Rechtsfreie Räume


Der Verfasser ist Strafverteidiger in Berlin

»Der Angeschuldigten wird zur Last gelegt, am 12. Dezember 1980 in Berlin-Kreuzberg anläßlich einer nicht genehmigten Demonstration aus einer etwa 150 Personen umfassenden Menschenmenge, die mit Steinwürfen auf die zur Räumung der Straße eingesetzten Polizeikräfte eindrang, einen Mosaikpflasterstein gegen die Polizeibeamten geworfen und später bei ihrer Festnahme durch die Polizeibeamten H. und M. um sich geschlagen und getreten zu haben, wobei M. von einem Fußtritt getroffen wurde...

Die Angeschuldigte hat eine hohe Freiheitsstrafe zu erwarten. Diese Straferwartung bestimmt sich nicht nur nach dem erheblichen Ausmaß der Gewalttätigkeiten, die die Angeschuldigte gegenüber den zur Räumung eingesetzten Polizeikräften und anläßlich ihrer Festnahme begangen haben soll.

Von maßgeblicher Bedeutung ist auch, daß, nach dem Ergebnis der Ermittlungen und für die Angeschuldigte erkennbar, die Menschenmenge von vornherein das Ziel verfolgte, schwere Ausschreitungen zu begehen... Es liegt daher nahe, daß gegen die Angeschuldigte auf eine Freiheitsstrafe erkannt werden wird, die schon wegen ihrer Höhe nicht nach § 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Sollte die Angeschuldigte, was der Senat für wenig wahrscheinlich hält, zu einer geringeren Freiheitsstrafe verurteilt werden, so wird voraussichtlich die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Strafe gebieten (§ 56 Abs. 3 StGB)...

Der Angeschuldigten wird nachzuweisen sein, daß sie die bewaffnete Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht hat. Würde unter diesen Umständen eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, so müßte das den Eindruck erwecken, daß die Gerichte gegenüber Straftätern, die in besonders schwerer Weise die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt haben, ungerechtfertigte Nachsicht üben. Eine solche Einschätzung strafbaren Verhaltens würde in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen und deren Vertrauen in eine wirksame Strafrechtspflege nachhaltig erschüttern... Kammergericht (Berlin), Beschluß vom 22. 1. 1981 - 4 Ws 15/81 -, in der Strafsache gegen Rita M.

Drei Richter haben diesen Beschluß abgefaßt:

Das unmittelbare Ergebnis dieses Beschlusses war: Rita M. mußte wieder in die Haftanstalt. In der Vorstellung von Polizei und Justiz hat sich die Geschichte wahrscheinlich so abgespielt: Am Abend des 12. Dezember 1980, gegen 18.00:

Uhr, begab sich Rita M. auf die Suche nach der bewaffneten Auseinandersetzung mit der Polizei. Die Voraussetzungen waren günstig. Sie hatte gehört, solche Auseinandersetzungen seien rund um das Kot tbusser Tor in Kreuzberg zu finden. In der Tat - so war es. Dennoch gestaltete sich die Suche der Rita M. zunächst schwierig: Ihr Ziel, schwere Ausschreitungen zu begehen, konnte sie zunächst nicht erreichen, weil sie stundenlang vor Polizeibeamten fliehen mußte. Endlich, kurz nach halb zehn am Heinrichplatz, gelang es ihr, vor erneut anrückenden Beamten, nicht rechtzeitig zu fliehen und sich festnehmen zu lassen. Zuvor hatten sich ebenfalls fliehende, aber offenbar rechtstreue Bürger sich geweigert, sie mit in eine Wohnung in der Oranienstraße zu nehmen. Am 13. Dezember verkündete man ihr den Haftbefehl, ein Vordruck, in dem das meiste schon geschrieben stand.

Auch »die Tat« war vorgedruckt: »Der/Die Beschuldigte warf aus einer Gruppe von Demonstranten im Bereich der ... einen Stein gegen die zur Räumung eingesetzten Polizeibeamten und konnte unmittelbar darauf festgenommen werden.«

Rita M. hatte noch Glück: Sie konnte wenigstens lesen, was ihr vorgeworfen wurde. Andere, die am selben Tag den gleichen Vordruck erhielten, hatten weniger Glück. In der Eile waren die individuell einzusetzenden Kurzangaben zu Zeit, Ort, Zeugen und Haftgrund über den vorgedruckten Text getippt worden, man durfte raten, was wohin gehören sollte.

Rita M. hatte auch in anderer Hinsicht Glück: Noch vor Weihnachten, am 23. Dezember 1980, gewährte ihr ein anderer Richter Haftverschonung, sie sollte aus der Haft entlassen werden und sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden. Der Staatsanwalt legte sofort Beschwerde ein und beantragte, dieser Beschwerde eine aufschiebende Wirkung zu geben, also Rita M. in Haft zu lassen, bis über die Beschwerde entschieden sein würde. Rita M. hatte immer noch Glück: Der Richter wies diesen Antrag des Staatsanwalts zurück, sie wurde entlassen. Andere hatten dieses Glück nicht.

Insgesamt gab es in jener »ersten« Nacht - 12./13. Dezember 1980 - 58 Festnahmen. Es waren 18 Frauen und 40 Männer. 19 Festgenommene waren unter 21 Jahre alt, 32 Personen waren zwischen 21 und 30, die übrigen 7 waren über 30 Jahre. alt. 36 Festgenommene wurden dem Haftrichter vorgeführt, 25 erhielten Haftbefehle, davon saßen Ende 1980 noch 5 und bis Ende Juni 1981 noch 2 in Untersuchungshaft.

Das Glück der Rita M. dauerte bis zum 22. 1. 1981. Am 12. Januar verwarf die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen ihre Haftverschonung im wesentlichen mit folgender Begründung: »Einerseits ist die konkrete Straferwartung eher im unteren als mittleren oder gar oberen Bereich des gesetzlichen Strafrahmens zu suchen, andererseits hat die Angeschuldigte jedenfalls bisher durch prompte Erfüllung ihrer Meldepflicht Anzeichen dafür geschaffen, daß sie sich unter der Drohung sonstiger Wiederverhaftung dem Verfahren nicht zu entziehen gedenkt.«

Dagegen legte der führende Sachbearbeiter für die »Kreuzberger Krawalle« bei der Staatsanwaltschaft, Staatsanwalt Müllenbrock, umgehend weiterp Beschwerde ein und begründete diese damit, daß »Anhaltspunkte dafür, daß die >konkrete Straferwartung eher im unteren als mittleren Bereich< des Strafrahmens liegt... angesichts des widersetzlichen Verhaltens der Angeschuldigten entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts m. E. nicht erkennbar« seien. Hierzu kommentierte der Vorsitzende der 4. Strafkammer kurz und bündig in der Akte: die Auffassung der Staatsanwaltschaft lasse sich »nach hiesiger Ansicht kaum mit der Tatsache der AnkIageerhebung vor dem Schöffengericht vereinbaren«. Weitere Beispiele für die überzeugende Logik im Verhalten der Staatsanwaltschaft:

Diesen Beispielen könnten Dutzende hinzugefügt werden.

Sie belegen, daß völlig unberechenbar war, ab und unter welchen Kriterien die Staatsanwaltschaft auf Inhaftierung bestehen oder einer Entlassung zustimmen würde. Der Versuch der 4. Großen Strafkammer im Fall von Rita M., ein wenig Logik, ein wenig Strafprozeßordnung, ein wenig Auf-den-Menschen-Sehen, in die richterliche Behandlung der »Krawalle« einfließen zu lassen, schlug vorerst fehl.

Ihr Beschluß, es bei der Haftverschonung für Rita M. zu belassen, wurde vom Kammergericht mit jener eingangs zitierten Entscheidung vom 22. 1. 1981 aufgehoben.

Rita M. hatte diese Entscheidung noch nicht zugestellt bekommen. Da erfuhr sie, daß das Kammergericht in einem ähnlichen Fall die Haftverschonung aufgehoben hatte. Sie beschloß, ihre »Gefährlichkeit« dadurch unter Beweis zustellen, daß sie sich freiwillig stellte.

Rita M. erschien mit ihrem Verteidiger auf dem Polizeirevier und wurde verhaftet. Der Haftbefehl wurde ihr am nächsten Tag von demselben Richter verkündet, der ihr am 23. Dezember Haftverschonung gewährt hatte. Vor dem Kammergericht kapitulierte er. Die Frage des Verteidigers, wie er nun die Fluchtgefahr

- die Voraussetzung für einen Haftbefehl ist - begründen wolle, nachdem Rita M. sich freiwillig gestellt hatte, ließ er unbeantwortet. Statt dessen nur die Bemerkung, es habe ja doch keinen Sinn, Rita M. freizulassen. Drei Tage später würde sie ja doch wieder inhaftiert werden. Also blieb sie gleich drin.

Wer hier die Frage stellt, wie denn jemand noch eindeutiger beweisen soll, daß er nicht zu fliehen gedenkt, als dadurch, daß er freiwillig zu seiner Verhaftung geht, der ist naiv. Er erhält ganz einfach keine Antwort. Denn darum geht es nicht. Es geht allein darum, »das Vertrauen der Bevölkerung in eine wirksame Strafrechtspflege nicht zu erschüttern«. Auch wenn dabei Haftbefehle wegen Fluchtgefahr dort erlassen werden, wo offensichtlich keine Flucht beabsichtigt ist. Wer wird sich denn von irgendeinem dummen Paragraphen aufhalten lassen, in dem steht, daß ein Haftbefehl Fluchtgefahr voraussetzt, wenn das Kammergericht dazu aufruft, die Rechtstreue der Bevölkerung zu verteidigen?

 Rechtsfreie Räume.

Am 2. Februar 1981 unterwarf sich auch die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin den Anweisungen des Kammergerichts und bestätigte ohne weitere Begründung, ausschließlich mit dem Hinweis auf die Entscheidung des Kammergerichts, die Haftfortdauer gegen Rita M. Erst als Rita M. sich einer Sprache bediente, die auch die Kammerrichter verstehen: erst als sie über ihre Eltern DM 50000,- Kaution anbot, erst, als ihre Eltern eidesstattlich versichert hatten, daß sie dieses Geld auch tatsächlich selbst aufgebracht hatten - was das heißt: in einem kleinen Dorf auf dem Lande, wo jeder auf jeden mit dem Finger zeigt, dort zum Bankdirektor gehen zu müssen, erzählen zu müssen, daß die Tochter in Haft sitzt, daß man Kredit braucht für eine Kaution. Eltern können sehr tapfer werden, wenn man ihre Kinder schlägt -, erst da beschloß das Kammergericht am 9. März 1981, Rita M. auf freien Fuß zu setzen.

Das geschah am 10. März. Aber das Gericht hatte sich gründlich abgesichert: einmal die Woche bei der Polizei melden, 50000,- DM Kaution, Personalausweis und Reisepaß eingezogen. Am 21. April 1981 wurde Rita M. wegen schweren und einfachen Widerstandes zu zehn Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt, der Haftbefehl wurde aufgehoben. Sie hat Berufung eingelegt. Rita M., damals 21 Jahre alt, Studentin der Germanistik und Sozialkunde, damals im 6. Semester, nicht vorbestraft. Wenn dieser Staat diese Frau nicht schon im Dezember 1980 verloren hatte, so hat er es jetzt. Er hat sie auch nicht verdient.

