V-Manns, der allerdings keine Aussagegenehmigung erhielt. Denn mit dem Hinweis, das mit seiner Preisgabe »das Wohl der Bundesrepublik und des Landes Schaden leiden und künftige Verbrechensbekämpfung erschwert würde«, verweigerte die Behörde seinen Auftritt vor Gericht. Der V-Mann, kommentierte der Gerichtsvorsitzende diesen absonderlichen Vorgang, sei als zuverlässig bekannt, weshalb das Gericht keine Bedenken gegen seine Aussage habe.

Bedenken hat es dagegen sehr wohl gegen zwei jugendliche Zeugen, die angeben, die beiden Verhafteten ebenfalls zwischen 22 und 23 Uhr im »Komm« gesehen zu haben. Sie sollen eigentlich wegen Falschaussage noch im Gerichtssaal verhaftet werden: Der Staatsanwalt sieht davon nur aufgrund ihres Alters (16 und 18 Jahre) ab. Ein Ermittlungsverfahren, kündigt er an, »werden die Aussagen in jedem Fall nach sich ziehen.«

Unter solchen Umständen werden Zeugen schon im Vorfeld der Landfriedensbruch-Prozesse nachhaltig verschreckt Um außer den Aussagen der Polizisten und des V-Manns weiteres belastendes Material zu sammeln und so die Verhaftungsaktion wenigstens nachträglich zu rechtfertigen, greifen die Nürnberger Strafverfolger außerdem zu einem weiteren ungewöhnlichen Verfahren: Sie laden Beschuldigte als »Zeugen« in einer »Strafsache gegen Unbekannt u. a.« vor. Mit diesem Trick sollen die Vorgeladenen, die als Beschuldigte nicht aussagen müssen und nach der Strafprozeßordnung nicht zugleich Zeugen in eigener Sache sein können, doch noch zu einer Aussage über die Demonstration gebracht werden. Denn als Zeugen dürfen sie die Aussage nicht grundsätzlich verweigern, wie das Beschuldigten erlaubt ist. Sie müssen sogar unter Strafandrohung wahrheitsgemäß aussagen und dürfen nichts verschweigen.

Obwohl diese Praxis eindeutig rechtswidrig ist - nach der einschlägigen Rechtssprechung ist die sogenannte »manipulierte Rollenvertauschung« nur zulässig, »wenn sich die Ausage auf eine Tat bezieht, die nicht auch der Auskunftsperson vorgeworfen wird« -, ordnet der Ermittlungsrichter gegen eine auf diese Art gewonnene »Zeugin« sogar Erzwingungshaft an, weil sie die Aussage verweigert. In weiteren Fällen werden Ordnungsgelder verhängt.

In diesem Klima können Denunziationen nicht ausbleiben. So gelangt ein Schülerreferat zum Thema »Meinungs- und Pressefreiheit« auf ungeklärtem Wege aus dem Scharrer-Gymnasium in die Hände des forschen CSU-Abgeordneten Sieghard Rost, der daraus auf einer öffentlichen Sitzung des kulturpolitischen Landtagsausschusses zitiert. Der erstaunte Verfasser des Textes sitzt zufällig unter den Zuhörern, weil er sich über eine geplante »Absenzenregelung« informieren will.

Und am 26. März erscheint im Gymnasium Oberasbach der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei von Fürth, Walter Müller, um die 16jährige Schülerin Christine R. zu vernehmen. Christine hatte zwei Wochen vorher in einer Diskussionsstunde berichtet, was sie über die Verhaftung der drei angeblichen Terroristen im U-Bahnhof Lorenzkirche gehört hatte: unter anderem, daß die verhaftete Inge P. auf der Polizeiwache zusammengeschlagen worden sein sollte und ihre Anwältin daraufhin Anzeige erstattet hätte.