Das Beispiel der Rita M. zeigt, welche Wirkung der Beschluß des Kammergerichts vom 22. Januar 1981 von Anfang an hatte. Es zeigt aber auch, welche Grenzen diese Wirkung bisher hatte. Rita M. hat Bewährung bekommen, obwohl das Kammergericht gerade zu ihr gesagt hatte, Bewährung - das dürfe nicht sein.

Schon die Staatsanwaltschaft hat von jenem Kammergerichtsbeschluß keineswegs auf breiter Linie Gebrauch gemacht. Sie hat durchweg niedrigere Strafen beantragt, als in jenem Beschluß »vorgesehen« waren. Sie hat auch nicht etwa sofort nach Erlaß dieses Beschlusses die umgehende Verhaftung all derer beantragt, die man zuvor zwar festgenommen hatte, aber dann wieder laufen ließ. Die Staatsanwaltschaft hat sich vielmehr an einigen auserwählten Fällen »festgebissen« und nur in diesen Fällen mit allen Mitteln die Inhaftierung durchgesetzt. Man hat niemals eine Erklärung dafür gehört, warum gerade in diesen Fällen und in anderen nicht. Gerade dies hat schon im Dezember 1980 kaum eine andere Schlußfolgerung zugelassen als die, daß es der Staatsanwaltschaft eben nicht um juristische Abwägung, Interpretationen und Konsequenzen ging. Es ging ihr offenbar um etwas ganz anderes, darum nämlich, Politik zu machen, eine Politik der Nadelstiche und Provokationen, eine Politik, die Unruhe schaffen und erhalten sollte - gegen die Politik des damaligen »sozial-liberalen« Senats von Berlin.

Der nämlich war im Dezember 1980 gerade so weit gekommen, daß er glaubte, sich Hoffnungen machen zu dürfen, das »Hausbesetzer-Problem« friedlich lösen und beilegen zu können. Von Anfang 1980 an waren - nach vereinzelten Vorläufern - immer wieder Häuser in Berlin besetzt worden, damals fast alle in Kreuzberg. Zwischen 20 und 25 Häuser waren es bis Dezember 1980. Häuser, die zuvor, teils seit Jahren, leer gestanden hatten, weil es für ihre Eigentümer profitabler war, sie verrotten zu lassen, als sie instand zu setzen und bewohnbar zu erhalten. So wurden sie »instandbesetzt«. Der Senat stand diesem Problem zunächst recht zögernd und unentschlossen gegenüber. Zwar erhob er mahnend den Zeigefinger und wies darauf hin, daß Instandbesetzung Hausfriedensbruch und damit rechtswidrig sei - aber schon das Wort »kriminell« kam ihm nicht so recht überzeugend von den Lippen. Die Sympathie für die Instandbesetzer in der gesamten Bevölkerung war zu breit und zu offenkundig, und ihre Gründe lagen zu deutlich auf dem Tisch. Immerhin gab es mindestens 80000 Wohnungssuchende in Berlin, immerhin gab es Hunderttausende in Berlin, die schon in den Genuß der offiziellen Wohnungsbau- und Sanierungspolitik gekommen waren. Kaum noch bezahlbare Mieten in neuerbauten, sogenannten »Sozial«-Wohnungen, kaum noch bewohnbare Räume in den relativ billigen Altbauten, die Zerschlagung gesellschaftlichen Zusammenlebens im alten Kreuzberger »Kiez« durch das Plattwalzen ganzer Wohnblöcke und das Dazwischenhämmern schauerlicher Betonkästen und Abschreibungsruinen - das wog für die Menschen in Kreuzberg weitaus schwerer als der gesetzlich geschützte Frieden in gähnend leeren feuchten, verschimmelten, entmieteten Häusern. Daß gegen diese Zustände etwas unternommen werden mußte - und daß man jahrelang zugesehen und nichts unternommen hatte -, das konnte der Senat schlecht abstreiten. Und da er andererseits auch kein Konzept in der Hand hatte, wie der Wohnungsnot nun ganz schnell Einhalt geboten werden konnte, blieb nichts übrig als zu verkünden, daß man ein gewisses: Verständnis für die Hausbesetzer habe und sich bemühen werde, eine angemessene Lösung zu finden. Bis dahin, so hieß es mehr oder weniger offen, und so wurde es praktiziert, sollten die Besetzer in den Häusern bleiben dürfen.

So ließ man im Jahre 1980 rund 20 Hausbesetzungen mehr oder weniger kommentarlos »durchgehen«. Es war Anfang Dezember 1980, als der Senat meinte, endlich einen gangbaren Weg zur Lösung des Instandbesetzerproblems gefunden zu haben. Eine »Konzeption« war ausgehandelt worden, die im wesentlichen folgende Punkte umfaßte:

Bezeichnenderweise traute sich der Senat mit diesen Vorschlägen nun nicht etwa selbst an die Instandbesetzer heran. Das hätte ja bedeutet, auf höchster staatlicher Ebene mit Rechts-, nämlich Hausfriedensbrechern in Verhandlungen einzutreten, und so was tut man eben nicht, auch wenn man dazu gezwungen ist. Also fand man einen Ausweg: Die Verhandlungen mit den Besetzern sollten vom Sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt in Berlin geführt werden; dieses Institut sollte sogleich auch neuer Besitzer der als Ersatzobjekte ausgewählten Häuser werden, ausgestattet mit einem Erbpachtvertrag.

Am Donnerstag, den 11. Dezember 1980 war es so weit: Höchste Senatsvertreter setzten sich mit den Spitzen jenes Sozialpädagogischen Instituts zusammen und vereinbarten, daß dieses Institut sich nunmehr an die Instandbesetzer wenden und diesen die Angebote des Senats - quasi als eigene Vorschläge - unterbreiten und die Verhandlungen darüber aufnehmen und führen sollte.

Bis dahin wußten von,diesem Plan nur wenige auserwählte Leute in Senat und Arbeiterwohlfahrt; die Öffentlichkeit war ebensowenig informiert wie vor allem die Instandbesetzer selbst. Und bevor es zu solchen Informationen an die Besetzer und an die Öffentlichkeit kam, begann der Krieg in Kreuzberg.

Am Freitag, dem 12. Dezember 1980, gegen 17 Uhr fuhren ungefähr zehn junge Leute mit einem Möbelwagen vor dem Haus Fraenkelufer 48 in Kreuzberg vor und machten Anstalten, dieses Haus zu besetzen.

(»Fraenkelufer 48: Eigentümer ist die GSW - »Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft mbH.« Ihre Gemeinnützigkeit hat diese Gesellschaft - wie in anderen Fällen auch - am Fraenkelufer 48 dadurch bewiesen, daß sie dieses Haus seit Jahren systematisch verfallen ließ, damit es endlich einen unbewohnbaren Zustand erreichen sollte, in dessen Folge man eine Abrißgenehmigung zu erhalten hoffte, um schließlich mit dem Neubau teurer Wohnungen und der Erzielung hoher Profite beginnen zu können. Ein ganz durchschnittlicher Fall. Vorsitzender des Aufsichtsrats der GSW: Horst Lekutat, Senatsrat.)

Eine »ganz normale« Besetzung stand an. Wie in anderen Fällen zuvor auch, rief irgend jemand die Polizei an - niemand von der GSW übrigens. Von denen war noch Stunden später keiner erreichbar. Die GSW hatte auch weder einen Strafantrag gegen die Besetzer gestellt noch die Polizei um Verhinderung der Besetzung gebeten. Auch bei früheren Besetzungen war die Polizei erschienen. Aber anders als in früheren Fällen griff sie diesmal ein. Sie verhinderte die Besetzung und nahm sieben der verhinderten Hausbesetzer vorläufig fest. Das war um 17.05 Uhr.

Um 17..30 Uhr hatten sich - nach Polizeiangaben - 30 bis 40 Personen vor dem Haus Fraenkelufer 48 versammelt. Um 17.45 Uhr wurden in den Straßen rund um dieses Haus die ersten Barrikaden gebaut, flogen die ersten Steine gegen Polizeifahrzeuge. Um 18.10 Uhr begann die Polizei, die Barrikaden zu beseitigen und die »Störer« vom Fraenkelufer weg durch die Admiralstraße in Richtung Kottbusser Tor abzudrängen, »unter Anwendung des Schlagstockes und von Tränengas«, wie es im polizeilichen Verlaufsbericht heißt. Gegen 19.00 Uhr war die Zahl der »Störer« auf einige Hundert angewachsen.

Der weitere Verlauf des Abends war gesichert. Horst Schattner, 60 Mietervertreter im Bereich Fraenkelufer, auf einer Pressekonferenz am 15. 12. 1980:

»... Ich habe an der Admiralstraße nach sieben Uhr erlebt, wie die Polizei die Brücke gestürmt hat. Das war so eine Bastion, sie hatte wohl Angst, daß Steine ins Wasser fallen. Ich habe niemals gehört, daß die Polizei gesagt hat, >räumen Sie bitte die Straße<. Ich habe aber öfter gehört: >Marsch, Marsch! <, und dann zogen sie los mit ihren Schildern wie die

alten Römer, den Knüppel hoch, und daneben solche, die die Gasgranaten aufgeputzt haben, und dann scheuchten sie die Leute die Admiralbrücke runter, Admiralstraße rein... Ich habe gesehen, daß man sie nach sieben Uhr in Richtung Kottbusser Tor trieb, offensichtlich meinte die Polizei, dort sind die Scheiben zum Zerschlagen, und sie haben ja recht gehabt...

Ich habe heute gelesen, daß die Polizeiführung sagt, man habe schon seit Anfang des Jahres gewußt, daß so etwas passiert, man wußte nur nicht wann. Ja schläft denn dieser Hübner (der Polizeipräsident, Anmerkung des Verfassers)? Wir haben ihm oftmals gesagt, was passiert, wenn ein Haus geräumt wird.

Ich war ungefähr um halb acht am Kottbusser Tor. Da war man gerade dabei - die Leute waren ja alle da hingescheucht worden und die Polizei war ja an der Admiralbrücke stark vertreten -, da war man also dabei, eine Scheibe nach der anderen zu knacken bei den Banken. Kein Polizist zu sehen. Ja, und dann hat wohl die Einsatzleitung am Carl-Herz-Ufer das mitbekommen, wie bedrohlich die Sache ist, und dann hat sie ihre Polizeimacht hingeschickt: Ein Funkwagen mit zwei Beamten drin! Und die stellten sich dann auf. Ich find, das war eine Provokation der Polizei gewesen, genau vor das Hochhaus an der Kottbusser Straße Nr. 1, vor einer kaputten Scheibe, da, wo es am hellsten war, wo alle Demonstranten waren. Und der stellte sich also dort hin, wo es am hellsten war, dann stiegen die beiden Beamten aus, diese Hirnis, und haben den Wagen leer stehen lassen. Ja warum denn - damit man ihn umkippt. Da hatte die Polizei ihr umgekipptes Fahrzeug...«

Polizeifunk - im Kreuzberger Jargon »Radio Krawall« -, Zeitraum ca. 19.00 Uhr bis 21.00 Uhr; Ausschnitte:

Polizeifunk, etwa 1.30 Uhr: »53121. Außerdem ist das Ding doch leer, da sind doch gar

keine Schuhe mehr drin. Salamander macht doch sowieso Geschäftsaufgabe, und was soll denn da noch gesichert werden? ... es geht hier nicht um irgendwelche Verhältnismäßigkeit! « Pressekonferenz am 15. 12. 1980; Werner Orlowsky, Drogeriebesitzer am Oranienplatz/Kreuzberg, Mietervertreter und SpWcher der Gewerbetreibenden im Sanierungsgebiet, über Plünderungen:

»... Ich war zwar kein Augenzeuge, aber nach alldem, was ich gehört habe - ich habe mit ca. 100 Leuten gesprochen -, was sich durch meine berufliche Tätigkeit zwangsläufig ergibt... war es der berühmte repräsentative Querschnitt der Kreuzberger Bevölkerung, darunter auch solche Leute, z. B. völlig unpolitische, gerade aus dem Kino gekommen, nach Hause gegangen, aus der U-Bahn gekommen, der eine hat die Hemmschwelle, der andere sagt: Möönsch, kiek mal, da bei >Aldi< ist ja kein Fenster mehr drin. Da 'ne Stange Zigaretten rausgeholt, das tut denen nicht weh, und mir hilft's bis zum Monatsende weiter. Womit ich nicht sagen will, daß ich so was auch tun würde. Aber es ist wie in allem, ob man etwas kausal erklären kann oder ob man das billigt oder nicht. In so einer Situation ist so etwas wie eine Eigendynamik mit im Spiel. Ich will damit sagen, die einseitige Darstellung, die alleinige Schuld an dem Abend hätten die Instandbesetzer, die hätten geplündert, und nur die, so die, berühmte Einteilung, hier Engel, da Teufel, das stimmt nicht.«

Gegen 1.30 Uhr fährt am Oranienplatz eine »Wanne«, ein Mannschaftswagen der Polizei, mit Vollgas auf eine Barrikade los, die unter anderem aus großen, runden Blumenkübeln aus Beton besteht. Vor einem dieser Kübel steht Rüdiger H. Die Wanne fährt mit hohem Tempo gegen ihn, er klappt nach hinten um, liegt mit dem Oberkörper im Blumenkübel, seine Beine sind zwischen Wanne und Kübel zerquetscht. Die Wanne setzt zurück, steht, gibt Gas, fährt noch einmal gegen Rüdiger H. Als später der Notarztwagen der Feuerwehr eintrifft und Rüdiger H. in das Krankenhaus bringen will - wo er heute noch liegt -, werfen Polizeibeamte Tränengas zwischen die Feuerwehrleute.

Polizeifunk, ca. 2.00 Uhr:

»... da ist ein Demonstrant von Polizeiwagen angefahren worden... verbuchen wir das ganze Ding unter Verkehrsunfall, oder erstmal einfach: verletzte Person.

Uns is det eijentlich relativ egal...«

Wer am 13. Dezember 1980 und an den Tagen danach die Berliner Tageszeitungen einigermaßen aufmerksam las, mußte verblüfft sein - nicht so sehr über die Art der Berichterstattung; daß da nur von Randalierern, Plünderern, Chaoten, Kommunisten, Kriminellen die Rede war, gegen die die Polizeisichnurgewehrthabe - daskonntenichtüberraschen. Was überraschte, war eine offensichtliche Falschmeldung: Anlaß der Straßenschlachten sei nämlich, so meldeten fast alle Zeitungen am 13. 12. 1980 unter Berufung auf einen Polizeibericht, die Verhinderung der Besetzung eines Hauses durch die Polizei gewesen - des Hauses Admiralstraße 18. Erstam14. und15. Dezember1980begannensichdie Zeitungen auf eine neue Version zu einigen: die Besetzung des Hauses Fraenkelufer 48 sei verhindert worden, aber zugleich sei das Haus Admiralstraße 18, erst wenige Stunden zuvor besetzt, geräumt worden. »Tagesspiegel« und »Spandauer Volksblatt« vom 14. 12. 1980: Die Auseinandersetzungen hätten »nach Darstellung der Polizei am Freitag gegen 17 Uhr begonnen, als die Polizei ein besetztes Haus in der Admiralstraße geräumt und die Besetzung eines Hauses am Fraenkelufer verhindert hatte«.

Merkwürdig war nur: Bis zu diesem Zeitpunkt war das Haus Admiralstraße 18 noch nicht besetzt worden, niemand hatte das versucht, auch nicht am 12. Dezember, und - natürlich - kein Polizist hatte versucht, dieses Haus zu räumen. Da war nichts zu räumen. Ein paar Polizeibeamte hatten lediglich am Abend des 12. 12. 1980 vor diesem Haus Wache gestanden, niemand wußte, warum.

Und niemand wußte auch, zunächst, warum die Polizei nun behauptete, es sei um die Admiralstraße 18 gegangen. Anfangs konnte man das für einen belanglosen Irrtum halten. Erst am 15. 12. 1980 stellte sich heraus, daß es kein Irrtum war, sondern eine gezielte Falschmeldung: Der »Abend« brachte an diesem Tag ein Interview mit dem Polizeipräsidenten Hübner. Der sagte:

»Die Folgen dieses Einsatzes vom Freitag haben wir nicht absehen können. Wir haben nur den Auftrag geben müssen, die Besetzung dieser zwei Häuser zu verhindern... Ich mußte dabei auch ins Kalkül ziehen, was mir vom Senator Bau-Wohnen und vom Bezirksamt gesagt wurde; daß nämlich genau dieses ein Objekt sein sollte, das man in Verhandlungen solchen Leuten anbietet, die ihrerseits zeigen wollen, daß man mit eigenen Mitteln ein solches Haus durchaus wieder instand setzen und bewohnen kann. Und das ist absurd: Ein solches Haus diesen Möglichkeiten zu entziehen...«

Die Erklärung für den Polizeieinsatz war gefunden. Senatssprecher Meyn am 15. 12. 1980, laut »Morgenpost« vom nächsten Tag: Bei den Auseinandersetzungen habe es sich um einen »möglicherweise gezielten Angriff« gehandelt, der das Ziel gehabt habe, »eine Aktion des Bausenators zur friedlichen Regelung des Problems der >Instandbesetzer< zu vereiteln«. Der Bausenator habe nämlich schon eine Woche zuvor vom Senat die Genehmigung bekommen, zwei leerstehende Kreuzberger Häuser - eben die Admiralstraße 18b und 18d - den Instandbesetzern anzubieten.

Ebenso am 15. 12. 1980 der Sanierungsbeauftragte des Bausenators Kujath, gegenüber dem »Tagesspiegel«. Gerade eines der beiden vom Senat zunächst vorgesehenen Häuser mit Ersatzwohnungen sei Anlaß für die Straßenschlachten in der Nacht vom Freitag zum Samstag gewesen. Er - Kujath - könne nicht ausschließen, »daß möglicherweise einige Tage vor dem geplanten Gesprächsbeginn zwischen der Arbeiterwohlfahrt und einem Teil der Besetzer militante Gruppen aus deren Reihen von den Senatsplänen erfahren hätten und diese mit der versuchten Besetzung am Freitagabend verhindern wollten«.

Schließlich stieß der Bausenator persönlich - Harry Ristock, früherer Exponent des »linken« Flügels der SPD, Anti-Vietnamkriegs-Demonstrant 1968 - in das gleiche Horn. Am 16. 12. 1980 gab er dem »Abend« ein Interview, das dieser am 17. 12. unter der Überschrift »Ristock: Chaoten zerstören mir meine Politik nicht« veröffentlichte: »Nach einem Modell des Senats und der Arbeiterwohlfahrt sollte das Problem >Instandbesetzer< dadurch gelöst werden, daß gewisse Häuser gezielt für >Instandbesetzer< - als Ersatzprojekte - angeboten werden sollten. Und genau dies war ein solches Haus. Es sollte in der provokatorischen Absicht besetzt werden, ganz gezielt Kompromisse kaputtzumachen. Progressive Politik werde ich mir nicht durch einen Haufen Chaoten zerstören lassen... Aber wer ein Haus besetzt, das wir gerade als Ersatz für Besetzer bereitgestellt haben, ist halt ein finsterer Heuchler und schamloser Provokateur.«

Am Anfang war also die Lüge. Denn die ganz offiziell verbreitete Theorie, wonach militante Instandbesetzer die Straßenschlachten vom 12. Dezember provoziert hatten, um die friedlichen Konzeptionen des Senats zu durchkreuzen, steht und fällt mit der Behauptung, das Haus in der Admiralstraße 18 hätte besetzt werden sollen. Und eben das stimmt nicht. Stein des Anstoßes war das Haus Fraenkelufer 48, und das war für den Senat bis dato ebenso uninteressant, wie es die Admiralstraße 18 am Abend des 12. Dezember für die Besetzer war. Alle Augenzeugen, alle Polizeibeamten in den bisherigen Verfahren, alle Akten belegen, daß es ausschließlich um das Fraenkelufer 48 ging.

Es wäre eine Hausbesetzung geworden, die den Zeitungen am nächsten Tag allenfalls einen Fünfzeiler wert gewesen wäre, wie schon viele Male zuvor: »Gestern nachmittag besetzten etwa 10, vorwiegend jugendliche, Personen, ein leerstehendes Haus am Fraenkelufer in Kreuzberg. Es war die soundsovielste Hausbesetzung in Berlin. Die Polizei war am Ort, griff aber nicht ein. Eigentümerin des Hauses ist die GSW, die bisher keinen Strafantrag gestellt hat.«

 Warum also griff die Polizei ein?

Der Senat hat seinen Erklärungsversuch dafür an die falsche Anschrift, Admiralstraße 18 geknüpft und gemeint, seine friedliche Lösungskonzeption für die Instandbesetzerprobleme sei durch militante Besetzer bedroht gewesen. Dagegen ist nur eine These denkbar, die sich zwanglos ergibt, wenn man die falsche Anschrift korrigiert und das Datum berücksichtigt, den 12. Dezember 1980, einen Tag nach jenem 11. Dezember, an dem der Senat seine Konzeption mit der Arbeiterwohlfahrt abgesprochen und beschlossen hatte. Dann lautet die einzig logische Erklärung: Militante Kreise innerhalb der Polizei haben offenbar von den Senatsplänen, sich friedlich mit den Hausbesetzern zu einigen, frühzeitig erfahren und sich entschlossen, solche Kompromisse ganz gezielt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit kaputtzumachen.

Friedliche Lösungen brauchen Ruhe, Handlungsspielraum auf beiden Seiten. Straßenschlachten bringen die Notwendigkeit von Polizeieinsätzen, bringen Handlungszwänge für die Politiker, die Verhandlungsbereitschaft beiseitedrängen. Und sie bringen Verletzte, Verhaftete, Verurteilte auf seiten der Instandbesetzer und ihrer Freunde, auch auf dieser Seite also eine Atmosphäre, die kaum für das besonnene Sitzen am Verhandlungstisch geeignet ist.

Diese Mechanismen waren im voraus berechenbar, sie lagen fest, sie waren bekannt, sie würden so ablaufen und nicht anders. Jeder hat es gewußt, auf beiden Seiten: der Krieg wird da sein, wenn ein Haus geräumt, eine Besetzung verhindert wird. Die Polizei, alle, die daran interessiert waren, konnten sich darauf verlassen.

Es gab, und es gibt genügend Leute in Berlin, die an diesem Krieg interessiert waren und sind: allen voran die CDU, die Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund, die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin - mit einem Wort die Reaktion. Das Stichwort, um das ihre Politik kreiste, war und ist: »rechtsfreie Räume«, die es nach ihrer Ansicht in Kreuzberg - ganz besonders dort - gab, die dort wuchsen, und die es nicht geben durfte.