Der Beamte zeigt sich über den Inhalt dieser Stunde informiert und droht dem Mädchen mit einer Anzeige wegen »Verleumdung«, falls sie ihre Angaben nicht widerruft. Christine in einem Gedächtnisprotokoll über das Verhör in dei Schule: »Er redete dann über die Hausbesetzer und das >Komm<, über den Kommunismus und über die unkritische linke Jugend. Er erklärte mir, was Landfriedensbruch ist, sprach von den Züricher und Berliner Chaoten. Er zeigte mir das Flugblatt von Frau P. und fragte mich, was der

schwarze Stern daraufbedeute; daß das alles Kommunismus sei und daß sie sich mit diesem Blatt strafbar mache.« Die Schülerin will daraufhin mit einem Anwalt sprechen. Müller: »Ja, wenn Sie einen Rechtsanwalt einschalten, dann erstatten wir gleich Anzeige.«

Eine Woche später holt der Beamte das Mädchen von der Schule ab. Christine: »Er hat mir dann gesagt, daß die Anklage fallengelassen wäre, weil ich mich >gut verhalten< hätte bisher. Jetzt wollte er sich nur noch mal mit mir unterhalten.«

Die Sechzehnjährige fährt mit Müller auf die Polizeiwache Zirndorf und wird dort von ihm und einem zweiten Mann noch einmal ausgiebig verhört. Christine: »Weil er mir die Anzeige gnädigerweise erlassen hatte, wollte er nun weitere Informationen über die Szene von mir.« Sie wird gefragt nach dem Ermittlungsausschuß, dem »Komm«, der Frauengruppe, in der sie Mitglied ist, und an welchen Demonstrationen sie teilgenommen hat.

Außerdem soll sie ein »Alibi« für die Nacht vom 5. auf den 6. März vorweisen. Das Gespräch gipfelt in einem Anwerbeversuch: »Der andere Mann wollte dann, daß ich mit ihm ins >Komm< gehe. Ich sagte, da könnte er doch allein hingehen. Aber er meinte, er käme da nicht rein. Ich: Wieso das denn nicht?« Nach diesem Verhör wird Christine entlassen und bekommt später noch einen Anruf: Jetzt soll sie die genauen Adressen der Leute angeben, die ihr »Alibi« für die Nacht vom 5. auf den 6. März bestätigen können.

Diese Vorgänge gehören zu den gezielten Einschüchterungsversuchen gegenüber kritischen Schülern - und Lehrern - an Nürnbergs Schulen. Bei der CSU gebärdet sich der Landtagsabgeordnete Sieghart Rost wiederum als Kämpfer an vorderster Front. In einer »Dokumentation zu den Krawallen am 5. 3. 81 in Nürnberg« veröffentlicht er seine Erkenntnisse über »Agitation in (städtischen) Schulen Nürnbergs«.

Da soll zum Beispiel Direktor Müller vom Scharrer-Gymnasium am 9. März die »dienstliche Anweisung« an die Lehrer gegeben haben, sich in der ersten Pause zu einer Sondersitzung im Lehrerzimmer einzufinden. Rost: »In der tumultuarisch ablaufenden Lehrerratssitzung verlangt der harte linke GEW-Kern, daß sich alle Lehrer in vorbereitete Unterschriftenlisten eintragen. Hierin entrüstet man sich >über die offensichtliche Mißachtung des Elternrechts< und zweifelt am >Vertrauen zu dem Rechtsstaat<.«

Gleichwohl: »Trotz des psychischen Drucks der SPD/GEW-Gruppe verweigern rd. 70% ihre Unterschrift.«

Tatsächlich hatte Schulleiter Müller an diesem Tag die Kollegen zu einer »kurzen Information« zusammengerufen und bekanntgegeben, daß drei Schüler verhaftet worden waren. Ein Lehrer, der am Tag zuvor an einer Versammlung der Eltern teilgenommen hatte, berichtete über Einzelheiten der Verhaftungsaktion und legte ein Schreiben aus, in dem »rasche Aufklärung der Vorkommnisse« gefordert wurde. Er stellte »den Kollegen frei, es zu unterzeichnen«, notiert das städtische Schulreferat.

Rost behauptet jedoch unverdrossen: »GEW-Lehrer versuchen auch an anderen Schulen - mit wechselnden Erfolgen - durch Agitation Lehrer und Schüler für ihre politischen Absichten zu mobilisieren.« Rost weiß auch, wie die linken Unterwanderer das anstellen: »Als Mittel, sich bei Schülern beliebt zu machen und in ein Vertrauensverhältnis einzuschleichen, wird zwischen GEW-Lehrern und Schülern der Oberstufe an Gymnasien das vertrauliche >du< benutzt.«

Vorgänge dieser und anderer Art in Nürnberger Schulen - (»hängen an verschiedenen Stellen - auch am schwarzen Brett - ab 10. 3. tagelang unbeanstandet sozialistisch-kommunistische Flugblätter«...) - veranlassen den Nürnberger CSU-Abgeordneten, in einem Dringlichkeitsantrag von der Staatsregierung zu fordern, »zu überprüfen, ob an städtischen Schulen in Nürnberg... im Zusammenhang mit den Vorgängen nach dem 5. März 1981 Ereignisse vorgefallen sind - und ggf. welche -, die ein schulaufsichtliches Einschreiten erfordern«.

»Hierbei«, so der Antrag, »ist auch darzulegen, ob verantwortliche städtische Bedienstete zur Rechenschaft gezogen werden können, falls Verstöße vorliegen.«

Diese Politik zeigt schon bald den gewünschten Erfolg: An den Schulen herrscht Panik. »Mein Deutschlehrer«, berichtet die Schülerin Christine, »hat dann eben gesagt, daß er innerhalb der Klasse überhaupt nichts mehr sagen wird, was irgendwie politisch oder sonst was ist und auch keine solchen Diskussionen mehr führen wird, weil er ja sieht, wozu so was führt: daß er dann ewig Angst haben muß, daß die Schüler irgendwas sagen und er dann den Verfassungsschutz draufgehetzt kriegt.«

Seither, so Christine, »wird das Aufhängen von Anti-Kriegs- oder antifaschistischen Plakaten in unserer Schule grundsätzlich nicht mehr genehmigt. Der Direktor gibt dafür eigentlich überhaupt keine Begründung, sondern er unterhält sich dann mit mir eine halbe Stunde lang über seine Sorgen und Ängste. Das ist die totale Schlittertour: daß er ständig seine Liberalität betont, aber dann darf man in der Schule noch nicht mal mehr ein Friedensplakat aufhängen.« Auch die sogenannte Szene ist laut Christine nahezu verstummt: »In Nürnberg wird zu den einzelnen Ungeheuerlichkeiten schon gar nichts mehr gemacht, neben den Massenverhaftungen ist alles andere wie ein Klacks dagegen. Da empört sich keiner mehr darüber, weil schon so viel schlimmere Sachen passiert sind. Wenn's nicht gleich hundertundnochwas sind, dann ist es hier nicht mehr so schlimm. Solche Aktionen etwa wie die Walpurgisnacht in anderen Städten, das ist bei uns gar nicht mehr denkbar.«

Nach dem 6. März hat es in Nürnberg zwar noch zwei weitere Hausbesetzungen gegeben. Die eine, in der Wielandstraße 19, verläuft nur deshalb glimpflich, weil der Hausbesitzer, BR-Redakteur Helge Kramer, sich das Eingreifen der sofort angerückten Polizei verbittet und statt dessen mit den Besetzern einen befristeten Mietvertrag abschließt.

Ein weiteres besetztes Gebäude in der Roritzerstraße 5 wird dagegen geräumt: Zum ersten Mal geht die Räumung nicht gewaltfrei ab, sondern die Besetzer werfen Dachziegel und Flaschen auf die Straße und drohen mit einem selbstmörderischen Sprung vom Dach. 13 werden verhaftet, mit ihnen mehrere Zuschauer von der Straße, denen ein Ermittlungsverfahren wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« (§ 129) angehängt wird. Vier Monate später sitzen acht der Verhafteten immer noch in Einzelhaft. Seither ist Ruhe in Nürnberg.

Zwei Monate später. »Gehen Sie doch am Donnerstagabend ins Jugendzentrum in Langenzenn, da soll eine Veranstaltung über Hausbesetzer stattfinden«, rät mir der SPD-Landtagsabgeordnete Rolf Langenberg, der nach einer zweitägigen Anhörung der Inhaftierten an einer großen Dokumentation arbeitet. »Der Polizeipräsident Kraus soll auch dran teilnehmen, ebenso der Erste Staatsanwalt Schmidt. Das kann interessant werden.«

In Nürnberg selbst hat es bisher noch keiner der für die Massenverhaftungen Verantwortlichen gewagt, sich den Jugendlichen und ihren Eltern in einer direkten Diskussion zu stellen. Justizminister Hillermeier etwa traut sich höchstens in die Provinz, nach Neustadt an der Aisch etwa, und auch das nur auf Einladung der Jungen Union. Das Jugendzentrum in Langenzenn gehört der Katholischen Kirche.