Darin waren sie sich noch mit der anderen Fraktion einig: auch der Senat, die SPD und FDP, die Gewerkschaft der Polizei im DGB und die übrigen Vertreter der »Berliner Linie« gegenüber den Hausbesetzern - auch sie sahen die »Gefahr« daß »rechtsfreie Räume«, entstehen könnten, auch sie wollten das verhindern. Die Frage war nur wie? Das Ausmaß ihres Engagements dabei wird kaum verständlich, wenn man als Anlaß dieser Auseinandersetzung nur die Instandbesetzungen in Berlin sieht. Ganz offensichtlich sehen beide »Fraktionen«, die »Falken« wie die »Tauben«, das Problem sehr viel breiter und grundsätzlicher. Und damit haben sie recht.

Denn in der Tat markieren die Hausbesetzungen nur eine - allerdings wesentliche - der Fronten, an denen das hierzulande herrschende wirtschaftliche und politische System gegen seinen Untergang zu kämpfen hat. Um eine der wesentlichen Fronten handelt es sich deshalb, weil hier der auf private Profite und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft orientierten Gesellschaftsordnung Menschen gegenübertreten, die sich nicht mehr nur wehren, sondern die ihre eigenen, oft noch unbeholfenen, aber in Ansatz und Richtung dennoch klar erkennbaren Ideen von Inhalten und Organisation ihres eigenen Lebens entwickeln. So werden zumindest in Umrissen und Ansätzen Alternativen zur etablierten »Ordnung« sichtbar, und nicht nur der Wille zu ihrer Vernichtung. Stünde am Ende der gegenwärtigen Auseinandersetzungen in dieser Gesellschaft nichts anderes als die Aussicht auf deren Zusammenbrechen, Chaos und Perspektivelosigkeit, dann hätten es »die da oben« leicht, diejenigen in Schach zu halten, die unter den obwaltenden gesellschaftlichen Strukturen immer mehr und immer fühlbarer zu leiden haben. Wo aber in den Handlungen dieser Menschen, in ihren Kämpfen und in ihrem Leben zugleich die Möglichkeit anders zu leben, deutlich wird, da wird es in der Tat gefährlich für diejenigen, welche von der etablierten Ordnung profitieren. Gefährlich wird es dort, wo Menschen nicht mehr bereit sind, ihre Wünsche nach Veränderung zu delegieren, i anderen, wie politischen Parteien und Parlamenten, anzuvertrauen, auf Besserung durch Wahlen zu hoffen. Noch gefährlicher wird es dort, wo Menschen nicht mehr die vorgegebenen »legalen« Wege beschreiten, sondern sich auf ihre eigene Kraft besinnen und diese unmittelbar einsetzen. Das, was so gern als »neue Jugendbewegung« bezeichnet und verharmlost wird, hat in wichtigen und breiten Bereichen diesen Weg längst beschritten. Zum Beispiel dort, wo es um die Verhinderung von Atomkraftwerken geht und wo von diesem Ansatzpunkt aus eine breite und wirkungsvolle Ökologiebewegung noch ganz andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen beginnt. Dazu zählen auch die neue Friedensbewegung, deren Ausgangspunkt die »Nachrüstungs-Beschlüsse« der NATO sind oder die Instandbesetzerbewegung, die offenbar eine besondere Kraft zu entwickeln vermag. Sie muß sich nicht auf Reisen begeben, um ihren Widerstand zu artikulieren, denn dort, wo sie kämpft ist sie auch zu Hause. Und sie hat »etwas in der Hand«, besetzte Häuser nämlich. Instandbesetzungen sind auch Protest gegen die Wohnraumvernichtungspolitik der letzten 20 Jahre. Aber sie sind noch viel mehr: nämlich Folge der Notwendigkeit, geeigneten Wohnraum zu haben, um die eigenen Vorstellungen von Leben entwickeln und erproben zu können. Das Zusammenleben größerer Lebensgemeinschaften ist in der Zwei-Zimmer-Neubau-Sozialwohnung ebensowenig vorstellbar wie die Entwicklung kommunikativen Zusammenlebens zwischen den Betonklötzen der Trabantenstädte. Die besetzten Häuser - in Kreuzberg kann man schon fast von besetzten Stadtteilen sprechen - sind deshalb sehr wohl Stützpunkte, Bastionen einer neuen Gesellschaftsordnung, die im Schoße der alten »Ordnung« heranwächst und schon sehr kräftig darin herumstrampelt. Diejenigen, die ihre Aufgabe darin sehen, die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zu erhalten, haben das Problem, sehr wohl erkannt. Ihre Führungskräfte wissen ja auch noch! besser als der Durchschnittsbürger, was die Zukunft in ihrem Staat bringen wird. Sie haben die Institute, die Statistiken, die Zahlen, die Prognosen. Sie wissen, daß der Fortschritt der Automation im Produktionsprozeß nicht aufgehalten werden darf, wenn das System erhalten, die Konzerne »konkurrenzfähig«, die Profite hoch bleiben sollen. Sie wissen, daß damit zwangsläufig eine Vergrößerung des Arbeitslosenheers verbunden ist. Sie wissen, daß dieses System zwar darauf eingerichtet ist, eine gewisse Zahl von Arbeitslosen am Leben zu erhalten und zu finanzieren, daß aber die Regeln, nach denen gesellschaftlich erarbeiteter Reichtum hierzulande verteilt wird, es ausschließen, den Massen, die jetzt schon arbeitslos sind und es in den nächsten Jahren noch werden, einen auch nur halbwegs annehmbaren Lebensstandard zu garantieren. Profite werden privat eingestrichen, Verluste werden sozialisiert und von allen gemeinsam bezahlt. Aber das Interesse an Arbeitskräften sinkt, Computer und Walzstraßen werden nicht krank, und die Steuergelder braucht die Industrie jetzt direkt, um den Profit zu steigern: sie braucht Rüstungsaufträge, sie braucht Straßenbau-Aufträge (nicht weil die Straße, sondern weil der Gewinn gebraucht wird), und sie braucht Subventionen (gerade in Berlin). In Berlin sind der Steglitzer Kreisel, das Kudamm-Karree, das Neue Kreuzberger Zentrum, die Garski-Pleite Landmarken dieser Entwicklung. Und manchem staunenden Bürger werden diese Zusammenhänge plötzlich deutlich. Er begreift, daß es auf ihn und seine Bedürfnisse ganz offenbar nicht ankommt, daß dieses System auf ihn keine Rücksicht mehr nehmen kann, wenn es überleben will.

Das ist die »Gefahr«, mit der sich Politiker und Unternehmer konfrontiert sehen. Daß die Menschen in diesem Land, je näher ihnen die Krise des Systems unmittelbar auf die Haut rückt, immer mehr vom Funktionieren dieses Systems begreifen.

Wem seine alte Wohnung in Kreuzberg gewissermaßen unter dem Hintern abgerissen wird, wer aus seiner vertrauten

Umgebung mit den Nachbarn gegenüber, der Stammkneipe an der Ecke, dem Tante-Emma-Laden gleich daneben herausgerissen und in die Betonsilos und Konservendosen-Wohnfächer der Trabantenstädte hineingestopft wird und dafür die doppelte und dreifache Miete zahlen darf, dann noch seinen Job verliert, weil der Chef genug Subventionen eingestrichen hat oder weil eine neue Maschine angeschafft wurde, und wer dabei noch zusehen muß, wie der 15-jährige Sohn einen Arbeitsplatz, eine Lehrstelle gar nicht erst findet und seine Zeit mit Alkohol, Heroin und Kraftfahrzeugdiebstahl verbringt - wer dann die Politiker und die »Bild«-Zeitung sagen hört, wer Arbeit suche, werde sie auch finden, wer keine habe, sei arbeitsscheu - der wird irgendwann wie von selbst begreifen, was der neue amerikanische Außenminister meint, wenn er sagt, es gebe wichtigere Dinge als den Frieden.

Schon heute ist nicht mehr auf jede Lüge der Politiker Verlaß.

Der Druck, den diese Gesellschaftsordnung auf den sogenannten »Freizeitbereich« der Menschen legt, ist gewaltig - er muß es sein, weil gerade hier die Menschen nicht ohnehin so stark unter Kontrolle und Druck stehen wie im Arbeits- und Produktionsprozeß. Kein Wunder also, daß gerade in diesem Bereich sich die ersten alternativen Kulturformen entwickelt haben, daß sie gerade hier kaum zu bändigen sind. Die Gammler, die Tramper, die Happenings, die Theater- und Filmemacher, der Blues-Rock der sechziger Jahre, die Öko-Freaks, die Sonnenenergie-Bastler, die Straßentheater- und Kabarett-Gruppen, die Hunderte von Punk- und New-Wave- oder Blues- und Folkmusic-Bands allein in Berlin, die Funks in den Straßen - lebende Happening-Kunstwerke von eigener Hand -, die Hauswand-Bemaler in Kreuzberg, die alternativen Schulen und die Kinderläden, die Schraubkollektive für Auto- und Motorrad- Reparaturen auf den Hinterhöfen, alternative Sprachenschulen, Lebensmittel- und Fahrradgeschäfte, Off-Ku-damm-Kinos - sie alle sind Bestandteil einer wild und phantasievoll wuchernden neuen, eigenständigen Kultur, deren Vertreter es egal ist, ob andere sie schön finden, die es oft schön findet, häßlich zu erscheinen, weil für sie allein wichtig ist, daß die Menschen sich in ihrer Arbeit artikulieren.

Wenn der Typ aus dem besetzten Haus um die Ecke sich im Punkschuppen »SO 36« in der Oranienstraße an seiner Gitarre abarbeitet, sich in Schweiß spielt, die Technik seines Instruments bändigt und umformt in ein Sprachrohr für das, was er zu sagen hat und wofür die herrschende Sprache keine Worte bereithält, dann trifft er im Saal auf das gleiche hitzige Bedürfnis, sich zu verständigen, rauszuhämmern, rauszuschreien, was Sache ist.

Sicher, es gibt auch Unterdrückung von Starken gegenüber Schwachen innerhalb der »scene«, von Männern gegen Frauen - und umgekehrt -, es gibt Schlägereien, Diebstähle, Denunziationen und Verrat, Rückzüge und Irrsinnsaktionen, Enttäuschungen und Unfähigkeit.

Aber die »scene« holt nicht die Polizei, wenn einer durchdreht und um sich schlägt oder in der Wohngemeinschaft die Kasse klaut. Sie verläßt sich auf ihre eigenen Kräfte. Wenn die Grenze erreicht ist und alles nichts nützt, dann fliegt derjenige, der nicht lernen will, sich nicht mehr verändern kann, wenn er aktiv Schaden stiftet, raus aus der »scene«, das ist mehr als genug »Strafe«.

Kämpfen, lernen, leben - das war die Parole des ersten besetzten Hauses in Berlin, des Georg-von-Rauch-Hauses 1971, benannt nach dem kurz zuvor erschossenen Genossen, der zu den zentralen Figuren des »Blues« im Berlin der späten sechziger Jahre gehört hatte. Die Lernprozesse in der »scene« mögen langsam voranschreiten und Rückschläge einschließen; aber sie werden von den Menschen selbst gemacht, von ihnen selbst entwickelt, auf ihren eigenen Erfahrungen, Erfolgen, Niederlagen und Fehlern aufgebaut, laufen in eigener Regie, sind nicht von anderer Seite vorgezeichnet. Vor allem werden sie von Leuten gemacht, die, anders als die Studenten von 1968, keine Alternative mehr haben: Das Rückgrat, den »harten Kern« der Bewegung bilden nicht mehr Studenten, sondern arbeitslose Jugendliche, ältere Arbeitslose, Jungarbeiter, »Entwurzelte« aller Art; Leute, denen die herrschende Ordnung nichts bieten kann und nichts bieten will - und die sich selbst nichts bieten lassen. Auch die Situation der Studenten hat sich geändert seit 1968, auch sie sind kaum noch mit dem Angebot eines guten Platzes in dieser Gesellschaft - beim »Marsch durch die Institutionen« - zu korrumpieren, weil diese Plätze ohnehin rar werden; auch sie sehen in der Regel jahrelange Arbeitslosigkeit, ausgefüllt mit Nebentätigkeiten eher proletarischer Natur, vor sich, auch ihnen fällt es zunehmend leichter, mit der Bestimmung, die ihnen ihre Eltern und Lehrer ursprünglich zugedacht hatten, radikal zu brechen.

Ganz allgemein kann man beobachten, daß immer mehr Leute erkennen, daß ihr Risiko unvergleichlich größer ist, wenn sie sich den herrschenden Lebensbedingungen anpassen, als wenn sie sich dagegen wehren. Mit dem Strom schwimmen heißt - und das wird immer leichter einsehbar, sehenden Auges in die radioaktive und sonstige Verseuchung, den atomaren und sonstigen Krieg, in die materielle und seelische Verarmung hineinzutreiben. Sich wehren heißt: riskieren, daß man zusammengeschlagen wird, riskieren, daß man verhaftet wird, riskieren, daß man seinen Job verliert (aber was verliert man da schon...), riskieren, daß man weniger Geld hat (aber man kann lernen, weniger zu brauchen), riskieren, daß man an sich und an den Bedingungen ringsherum scheitert (aber das riskierst du auf der anderen Seite der Barrikade genauso), riskieren, daß die »gute Gesellschaft« dich ausschließt und beschimpft (aber es ist nicht wichtig, sich einen Platz in dieser Gesellschaft zu erobern, sondern diese Gesellschaft so zu gestalten, daß man auch einen Platz in ihr haben will).

Tendenzen, gewiß - aber davon, daß es sie gibt, daß man an ihnen arbeiten kann, lebt die »scene«.

Eine Freundin, eher im Bereich althergebrachter kommunistischer Vorstellungen angesiedelt, fragte neulich, wie man denn behaupten könne, die Freaks seien staatsfeindlich eingestellt-sie nähmen schließlich die »Kohle« vom Sozialamt, sie erwarteten schließlich ihr Arbeitslosengeld, es gebe schließlich Bereiche, in denen sie die »Wohltaten« der herrschenden Gesellschaftsordnung in Anspruch nähmen. Ein grundlegendes Mißverständnis. Die Menschen in dieser Gesellschaft, ihre Väter und Mütter und Vorfahren, haben einen gesellschaftlichen Reichtum erarbeitet, der es - bei anderer Verteilung, anderer Organisation, anderer Wertung - längst möglich machen müßte, künftig das Maß an noch notwendiger Lohnarbeit - nicht Arbeit, sondern Lohnarbeit! - zu reduzieren und alle von diesem Reichtum leben zu lassen, ohne daß sie dafür bezahlen mußten.

Wenn die »scene« Geld vom Sozialamt oder vom Arbeitsamt nimmt, so holt sie sich, was ihr nach ihrem Verständnis zusteht. Sie holt es sich gegen den Widerstand derer, die es ihr verweigern wollen, sie erkämpft es sich, wenn es sein muß. Das Sich-begleiten-Lassen zum Sozialamt durch jemanden, der energischer auftreten kann und sich mit den Rechten des Sozialhilfeempfängers auskennt, und auch schon das gemeinschaftliche Go-in im Amt gehören zum Leben in Kreuzberg. Das Bewußtsein von der Größe des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums - dessen gerechte Verteilung an alle nur dieses System verhindert - führt zu der Konsequenz: Wir nehmen uns, was wir brauchen, wir nehmen uns, was uns zusteht, wir nehmen es uns, wenn man es uns nicht freiwillig gibt. Der gemeinschaftliche Ladendiebstahl der Wohngemeinschaften am Wochenende bei Karstadt oder Hertie ist ebenso Ergebnis dieser Einstellung wie das selbstverständliche Schwarzfahren mit U-Bahn und Bus, wie die Besetzung leerstehender Häuser. Niemand hat dabei das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Etwas Verbotenes - ja. Aber wer verbietet denn da? Wer nimmt sich das »Recht« dazu? Doch dieselben, die sich das »Recht« nehmen, den gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum nach ihrem Gutdünken zu verwalten, zu verbrauchen und zu verteilen. Aber Verbote dieser Art sind moralisch uninteressant. Sie sind unmoralisch. Sie sichern eine Welt, die sich überlebt hat, in der immer mehr Kräfte der Zerstörung wirken: Verarmung, Umweltzerstörung, Aufrüstung, Krieg.

Wenn selbst gutwillige Eltern meinen, diese Haltung sei Schmarotzertum, sei unsozial, sei Auf-Kosten-Anderer-Leben, dann gibt es darauf viele Antworten: neben derjenigen, daß die größten Schmarotzer in dieser Gesellschaft stets die »Upperten«, die am besten angesehenen Mitglieder derselben sind, entwaffnet vor allem die Gegenfrage: Ihr haltet uns ständig vor, ihr hättet Euer ganzes Leben geschuftet, damit es euren Kindern einmal besser geht. Warum seid ihr dann so gereizt, verärgert, verbittert, wenn eure Kinder euch beim Wort nehmen, wenn sie darauf bestehen, daß es ihnen besser gehen kann und besser gehen soll? Warum besteht ihr dann gerade in diesem Augenblick darauf, daß eure Kinder durch den gleichen Dreck waten so)len, der euer Leben kaputtgemacht hat? Warum steht ihr nicht zu eurem Wort, warum steht ihr nicht dazu, daß eure Leistungen euren Kindern zugutekommen sollen, warum steht ihr nicht an der Seite eurer Kinder, wenn diese versuchen, sich die Ergebnisse eurer Arbeit von denen zurückzuholen, die sie euch weggenommen und sich angeeignet haben?

Ich habe versucht, in Ansätzen begreifbar zu machen, womit die Politiker, die Polizei, die Justiz es in Kreuzberg zu tun haben - was das ist, die »scene« rund um die Instandbesetzer in Kreuzberg. In diesem Stadtteil sammelt sie sich, in diesem Kreuzberg, das vor 20 Jahren die erste Sanierungswelle über sich ergehen lassen mußte, deren betongewordenes Denkmal das Märkische Viertel und die Wunden im Stadtbild des alten Kreuzberg sind - eine Sanierung, deren: Sinn nicht nur in den hohen Profiten der Bauwirtschaft lag, sondern zugleich auch in der Zerschlagung eines alten Arbeiterviertels, eines »Kiezes«, in dem es noch Reste von Zusammengehörigkeit gab. Dort gab es Strukturen, welche die Beherrschbarkeit von Menschen nicht gerade erleichtern, welche verschwinden müssen in einem System, das, angesichts gegenwärtiger und zu erwartender Krisen, auf solche Beherrschbarkeit angewiesen ist. Es ist sicher kein Zufall, daß Expertisen zur Städteplanung auch im Bundeskriminalamt erarbeitet werden. Das schon halb zerstörte und leergeräumte Kreuzberg hat damals neue Bevölkerungskreise angezogen, die auf die verbliebenen billigen Wohnungen angewiesen waren. Es waren Leute, die mit dem Gefühl leben konnten, hier nicht auf Dauer bleiben zu können, hier erst einmal provisorisch Quartier zu nehmen, mobil bleiben zu müssen.

Es waren ausländische Arbeiter, Studenten, Lehrlinge und Jungarbeiter auf der Suche nach Freiheit vom Elternhaus, nach eigenem Wohn- und Lebensraum, resignierte Menschen verschiedenster Herkunft dazu, die ihre Ohnmacht in Alkohol und Drogen zu ersticken versuchten. Sie alle mischten sich mit der »Urbevölkerung«, mit denjenigen, die sich im Kiez noch gehalten hatten, die seit Jahrzehnten hier lebten und an diesen Vierteln hingen. Aus dieser Mischung entstand neues Leben im Stadtteil. Es ist nicht zu übersehen, wenn man durch die Straßen geht: Kaum irgendwo wird so extensiv auf der Straße gelebt wie hier, kaum irgendwo ist das Leben - zwischen trostlosen Häuserfassaden, Dreck und Ratten - so bunt und quirlig wie hier. Der alte Kiez, dessen Zerstörung schon begonnen hatte, ist neu aufgewacht, breiter und vielfältiger als zuvor. Kein Wunder, daß Touristenbusse hier durchfahren.

Und doch ist es nicht leicht, das so darzustellen, daß man es begreifen kann. Begreifen - das ist ein sinnlicher Vorgang, das heißt eigentlich: anfassen, spüren, sehen; das ist durch Worte, Argumente, Denkvorgänge kaum zu bewerkstelligen. Hinzu kommt, daß die Reste der 68er-Generation, zu der ich gehöre, nicht so leben, wie die »scene« hier lebt, nicht so fühlt und denkt, wie die Punks denken und fühlen, die Freaks, die Ausgeflippten, oder die alten Kreuzberger, oder gar wie die Ausländer, die Türken, von denen 30000 hier wohnen, die das Bild dieses Bezirks ganz wesentlich mitbestimmen.

Auch die »scene« hat Schwierigkeiten mit ihrem Verhältnis zu ihnen. Zu oft haben »Graue Wölfe«, mit Messern bewaffnet, die Kneipen der »scene« überfallen. Sie wollten in die Versorgung der Freaks mit »shit«, mit Haschisch, eindringen - das zu ihrem Leben gehört wie Tabak und Alkohol, um ihr Heroin abzusetzen, gegen das die »scene« sich wehrt und auf das doch immer wieder welche hereinfallen. Zu oft haben sich Fixerinnen auf dem Strich von denen ausbeuten lassen müssen, die sie jetzt nur noch als »Kanaken« zu bezeichnen vermögen. Aber als »Graue Wölfe« am Kottbusser Tor den türkischen Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim abstachen, da wurde in den Kneipen der »scene« für seine Familie gesammelt, da gingen viele mit im Trauerzug der 10000. Und umgekehrt sind in der Nacht vom 12. Dezember 1980 Türken festgenommen, Türken schwer verletzt worden an der Seite der deutschen Freaks. Man wird die Beschreibung der »scene«, die ich versucht habe, überprüfen, vielleicht relativieren müssen, weil auch ich nicht frei davon bin, meine alten Träume über Aktivitäten zu projizieren. Aber mindestens die Intelligenteren auf der Gegenseite, ein Peter Glotz bei der SPD oder ein Norbert Blüm bei der CDU etwa, werden die »scene« als Problem nicht viel anders sehen, als sie hier geschildert ist. Nicht mit der Hoffnung verbunden, natürlich, sie werde weiter wachsen, sondern mit der Frage, was man dagegen tun kann, ob und wie man das noch in den Griff bekommen, wie man die Faszination brechen kann, die diese »scene« auf immer mehr Menschen ganz offensichtlich ausübt. Die herrschende Gesellschaftsordnung, dieser Staat sieht sich herausgefordert, und er ist gezwungen, diese Herausforderung ernster zu nehmen, als die von 1968. Damals sah er seine Gegner weitgehend auf sich fixiert, gegen den Staat anrennend, ihn zu Reaktionen zwingend, von ihm etwas fordernd. Heute ist es schlimmer: Eine nicht mehr gering zu achtende Anzahl von Menschen, die sich aus viel mehr sozialen und geographischen Gruppen zusammensetzt als die Studentenbewegung von 1968, interessiert sich nicht mehr für diesen Staat. Sie interessiert sich für diesen Staat nur noch insoweit, wie er sich einmischt, wie, er stört, wie er sich anmaßt, dort einzugreifen, wo die wirklichen Interessen dieser Menschen liegen: in der Gestaltung ihres eigenen Lebens. Diese Menschen haben keine Fragen mehr an diesen Staat, sie erwarten keine Antworten von ihm. Die Beamten dieses Staates und die anderen, die ihn stützen und vertreten, werden als dumme Auguste ausgelacht, wenn sie nur ihre Pflicht tun und auswendig gelernte Formeln der Rechtfertigung aufsagen, sie werden mit eiskalter Verachtung bedacht, wenn sie bewußt lügen und mehr als ihre Pflicht tun.