Vor der Abfahrt in das Dörfchen ist Treff am »Komm«. Mitfahrgelegenheiten werden angeboten. »Ob wir überhaupt hinkommen? Vielleicht haben die eine Polizeisperre aufgebaut«, überlegt jemand. Aber die Anreise von rund 100 Nürnberger Jugendlichen verläuft ohne größere Zwischenfälle, wenn man von den zwei Männern im Fußgängertunnel vor dem »Komm« absieht, die uns filmen, als wir zum Auto g'ehen. Aufregen tut das niemanden hier.

Das Jugendzentrum entpuppt sich als winziger Raum, in dem wohl noch keine Veranstaltung soviel Zulauf gehabt hat wie diese. Das Publikum setzt sich auf den Fußboden, weil Stühle zuviel Platz wegnehmen würden, sitzt in den geöffneten Fenstern. An der Stirnseite, vor einer nach dem Pink-Floyd-Plattencover »The Wall« bemalten weißen Wand, nehmen nach und nach die Diskutanten Platz: Der Bürgermeister von Langenzenn, drei Landtagsabgeordnete (zwei von der SPD, einer von der CSU), Professor Küchenhoff aus Münster, der Nürnberger Rechtsanwalt Peter Doll, der einige Inhaftierte verteidigt.

Statt des Polizeipräsidenten Kraus, der sich angeblich den Fuß verstaucht hat, ist sein Pressesprecher Willi Peter erschienen. Außerdem drängelt sich in letzter Minute noch ein jüngerer, smarter Robert-Redford-Typ in Lederjacke und offenem Hemd durch die Menge: Das ist der Erste Staatsanwalt Gerulf Schmidt, einer der an den Verhaftungen beteiligten Staatsanwälte. SPD-Mitglied. Der angesichts des Andrangs sichtlich erschrockene Moderator des Abends, Pfarrer Steiner, überreicht Schmidt zur Begrüßung einen eingewickelten Blumenstrauß: »Das sind keine roten Rosen, sondern Frühlingsblumen. Und Herr Schmidt kriegt die, weil er sich ja schließlich in die Höhle des Löwen gewagt hat!« (Die »Löwen« sind wohl die jungen Leute.) Der junge Pfarrer nennt das Thema des Abends: »Wieso kommt es zu Hausbesetzungen?« und bittet deshalb darum, »daß sich ein Hausbesetzer hier auch aufs Podium setzt« - mit einem Seitenblick zum Podium -, »das geht ja straffrei aus, oder?« Rechtsanwalt Doll fährt sofort warnend dazwischen: »Wer sich meldet, der soll sich das genau überlegen! Ich verweise nur auf den § 129 A, kriminelle Vereinigung! «

Da geht dann lieber keiner nach vorn. Aber ein junger Mann im Auditorium beginnt dennoch geduldig, die Ziele der Hausbesetzer zu erläutern: Da solle wertvolle alte Bausubstanz geschützt werden, »damit nicht überall Betonsiedlungen gebaut werden«, da solle gegen Spekulanten protestiert werden, und im übrigen sei es für Studenten unendlich: schwer, überhaupt eine Wohnung zu finden. »Wir nehmen keine langhaarigen Affen und Studenten auch nicht«, habe er oft genug zu hören bekommen.

Der SPD-Landtagsabgeordnete Manfred Schnell stimmt diesen Worten eilfertig zu: Solche Demonstrationen müßten offenbar sein, damit die Politiker überhaupt spüren, daß etwas nicht in Ordnung ist! Schnell: »Die Sensibilität setzt oft erst dann ein, wenn Pflastersteine fliegen.«

Wie denn seine eigene Sensibilität konkret geweckt worden sei, will daraufhin ein junger Zuhörer wissen. Das kann der Abgeordente nun so konkret auch Wieder nicht sagen: »Das ist eine abwegige Frage, darauf kann ich so nicht antworten. Aber Demonstrationen sind ein legitimes Recht des Bürgers.«

Dies alles wiederum versteht der CSU-Landtagsabgeordnete Tauber überhaupt nicht. »Ich denke, hier soll Wohnungsnot und Wohnungsbau im Vordergrund stehen«, ruft er und zitiert ausführlich den »SPIEGEL«, wonach die sozialliberale Koalition mit ihrem überzogenen Mieterschutz an der ganzen Misere Schuld ist. Als niemand darauf eingeht, versinkt in mürrischem Schweigen.