Und man ist bereit zuzuschlagen, wenn sie direkt angreifen und man eine Chance zur Verteidigung sieht. Soweit der Staat sich nicht einmischt, solange er das nicht tut, kümmert man sich nicht um ihn, arbeitet man an seinem eigenen Leben. Soll der Staat doch machen, was er will, man ist nicht dafür verantwortlich.

Noch sind die Freaks der »scene« eine Minderheit. Aber Peter Glotz hat schon vor Jahren gesagt, es sind 100000 allein in Berlin. Vielleicht hat er da übertrieben, vielleicht hat er alles gemeint, was links von der SPD ist, und nicht alle, die links davon sind, gehören zu denen, von denen hier die Rede ist. Richtig aber ist: Sie sind es, die faszinieren, sie geben ganz offenbar Beispiele, die andere anziehen. Und sie sind kaum kontrollierbar, sie sind kaum organisiert, sie hocken zu Hause wie andere auch und arbeiten irgendwo. Sie haben keine Mitgliederlisten, keine Führer, keine politischen oder militärischen Einheiten, sie erhalten keine Mark aus Moskau, und ihre Theoretiker heißen Gerhard Seyfried und die Drei Tornados, und die machen Comics und Kabarett.

»Gemeinsam sind wir unfaßbar!«

»Gemeinsam sind wir unerträglich!«

In der Tat. Daß diese Menschen, wie jener Peter Glotz früh erkannt hat, für diesen Staat verloren sind, das wäre ja noch nicht einmal so schlimm. Aber sie wirken anziehend, ansteckend. Ein Staat, der immer weniger in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, ein Staat, der als Sachwalter der Konzerne gezwungen ist, Hunderte von Milliarden in die Rüstung zu stecken und zugleich den Mensehen zu verkünden, der Gürtel müsse enger geschnallt werden - ein solcher Staat kann nicht zulassen, daß in seinem Schoß auf breiter Ebene die Aussicht auf eine Alternative zu wachsen beginnt.

Die Sozialliberalen versuchen - von Ausnahmen in der eigenen Fraktion einmal abgesehen -, vorsichtig an das Problem heranzugehen. Sie wissen, daß sie irgendwann gezwungen sein werden, hart durchzugreifen. Aber sie wissen auch, daß zu harte Konfrontation mit so vielen Menschen, und vor dem Hintergrund unstreitig existierender »sozialer Konflikte« und »Mängel«, gefährlich ist. Also versuchen sie zu spalten, reden von Selbstkritik, von vielen jungen Menschen, denen es ja wirklich um die Sache ginge, was man ernst nehmen müsse, junge Menschen, mit denen man ins Gespräch kommen müsse, die wertvolle Ideen und Potenzen hätten, die man in den Dienst der Sache stellen müsse. Sie müßten allerdings von den Krawallmachern, den Kriminellen, die sich unter sie gemischt hätten, sich distanzieren, erkennen, daß sie mißbraucht werden sollen. Man habe ja sogar Verständnis für die Sympathien, welche jene jungen Leute noch mit den Chaoten verbinden würden, schließlich habe der Staat in der Vergangenheit tatsächlich vieles falsch gemacht und versäumt. Deshalb wolle man den jungen Leuten auch ruhig Zeit geben, sich zu besinnen, wolle man sich dieses Konzept auch nicht durch den nächsten Krawall kaputtmachen lassen, wolle vielmehr den jungen Idealisten unter die Arme greifen, mit ihnen reden, verhandeln, gar ihnen Ersatzhäuser und 20 Millionen Mark für Instandsetzungen anbieten (die dann allerdings die großen Sanierungsgesellschaften erhielten).

Wer aber verhandelt, wer gegen Steinwürfe ist, wer Verträge abschließt, der hat deshalb noch nicht die Seite gewechseolt. Es gibt Bündnisse, in denen die Partner verschiedene Vorstellungen haben, aber durchaus eine gemeinsame Vorstellung vom Ziel und vom Gegner. Nichts spricht bisher dafür, daß die Solidarität innerhalb der Hausbesetzerszene gebrochen ist. Die »scene« hat sich vergrößert, sogar die Zahl der Militanten ist gewachsen: Aus den üblichen 300 in den Polizeiberichten vom Dezember '80 bis März '81 sind im Juni 1000 geworden. Hätten sich die Sozialliberalen durchsetzen können, dann wäre vielleicht alles für eine Weile ein wenig ruhiger verlaufen.

Das Leitmotiv der anderen Seite, der CDU, der Springer-Presse, der Polizeigewerkschaft, der Staatsanwaltschaft mit ihrer politischen Abteilung dagegen war: den Alternativen keine Zeit geben, sich zu entwickeln, keine Luft lassen, sich zu artikulieren; auf breiter Front zuschlagen, solange noch Zeit ist, solange man darauf rechnen durfte, die Knüppelei, die ungerechtfertigten Haftbefehle würden beim Publikum eher Ohnmachtsgefühle als Empörung auslösen, mehr Resignation als Widerstand.

Das ist der Sinn der Truppenaufmärsche in Grohnde, Gorleben und Brokdorf wie in Kreuzberg. Das ist zugleich das Eingeständnis, daß man überzeugende Argumente letztlich nicht hat, und die Demonstration, daß man sie auch nicht braucht. Man hat ja die Macht. Diese Politik stellt die Menschen ganz offen vor die Alternative, entweder zu resignieren, oder zu anderen, weitergehenden Mitteln zu greifen. Diese Politik riskiert ganz offen, daß der Gedanke auftaucht, sich ebenfalls zu bewaffnen.

Hast du das noch nie gehört, noch nie gedacht: »Da war ich soweit, da hab ich mir gewünscht, 'ne MP zu haben und dazwischen zu ballern!«?

In der Nacht vom 25. zum 26. Juni 1981, in Kreuzberg, am Rande der Straßenschlacht, sagt ein erst kürzlich gewählter, erst kürzlich abgewählter, junger, ehemaliger SPD-Senator, gerade von Polizeibeamten mehrfach beiseite gedrängt, nach Hinweis auf seine Persönlichkeit verspottet und erneut weggeschubst, zu seinen Begleitern gewandt, es habe nicht mehr viel gefehlt eben, und er hätte den ersten Stein seines Lebens geworfen.

Ob er den Mut hätte, dazu zu stehen, das gesagt zu haben... Doch gleichzeitig vertraut die Staatsmacht darauf, daß jeder Mensch Hemmungen hat, Gewalt auszuüben, und daß jeder

Angst davor hat, Gewalt ausgesetzt zu sein, daß nur wenige, mit denen man fertig werden wird - und die man sogar braucht als Vorwand für die Härte dieser Politik -, diese Hemmschwelle und diese Angstbarriere überwinden werden.

Getreu diesen vorgenannten Erwägungen haben die »Falken« Politik gemacht, seit es die Instandbesetzer gibt und natürlich auch schon früher.

Kurz nach der Schlacht in der Adalbertstraße schritten Polizeibeamte machtvoll gegen ein nächtliches Lagerfeuer mit Wein und Gesang auf dem Oranienplatz ein. Ergebnis: Straßenschlacht - ein andres Mal gegen eine Radfahrerin, die abends ohne Licht angetroffen wurde - Ergebnis: Straßenschlacht. Die Zivilstreifen rund um die besetzten Häuser wurden verstärkt, Funkwagen auf Funkwagen fuhr Tag und Nacht langsam an den Häusern vorbei. Wenn dann irgendwann ein Stein oder ein Farbei gegen den Wagen flog, wurde die Presse ihrer Informationspflicht am nächsten Tag auf eigene Weise gerecht: Straftaten aus den besetzten Häusern heraus, und der Senat tut nichts. Die tollsten Greuelgeschichten waren zu lesen; aus einer Schlägerei unter Betrunkenen in der Oranienstraße wurde ein bewaffneter Raubüberfall gegen harmlose Passanten, ausgeführt von Hausbesetzern. Und der im ganzen in seinen Äußerungen noch recht zurückhaltende, weil eher zur SPD stehende Polizeipräsident Hübner ließ immerhin wissen, in den Kreisen der Hausbesetzer werde »eindeutige Werbung für den Terror« betrieben. An einigen besetzten Häusern hingen nämlich, Transparente, mit denen zur Solidarität mit hungerstreikenden politischen Gefangenen aufgerufen wurde, zur Solidarität gegen die Haftbedingungen in den Hochsicherheitstrakten, zu denen Leute wie der Rechtsprofessor Ulrich Klug, ehemals Justizsenator in Hamburg, gesagt haben: schnellstens wieder abschaffen.

Im Herbst 1980 erhielten die damaligen »legalen« Ansprechstellen auf seiten der Hausbesetzer, vor allem die Leute aus der Bürgerinitiative SO 36, vermehrt dringliche Warnungen von Kontaktleuten aus Senatskreisen: Die »Tauben« in Senat und Behörden gerieten unter zunehmenden Druck der »Falken«, mit den rechtswidrigen Zuständen in Kreuzberg endlich Schluß zu machen, endlich wenigstens einige Häuser, in denen der »harte Kern« zu vermuten sei, zu räumen. Mit jeder neuen Hausbesetzung in Kreuzberg, besonders nach den Besetzungen des »Kerngehäuses« in der Cuvrystraße und der »Villa Kunterbunt« in der Görlitzer Straße, wurden die Warnungen aus dem Senat dringender: Man sehe immer weniger Möglichkeiten, auf dem Verhandlungswege noch weiterzukommen. Die Stimmen, die kompromißlos für Räumungen einträten, würden immer mehr die Oberhand gewinnen.

Später stellte sich heraus, was vor allem gemeint war: Die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin hatte Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts erwirkt, vor allen anderen gegen das besetzte Haus in der Luckauer.Straße 3, wegen des Verdachts einer Vielzahl von Straftaten, gegründet meist auf bis heute nicht bekanntgegebene angebliche Anzeigen von Nachbarn, wegen Sachbeschädigungen, Diebstählen, Verstoß gegen das Fernmeldegesetz (Antenne auf dem Dach), Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung - man munkelte von elektrisch aufgeladenen Drähten als Hindernis gegen eine Räumung, und von ähnlichem mehr. Und die Staatsanwaltschaft drängte auf die Durchführung dieser Durchsuchungsbefehle. Die Polizeiführung und der Senat weigerten sich: Sie wußten, daß die Durchsuchung aller Voraussicht nach zum Krieg mit der »scene« führen würde, und sie sahen, daß diese Folge in keinem vernünftigen Verhältnis zu den tatsächlichen Ereignissen stand. Sie versuchten, die Staatsanwaltschaft hinzuhalten. Aber die begann, recht unverblümt mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Senatoren und Polizeiführung zu drohen, wegen des Verdachts der Strafvereitelung. Inzwischen, 1981, sind diese Verfahren auch tatsächlich eingeleitet worden.

Und daneben gärte es in der Polizei. Die Polizeigewerkschaft machte Stimmung gegen Senat und Polizeiführung. Polizeipräsident Hübner hatte alle Hände voll zu tun, seinen Untergebenen zu erklären, weshalb sie nicht eingreifen, nicht räumen, nicht festnehmen sollten. Die Polizisten folgten ihm nicht, schon gar nicht die in Kreuzberg stationierten. Gerade die - nicht alle, aber doch ein erheblicher Teil der Beamten - hatten schon lange ihr eigenes Verhältnis zu deri Menschen in Kreuzberg.

Am 13. Februar 1978 soll Werner N. in der Reichenberger Straße in Kreuzberg Polizeibeamte, die wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit seine Personalien feststellen wollten, mit Worten wie »Arschlöcher, kleine Schweinchen, Drecksäcke« beleidigt haben. Die Beamten erstatteten Strafanzeige. In der Anzeige stand, etwa 8 bis 10 Passanten hätten die Schimpfwörter gehört. Werner N. bestritt, derartiges gesagt zu haben. In der Hauptverhandlung am 24. Oktober 1978 fragte sein Verteidiger die Beamten, warum sie nicht die Personalien jener 8 bis 10 Passanten festgestellt hätten, die angeblich alles gehört hätten: das seien doch dann wichtige Zeugen gewesen. Ein Beamter: »Die Personalien konnten wir nicht feststellen.« Verteidiger: »Warum denn nicht?« Der Beamte: »Ja, wissen Sie, die nahmen eine feindselige Haltung ein. Wissen Sie, wir sind in Kreuzberg nicht sehr beliebt...«

O ja, das trifft wohl zu. Daß die Polizei in Kreuzberg nicht sehr beliebt ist - eine eher freundliche Formulierung - liegt nicht einmal allein, vielleicht nicht einmal ursprünglich daran, daß Kreuzberg ein altes Arbeiterviertel ist, daß jetzt dort wieder eine Menge Leute wohnen, die den Staat, dessen Gewalt die Polizei ausübt, »nicht so sehr lieben«. Es liegt mindestens ebenso sehr an der Polizei selbst. Es gibt nette Polizeibeamte auch in Kreuzberg. Aber dennoch scheint es immer wieder zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten regelrechte Zusammenballungen von Schlägertypen zu geben. Wer in Kreuzberg, weshalb auch immer, festgenommen wird, der wundert sich im allgemeinen nur dann, noch, wenn er nicht.verprügelt wird, entweder gleich in der:

»Wanne«, im Mannschaftswagen, oder im Revier, meist von mehreren Beamten zugleich. Strafanzeigen dagegen sind sinnlos: Es gibt ja keine Zeugen. Die Beamten haben in solchen Fällen eine stereotype Aussage parat: Der Betreffende hat Widerstand geleistet, es mußte »einfache körperliche Gewalt« angewendet werden, um ihn zu bändigen. Verletzungen? Da ist der Mann halt ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Wand gefallen, nicht wahr, oder er ist auf der Treppe zum Revier gestolpert und dabei auf die Stufen geschlagen.

Man hat in Kreuzberg seine Erfahrungen mit der Polizei. Man weiß in Kreuzberg, was die Polizei von einem hält: »Ratte« wird man genannt, »Fotze«, wenn man eine Frau ist. Verbrochen hat man immer etwas, wenn man festgenommen worden ist. Man kennt das: eingeliefert in die Zelle, die Tür geht auf, sechs Beamte stehen davor, »was machen wir nun mit dem?«, und einigen sich offenbar darauf: Wir sagen, der hat einen Stein geworfen.

16. Juni 1981, Prozeß gegen Peter R., Vorwurf: Steinwürfe am Fraenkelufer in Kreuzberg am 19. und 31. 1. 1981. Drei Zivilfahnder hatten früher ausgesagt, sie hätten Peter R. als Steinwerfer genau erkannt. Jetzt, in der Hauptverhandlung, sagen zwei von ihnen, sie hätten niemanden erkennen können. Eine Rentnerin, Augenzeugin: Nein, der Angeklagte sei es nicht gewesen, der Steinwerfer habe anders ausgesehen. Drei Bekannte von Peter R. sagen aus, zumindest an einem der fraglichen Tage sei Peter R. anderswo gewesen.

Der dritte Zivilfahnder, Herr Sch., eine bekannte Persönlichkeit in Kreuzberg inzwischen, bleibt dabei: Er sei ganz sicher, es war Peter, R. In einer Verhandlungspause auf dem Flur vor dem Gerichtssaal sagt Sch. zu seinen beiden Kollegen: »Das war ja nicht wie abgesprochen!« Peter R. wurde freigesprochen; der Vorsitzende: »Die sehr forsche, beinahe verdächtig forsche Art des Zeugen Sch. hat Bedenken nahegelegt.« Am 28. 4. und am 3. 6. 1981 sind zwei andere angebliche Steinwerfer bereits aufgrund der Aussagen dieses Zeugen

Sch. verurteilt worden. Weitere Auftritte des Herrn Sch. stehen bevor.

Eine Kette von Provokationen, eine Kette von Versuchen, die Instandbesetzer zu reizen, kennzeichneten das Verhalten der Polizei im Jahre 1980. Stets waren Springer-Presse, Polizeigewerkschaft und CDU zur Stelle, um jeden kleinsten Vorfall aufzublasen zur Bedrohung des Rechtsstaats, um jede auch nur halbwegs gelungene Provokation als Druckmittel gegen den Senat einzusetzen, ihn aufzufordern, endlich »Maßnahmen« zu ergreifen.

Und was tat der Senat? Er beschloß am 11. Dezember 1980, mit den Besetzern, wenn auch über Mittelsmänner, zu verhandeln und ihnen Angebote zu machen - in den Augen der »Falken« so etwas wie eine diplomatische Anerkennung. Mußten sie das nicht verhindern? War nicht dies der Punkt, an dem sich entscheiden mußte, ob die »scene« die Chance erhielt, sich zu stabilisieren, ja womöglich noch zu wachsen, oder ob es nicht höchste Zeit war, sich mit allen Mitteln zu wehren - bevor die allgemeine Empörung die erhofften Resignationserscheinungen beiseite fegen würde? Konnte es nicht bald zu spät sein, namlich wenn sich die Besetzer auf Verhandlungen erst eingelassen hätten? Im Klartext: Wäre es nicht besser loszuschlagen, bevor die Verhandlungspläne des Senats öffentlich bekannt würden? Der Polizeieinsatz am Fraenkelufer 48 am Nachmittag des 12. Dezember 1980 - und die polizeiliche Falschmeldung, es sei um die Admiralstraße 18 gegangen - lassen diese Vermutung nicht so absurd erscheinen, wie sie zunächst klingen mag. Auch das Verhalten der Staatsanwaltschaft in den Tagen danach ist nicht gerade geeignet, einen solchen Verdacht zu entkräften. Wenn der Sinn des Polizeieinsatzes vom 12. 12. 1980 war, die Verhandlungsabsichten des Senats zu torpedieren, dann mußte diese Konzeption einschließen, daß das Ganze nicht mit einer größeren Straßenschlacht verpuffte. Der Druck auf die Situation mußte erhalten bleiben. Man wußte: Die Besetzer konnten eine Räumung, einen Einsatz gegen eine Besetzung nicht widerstandslos hinnehmen. Sie konnten einer »Salami-Taktik«, in deren Verlauf ihnen ein Haus nach dem anderen wieder abgeknöpft worden wäre, nicht ruhig zusehen. Sie mußten auf die Straße. Und man wußte: ebensowenig konnten die Besetzer zusehen, wie viele von ihnen und viele Freunde und viele Unschuldige in den Haftanstalten verschwanden, nachdem die erste große Schlacht gelaufen war. Die Besetzer mußten auf der Freilassung der Inhaftierten bestehen; sie mußten sie zur Vorbedingung jeder Verhandlungsbereitschaft machen. Es war im voraus berechenbar, daß sie so handeln würden. Der Senat wußte das auch. Und so setzte sich der damalige Justizsenator Meyer an sein Telefon und rief den zuständigen Sachbearbeiter bei der Staatsanwaltschaft, Herrn Staatsanwalt Müllenbrock, an und legte ihm ausdrücklich - und mehrmals, von drei Gesprächen wissen wir - nahe, sich bei Haftverschonungsanträgen der Verteidiger in den vor Weihnachten 1980 stattfindenden Haftprüfungsterminen mit Gegenanträgen und Beschwerden zurückzuhalten.

Staatsanwalt Müllenbrock tat nichts dergleichen. Er beantragte Haftbefehle, er widersprach Haftverschonungen, er legte Beschwerden dagegen ein, und er beantragte, diesen Beschwerden aufschiebende Wirkung zu geben. Er holte sich Hilfe bei einigen Strafkammern des Landgerichts und zuletzt beim Kammergericht.

Inwieweit sich Staatsanwalt Müllenbrock noch auf die Gesetze berufen kann, wenn er - wie eingangs erwähnt - sie gegen den einen so und gegen den anderen anders anwendet, muß hier wohl nicht weiter diskutiert werden.

Wenn schon Staatsanwalt Müllenbrock - wie vor ihm die Polizei - objektiv die Verhandlungen zwischen Instandbesetzern und Senat blockiert, mindestens um Monate hinausgezögert hat, wenn schon sein Verhalten mit Ursache war für die nächsten »Krawalle« von Weihnachten '80 bis in das neue Jahr hinein und wenn ihn selbst der Justizsenator persönlich nicht zu einem anderen Verhalten bewegen konnte, erzwingt das nicht gerade den Verdacht, daß dieser Mann, seine Behörde Interessen vertreten, die wenig mit der Strafprozeßordnung, aber viel mit dem Boykott der Senatspolitik zu tun haben? Die Lobbyisten der »Falken« hatten ihr erstes Etappenziel erreicht! Wieder rückten Verhandlungen in unübersehbare Ferne, was nicht gerade dazu beitrug, die Stimmung zu beruhigen.