Nun aber ergreift der Erste Staatsanwalt Schmidt das Wort und erklärt, daß die Justiz schließlich zwischen allen Stühlen sitze, »denn die Gesetze, an die wir uns zu halten haben, werden von den Politikern geprägt«. Mit bekümmerter Miene nennt er einen Grund dafür, warum manchmal auch Unschuldige eingesperrt werden müssen: »Das ist doch so: Wenn Sie in einem Raum sieben Personen haben, von denen Sie wissen, daß sechs an einem Mord beteiligt waren. Dann ist beim dringenden Tatverdacht eben das Verhältnis eins zu sechs ~< »Nach dieser Logik müßten Sie im Fußballstadion ja 60000 Zuschauer festnehmen, wenn 10000 Krawall gemacht haben!« ruft ein Junge empört dazwischen. Der Pfarrer, der das Publikum duzt, konstatiert besorgt, »daß zwischen Ihnen ja wohl gar kein Vertrauen besteht« und bittet um Ruhe.

Mehrere anwesende Anwälte widersprechen nun der Behauptung des Staatsanwalts Schmidt, alles sei rechtstaatlich zugegangen bei der Inhaftierung. Rechtsanwalt Graf: »Sie haben mich rausgeworfen, als ich mit Entlastungszeugen ins Gericht kam. Sie haben mich gefragt, oh ich einen Mandanten hätte, dabei sind Sie als Ermittlungsbehörde gezwungen, auch alle entlastenden Momente zu ermitteln. Sie hätten die Zeugen in jedem Fall anhören müssen!«

»Ich war vierzehn Tage im Knast«, berichtet ein dunkelhaariger junger Mann und wirft dem abwesend lächelnden Polizeisprecher Peter ein »Sie können ruhig grinsen! « zu. »Ich will hier mal erzählen, wie es mir ergangen ist in diesen vierzehn Tagen. Erst mal wurde mir drei Stunden lang verweigert zu pissen - zu Staatsanwalt Schmidt - »ist das vielleicht gesetzlich?« Schmidt: »Eine Frage, auf die sich nicht zu antworten lohnt.« - »Dann mußte ich vier Leibesvisitationen über mich ergehen lassen. Nackt ausziehen, Beine spreizen.« Schmidt: »Wenn das zutrifft, was Sie behaupten, ist das nicht gesetzlich.« - »Nach vierzig Stunden werde ich endlich einem Ermittlungsrichter vorgeführt und frage den, warum ich als Geisel behandelt werde. Der antwortet: Sie wollen sicher auch sagen, daß Sie nicht dabeiwaren. Aber das nützt Ihnen gar nichts, Sie kommen auch in den Knast! « Auf diesen Bericht wird nicht weiter eingegangen. Statt dessen entspinnt sich zwischen den anwesenden Vertretern der Obrigkeit ein Geplänkel, wie der Landfriedensbruch-Paragraph denn nun anzuwenden sei, ob 20, 30 oder 70 Leute während der Demonstration im »Komm« gesessen hätten, ob die Eltern rechtzeitig benachrichtigt worden wären oder nicht. Die Opfer dieser Obrigkeit halten sich an die demokratischen Spielregeln und hören zu.

Da meldet sich ein Vater, dessen Sohn im Gefängnis war, und sagt, er könne einfach nicht verstehen, warum denn die Behörden nicht zugeben könnten, »daß man hier irgendwie zu weit gegangen ist«. Seine Frau möchte zum Landfriedensbruch eine Frage stellen: »Also wenn das jetzt bedeutet, daß die jungen Leute bei gewalttätigen Demonstrationen mitverantwortlich sind, auch wenn sie selbst nichts machen, dürfen die denn nun überhaupt nicht mehr demonstrieren? Man kann doch nicht vorher wissen, ob einer einen . Stein schmeißt?«

Auf eine solche Frage aus dem Munde einer Erwachsenen reagiert Staatsanwalt Schmidt geradezu betroffen: »Aber natürlich bin ich der Auffassung, die Jugend soll demonstrieren! Mein Sohn demonstriert auch, der (zu einem jungen Mann im Publikum) sieht ganz ähnlich aus wie du!« Und: »Mir persönlich zum Beispiel gefallen diese Gummigeschosse gar nicht.« Von der Last befreit, mit Jugendlichen reden zu müssen, wenden die Repräsentanten des Staates auf dem Podium sich nun lebhaft immer wieder an die anwesenden Eltern. Gespannt lauscht man dem Bericht einer Mutter, die nach den Verhaftungen zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Demonstrationszug mitgelaufen ist, die es als schrecklich empfunden hat, »alle zehn Meter von Verfassungsschützern gefilmt und fotografiert zu werden«. So ist das also? »Ich habe mit Interesse gehört, daß Sie eine Gruppe gebildet haben«, strahlt Polizeisprecher Peter, als die Mutter sagt, daß sie auch zur Betroffenengruppe der Eltern gehört, »ja, nehmen Sie doch einmal Kontakt auf mit uns!« Die Gruppe ist bundesweit bekannt, sie tagt seit dem 6. März regelmäßig im »Komm«, hat gegen die fünf Ermittlungsrichter Strafantrag wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung und Verfolgung Unschuldiger gestellt. Doch offenbar hat sich die Existenz dieser Gruppe nicht bis ins Polizeipräsidium herumgesprochen.

Watteweich und scheinheilig wird im Partyplauderton um Tatsachen herumgeredet. Daß im Saal Jugendliche anwesend sind, die ein Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren erwartet, gerät irgendwie in Vergessenheit. Sie werden ermahnt, doch »friedlich« zu sein. »Zum Frieden gehören zwoa!« sagt ein Mädchen, »aber hier haben die einen die Macht, und die andern harn gar nix.«

Sie bleiben friedlich bis zum Ende der Veranstaltung. Gegen den Jungen, der mit mir im Auto nach Nürnberg zurückfährt, wird wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« (§ 129) ermittelt, weil er bei der Räumung des Hauses Roritzer Straße 5 auf dem Bürgersteig gestanden und zugeschaut hat. Strafmaß laut Strafgesetzbuch: Fünf Monate bis fünf Jahre Freiheitsentzug.

Das Ehepaar Gietl* wohnt in einem Vorort von Nürnberg. Die Neubausiedlung liegt inmitten von Spargelfeldern. Buchenhecken säumen die Wege, in den gepflegten Vorgärten blühen Rosen, ein Nachbar wäscht auf deg Straße sein Auto. An Gietls Küchenfenster klebt knallgelb eine Anti-Atom-kraft-Plakette. Gietls einziger Sohn Matthias ist im »Komm« verhaftet worden. Er ist 20 Jahre alt, stand kurz vor dem Abitur. Vater Karl Gietl, bis zu seiner Pensionierung leitender Angestellter in der Industrie, versucht das Ereignis zu bewältigen, indem er alle Presseberichte ausschneidet und in Aktenordnern sammelt.

»Bei Demonstrationen«, sagt Frau Gietl, »gehen wir immer außen, damit die Leut sehen, es sind auch normale Bürger dabei.« Seit dem 6. März gibt es in Nürnberg Eltern, denen das Wort »Bullen« mit verblüffender Selbstverständlichkeit über die Lippen kommt. Die Gietls gehören nicht dazu. Aber sie haben auch vor dem Frauengefängnis Aichach demonstriert, als der Sohn schon wieder frei war.

Der Matthias, versichern sie ungefragt, sei nicht ausgeflippt, sei kein Wohlstandsgammler. Sie haben ihn so erzogen, meinen sie, daß er kritisch ist, daß er sich engagiert, in der christlichen Jugendgruppe zum Beispiel. »Trotzdem«, sagt Karl Gietl, »weiß ich nicht, wie wir über die Sache denken würden, wenn wir nicht den Sohn hätten.« Die Gietls sind parteilos. »Für uns waren nach dem Krieg die C-Parteien einfach die Partei, weil wir dachten, das christliche Menschenbild könnte da verwirklicht werden.« In dieser Vorstellung haben sie als praktizierende Katholiken sich enttäuscht gesehen. Frau Gietl: »Ich drück das immer so aus: Die christlichen Parteien kümmern sich zwar drum, daß nicht abgetrieben wird, daß das Leben kommt, aber wenn's da ist, da hört die Sorge auf.«

* Der Name wurde geändert Zehn Jahre lang haben sie die Politik mit wachsendem Unbehagen verfolgt. Dann sind sie auf die Straße gegangen: gegen die Aufrüstung, gegen Atomkraftwerke. Denn »im Dritten Reich, da waren wir nicht im Widerstand. Da haben wir uns einfach nicht verantwortlich gefühlt für die Dinge im Staat. Zunächst hat es uns sogar gefallen. Das hat uns hinterher erschreckt«.

Mit dem Sohn hat vor allem die Mutter viel über solche Dinge geredet. Karl Gietl: »Ich war Fachidiot, als biederer Staatsbürger zwar skeptisch, aber unvollständig informiert.« Der Matthias, meint Frau Gietl, habe die Verfassung ihres Mannes mitgekriegt und sich gesagt, so will er mal nicht leben. Erst nach der Pensionierung waren wieder Zeit und Ruhe da, um zu lesen und nachzudenken.

Und dann hat Karl Gietl die Erfahrung gemacht, daß man als Erwachsener sehr wohl eine abweichende Meinung äußern darf, »wenn man nur schön bürgerlich aussieht wie ich«. Karl Gietl ist nun 63, seine Frau 60 Jahre alt. Seit dem 6. März gehen sie auf jede Veranstaltung, sie äußern sich zu den Verhaftungen, und man hört ihnen höflich zu. Frau Gietl: »Und die jungen Leute, die dürfen überhaupt nicht sagen, was sie für Vorstellungen haben. Ich habe keinen Ausdruck dafür, daß man die, um deren Zukunft es geht, einfach unterbuttern will. Die müssen nun den ganzen Zimt, der ihnen aufoktroyiert wird, übernehmen.«

Von der Verhaftung ihres Sohnes haben sie noch am selben Abend erfahren. Einer seiner Freunde, der ebenfalls im »Komm« gewesen, aber früher gegangen war, rief gegen halb ein Uhr nachts an, im »Komm« sei eine Razzia gewesen, Matthias werde wohl später kommen. »Er hatte unser Auto dabei, und ich hab ihm noch viel Vergnügen gewünscht«, erinnert sich Frau Gietl, »das kommt mir heute entsetzlich makaber vor.«

Immerhin weiß sie nun, wo ihr Sohn bleibt. »Ich hab mir erst hinterher klar gemacht, was das für die Eltern war, die ja nichts wußten, denn was weiß man denn, was in der Stadt vorgeht!« Der Freund sagt ihr, daß eine Demonstration stattgefunden und die Polizei das »Komm« umstellt hat und kontrolliert. Matthias sei nicht dabeigewesen, »und wenn halt die Kontrollen rum sind, dann kommt er«.

Matthias kommt aber nicht. Gegen 3 Uhr ruft sie im Polizeipräsidium an. »Das dauert noch ein paar Stunden, dann kommt Ihr Sohn heim«, vertröstet sie ein Beamter. Als Matthias gegen Morgen immer noch nicht da ist, ruft sie wieder an. »Da war schon eine andere Stimmung.« Sie bekommt keine Auskunft, aber eine Telefonnummer, wo sie gegen zehn Uhr anrufen soll: »Da liegen dann die Listen aus.«

Vorher meldet sich die Kripo Schwabach und teilt mit, daß Matthias Gietl dort zur Überprüfung festgehalten werde. Matthias darf selbst mit seinen Eltern sprechen und ihnen sagen, wo das Auto steht. Er soll nach Altdorf in Polizeigewahrsam überstellt werden. Gietls wenden sich jetzt an einen Anwalt und fragen, was sie unternehmen sollen. Der rät ihnen, nichts zu tun, ihr Sohn müsse freikommen, denn es läge ja keine Verdunkelungs- und Fluchtgefahr vor.

Bis Samstagfrüh »war dann Funkstille«. Jetzt rufen die Eltern in Altdorf an und erfahren, Matthias sei nach Nürnberg überstellt. In der Justizvollzugsanstalt Nürnberg wird ihnen gesagt, ihr Sohn sei noch am Freitag in die Justizvollzugsanstalt Würzburg überstellt worden. »Wenn ich das jetzt so bieder erzähle«, sagt Karl Gietl, »dann hört sich das so selbstverständlich an. Aber wir haben natürlich gedacht, er wird jetzt verlegt nach Würzburg, da ist was passiert! Entweder er hat durchgedreht und hat sich an einem Beamten vergriffen, oder er hockt in einer Nervenabteilung in Würzburg, Würzburg ist bekannt als Terroristentrakt, da sitzen RAF-Leute ein. Ich war außer mir!«

Der Vater ruft in Würzburg an und bittet um Bestätigung, daß Matthias da ist: »Keine Auskunft«. Ein Ermittlungsrichter ist nicht zu errreichen. »Das«, sagt Frau Gietl, »war für uns zunächst mal der Höhepunkt, da waren wir wirklich in Panik, weil wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten, warum der jetzt in Würzburg ist.«

Das Ehepaar fährt zum Gerichtsgebäude, um irgendwie mehr über den Verbleib seines Sohnes zu erfahren. »Wir kamen in die Nähe des Gerichtsgebäudes«, erzählt Karl Gietl, » da - also ich war Kriegsteilnehmer im Westen und im Osten - eine Armee von Bereitschaftspolizei, das Gerichtsgebäude hermetisch abgeriegelt! Wir wollen zum Ermittlungsrichter. >Da müssen Sie zum anderen Eingang.< Wir gehen zum anderen Eingang: Nein, hier geht's nicht zum Ermittlungsrichter, da müssen Sie da vorn hin<, wo wir vorher waren.

Aber offiziell ist nichts in Erfahrung zu bringen. »Der Anblick dort«, erzählt Frau Gietl, »der hat mich an die Kriegsverbrecherprozesse erinnert. Ich hab damals in der Nähe gewohnt, 1946, also die strenge Bewachung und die Posten und die Kontrollgänge - ich hab gesagt, es fehlen bloß noch die Panzer. Selber hat man sich überhaupt nichts vorstellen können, man hat ja nur gewußt, unser Sohn ist ins >Komm< und hat sich einen Film ansehen wollen. Also als was ist er jetzt eingestuft - diese Unsicherheit«

»Für das Gefühl«, sagt Karl Gietl, »hab ich in meinem ganzen bewußten Leben keinen Vergleich. Auch nicht im Krieg, auch nicht die Gefangenschaft. Also dieser Einbruch mitten im Frieden -. Ich merke jetzt: Über alle Erlebnisse, beruflich oder privat, ist immer Gras gewachsen, schneller oder langsamer. Aber dies nimmt nicht nur ab, sondern je mehr Abstand ich gewinne, desto ungeheuerlicher erscheint mir dieser Vorgang! Es ist ganz seltsam, ich hab das noch nie an mir beobachtet.«

Matthias wird nach einer Woche freigelassen. Gietls haben ihn einmal in Würzburg besucht. Sie haben die Prozedur »Besuch eines U-Häftlings« erlebt und sind sich dabei selbst wie Angeklagte vorgekommen. Der Sohn, berichtet Frau Gietl, hat die Haft scheinbar gelassen überstanden. »Er gibt sich gerne kühl. Aber wie er da stand, hatte er eiskalte, patschnasse Hände.« Zu den Eltern hat er gesagt: »Jetzt seht ihr mal, wie das läuft.«

Für das Ehepaar Gietl allerdings ist der »Fall Matthias Gietl« mit der Entlassung nicht beigelegt. Für sie ist dies ein »Fall Nürnberg« geworden, der ihnen keine Ruhe läßt. »Für uns«, sagt Karl Gietl, »hat die ganze Geschichte eine fürchterliche Nebenerscheinung. Denn wir als geborene Nürnberger mit Elternhaus, Schule und so weiter haben hier einen sehr großen Bekanntenkreis. Und da mußte einfach jetzt jeder Farbe bekennen.«

In stundenlangen Unterhaltungen kommt ans Tageslicht, »was bisher unter der Wohlstandsdecke gut verborgen war«. »Wir hatten Gespräche, daraus haben wir entnommen, daß Bekannte von uns das Dritte Reich nicht nur gebilligt haben, sondern auch jetzt noch billigen. Da kamen Äußerungen wie: >wir war'n doch auch gefügig< - Lebensalter so 60, 70 Jahre - >und harn's zu was gebracht«

»Man hätt' in Ruhe damals auf die Straße gehen können, wenn's dunkel war«, unterbricht Frau Gietl, »und Arbeitslose hätt's auch nicht gegeben. Der Ruf nach dem starken Mann, der ist wieder da. Man sehnt sich wieder nach dieser Zeit zurück.«

In diesem Sommer 1981 sitzen die Gietls auf ihrer Terrasse bei selbstgebackenem Streuselkuchen, das Haus, in dem sie einen beschaulichen Lebensabend verbringen wollten, im Rücken und fühlen sich doch nicht mehr zu Hause. Sie müssen reden: Über den bayerischen Staat, der »diesen Rechtsbruch, diese Rechtsbeugung« in ihre~ugen zu verantworten hat. Darüber, daß sie sich »völlig verunsichert fühlen, wenn im Frieden so etwas passieren kann«. Und viele ihrer Freunde können ihre Unruhe nicht verstehen. »Ich könnte ebensogut. als Missionar ins Amazonasgebiet gehen«, sagt Karl Gietl.

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