Symptomatisch war der Fall des besetzten Hauses in der Luckauer Straß 3: In der zweiten Februarhälfte 1981 meinte der Senat, dem Druck der Staatsanwaltschaft, die auf der Durchsuchung des Hauses bestand, nicht mehr standhalten zu können. Der Innensenator nahm daraufhin Kontakt zu drei Rechtsanwälten auf, die als Verteidiger im einschlägigen Zusammenhang bekannt waren, und bat diese um Vermittlung: Sie sollten erreichen, daß die Besetzer in der Luckauer Straße einer »Begehung« des Hauses durch zwei Beamte des Innensenators zustimmten. Ziel dieser »Begehung« sollte sein, die Verdachtsmomente der Staatsanwaltschaft nach Möglichkeit zu entkräften: Die »Begeher« sollten einen Bericht schreiben und bei der Staatsanwaltschaft als Zeugen aussagen. Möglicherweise, so hieß es, würde ja dann die Staatsanwaltschaft von der Durchsuchung absehen. Zumindest aber könne so gewährleistet werden, daß eine spätere Durchsuchung friedlicher verlaufen würde; zur Zeit rechne nämlich die Polizei damit, daß es Tote geben würde, ginge sie in dieses Haus. Diese Einstellung, und damit die Methoden der Polizei, könnten sich durch eine vorherige »Begehung« ändern, die Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen vermindert werden. Noch während diese Verhandlungen liefen, berichtete die Presse schon über die bevorstehende Durchsuchung - grotesk eigentlich, denn bei welcher Durchsuchung sollte denn noch etwas zu finden sein, wenn sie schon vorher bekannt war? Aber das Büro des Innensenators teilte den Anwälten mit, daß man ja gerade froh sei, wenn nichts gefunden würde. Und ein Beamter des Innensenators meinte: »Wir stehen nicht mehr nur mit dem Rücken zur Wand - wir stehen; schon in der Wand.« Man einigte sich darauf, daß eine »Begehung« durch einen »neutralen«, der Kirche verbundenen Rechtsanwalt und einen Richter - der später mangels Genehmigung seines Dienstherren durch einen Pfarrer ersetzt wurde - sollte. Aber die Besetzer der Luckauer Straße 3 tricksten den Senat und die Staatsanwaltschaft aus: Eiqe Stunde vor dem geplanten Begehungstermin öffneten sie ihr Haus zu einer Pressekonferenz und erklärten, daß sie angesichts der akuten Bedrohung das Haus verlassen, in andere Häuser umziehen und die Luckauer Straße der Bewegung, anderen Besetzern übergeben würden. So geschah es. Und die Staatsanwaltschaft konterte mit Ermittlungsverfahren gegen Innensenator Dahrendorf und Polizeipräsident Hübner wegen Strafvereitelung. Indessen arbeitete sich die Staatsanwaltschaft zum nächsten Etappenziel vor: Sie versuchten, die Instandbesetzer der »kriminellen Vereinigung« zu beschuldigen. Zweimal, bei der Obentrautstraße 44 und beim Fraenkelufer, scheiterten diese Versuche allerdings: die Richter verweigerten entsprechende Haftbefehle. Erst beim Herrnhuter Weg klappte es, mit Hilfe eines befangenen Haftrichters, aber inzwischen mit der Bestätigung des Landgerichts abgesegnet. Die nächste Stufe ist eingeleitet: Nachdem die CDU Senat und Regierenden Bürgermeister stellte, war ihre erste Aktion die Räumung des Hauses Mittenwalder Straße 45 in Kreuzberg, eines klassischen Spekulationsobjektes, das tadellos in Ordnung ist, in dem aber eine »Luxusmodernisierung« jener Art geplant ist, die so modernisierte Wohnungen für normale Menschen unerschwinglich werden läßt. Die Eigentümer dieses Hauses hatten schon gleich nach seiner Besetzung auf Räumung bestanden, aber der damalige SPD/FDP Senat hatte das verhindert: Er ließ sich vom Verwaltungsgericht bescheinigen, daß er nicht gezwungen sei, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu räumen, sondern diesen Zeitpunkt unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit selbst bestimmen dürfe. Er räumte nicht. Vom neuen CDU-Senat hatte jedermann Räumungen erwartet; aber daß er als erstes ausgerechnet dieses Haus räumen ließ, ein jedem einsichtiges und weithin schon bekanntes, geradezu symbolisches Spekulationsobjekt war eine Kriegserklärung an die »scene«, wie sie deutlicher '., nicht ausfallen konnte. Sie zeigte noch in den ersten Stunden: nach der Räumung ihre Wirkung. 10000 Menschen versammelten sich am 25. Juni 1981 zu einer Demonstration, aus der sich bis zum Morgen des nächsten Tages Straßenschlachten in mehreren Bezirken, Verletzungen, Sachschäden in Millionenhöhe entwickelten. Was bei alledem auf den ersten Blick verwundert, ist, daß sich jedenfalls bislang die harte Linie, die Staatsanwaltschaft und Kammergericht den mit den »Krawall-Prozessen« befaßten Richtern hatte vorschreiben wollen, nicht in der gewünschten Form durchgesetzt hat. Ein Blick auf die Statistik, Stand Ende Juni 1981:

45 Menschen haben seit Januar 1981 in der ersten Instanz unmittelbar wegen ihrer angeblichen Beteiligung an den »Krawallen« vom Dezember 1980 bis heute vor Gericht gestanden und haben ihre Urteile gehört. 5 von ihnen waren wegen Diebstahls, Plünderung angeklagt, einer wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung, die übrigen 39 wegen besonders schweren Landfriedensbruchs. Das Ergebnis - wobei nur die wichtigsten Gruppen genannt sind: bisher 28,9% Freisprüche, 33,3% Freiheitsstrafen mit Bewährung und nur 11,1% Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Gerade letztere sollten aber, wenn es nach dem Kammergericht gegangen wäre, die Regel sein. Das Kammergericht wollte Abweichungen von dieser Regel sogar ausschließen. Die Urteilsbegründungen sind in den meisten Fällen eher banal und gehen kaum auf die Ursachen der Krawalle ein. Nur ein Richter hat offenbar etwas weiter gedacht. Jugendrichter F. verurteilte Robert V., der einen Steinwurf zugegeben hatte. Richter F. hielt noch einen weiteren Steinwurf für erwiesen, nachdem er von vier als Zeugen aufgetretenen Polizeibeamten drei als mehr oder weniger unglaubwürdig aussortiert, dem vierten aber geglaubt hatte. Richter F. beschäftigte sich sodann mit der Frage, oh er Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht anzuwenden habe, und entschied sich für das erstere, nicht ohne zu erwähnen, paß höchst zweifelhaft sei, ob die »Solidarisierung mit der Hausbesetzerbewegung auf sogenannte >jugendtümliche< ]Vlotivationen schließen lasse«. Sodann wandte sich Richter F. der Frage des Strafmaßes zu und führte aus, der Angeklagte habe sich ein persönliches Widerstandsrecht »in einem im wesentlichen geordneten Staat« angemaßt; wer dies tue, setze »unzulässigerweise die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin mit den Zuständen in einem verbrecherisch geführten Staat gleich, in dem Widerstand gewiß moralisch legitimiert wäre, was indes ebenso grotesk wie gefährlich und gefährdend ist. Es müßte - dies mag dem Angeklagten gar nicht einmal unlieb sein - zur Anarchie führen, einem Zustand, dem in einem Rechtsstaat die Gerichte energisch einen Riegel vorzuschieben haben ...« Und so weiter.

Immerhin - man ist als Verteidiger schon positiv überrascht, so etwas überhaupt in einem Urteil zu lesen, zu sehen, daß es ein Richter der Mühe wert gefunden hat, ein paar Gedanken einzubringen. Besonders, wenn es wie folgt noch weiter geht.

Richter F. wendet sich gegen die »insoweit nicht spezifizierte Ansicht des Vertreters der Staatsanwaltschaft«, es lägen noch besonders strafschärfende Merkmale vor, sieht im Gegenteil eine ganze Reihe von Strafmilderungsgründen, als deren ersten er nennt: »Einmal ist es immer unerfreulich für ein Gericht, einen einzigen Angeklagten von Hunderten wegen dessen relativ zufälliger Festnahme durch Bestrafung zum >Sündenbock< für alle zu machen...« Weiter stellt Richter F. fest, es sei auch zu berücksichtigen, daß der Angeklagte sich subjektiv gerechtfertigt gefühlt habe, und im übrigen sei er ja, soweit er Hausbesetzungen für moralisch zu rechtfertigen halte, »bei Erkenntnis der einschlägigen Mißstände ... im Recht«. Richter F. gab ein Jahr Freiheitsstrafe mit Bewährung, und wegen der Bewährung sah er sich genötigt, auf das Argument der Staatsanwaltschaft einzugehen, wonach es Bewährung wegen der notwendigen »Verteidigung der Rechtsordnung« keinesfalls geben dürfe; was Richter F. hierzu zu sagen hatte, ist nun allerdings wirklich bemerkenswert - nämlich:

»Eine Strafaussetzung hätte demgemäß dem Angeklagten nur verwehrt werden können, hätte es die Verteidigung der Rechtsordnung unabdingbar gefordert. Das Gegenteil ist indes der Fall, und insofern seien einmal im weiteren Sinne politische Gesichtspunkte legitimerweise erwähnt: Schafft man mit dem Angeklagten einen Märtyrer für die >scene<, stünden eher gewalttätige neue Unruhen bevor, als wenn man ihn persönlichkeitsangemessen wie jeden anderen Straftäter auch behandelt: wer sich für ein Abrißhaus >solidarisiert<, dürfte dies weit eher für einen eingesperrten Freund tun.«

Das ist, soweit ersichtlich, der bislang einzige Versuch eines mit der Problematik befaßten Richters, sich wenigstens im Ansatz eine Vorstellung davon zu machen, was in jener »scene« los ist und für welche Argumente sie vielleicht noch ansprechbar sein könnte, und am Ende eine offene Stellungnahme gegen das Provozieren weiterer Unruhen. Die Staatsanwaltschaft hat sofort Berufung eingelegt.

Es bleibt die Erfahrung, daß in den Moabiter Gerichtssälen zwei Welten aufeinanderstoßen, zwischen denen Sprachlosigkeit und Verständnislosigkeit herrscht. Wo die Richter zwischen der Erwähnung »angeblicher« oder tatsächlicher »politischer Forderungen« der Angeklagten schwanken, wissen diese nur, daß sie für das Recht kämpfen, ihr Leben nach Grundsätzen zu gestalten, die mit den Prinzipien jedes relativ humanen Staatswesens vereinbar sein sollten. Wo die Richter sich mehr oder minder mühsam abringen, das Bestehen einer Wohnungsnot zuzugeben, sieht der Angeklagte die »Scheißkolonnen« vor sich, Trupps, die von den Hauseigentümern angeheuert werden, um die leerstehenden Häuser dadurch unbewohnbar und möglichst unbesetzbar zu halten, daß sie, diese Trupps, Treppenhäuser, Flure und Zimmer vollkoten (und natürlich die Scheiben einschlagen, die Türen offenstehen lassen und sogar festbinden, damit: nur ja genug Feuchtigkeit und Schimmel in die Wände zieht). Wo die Richter sich mehr oder minder ehrlich über die Gefahren aufregen, welche Steinwürfe mit sich bringen, sieht der Angeklagte nur riesige Haufen behelmter Polizisten vor sich, die brutal auf die »Fotzen« und die »Ratten« einknüppeln, zu sechst auf am Boden liegende Menschen einschlagen und eintreten. Er hört dazwischen den Richter sagen, er, der Angeklagte, habe auch Widerstand bei der Festnahme geleistet, und das von einem Richter, der nicht die geringste Ahnung davon hat, wie diese Beamten sein können, wenn sie losgelassen werden. Der Angeklagte hört den Richter von der Verwerflichkeit der Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele reden und erinnert sich doch nur an das Gefühl der Befreiung, als er seinen ersten Stein warf, endlich einmal zurückschlug, die Ohnmachtsgefühle abschüttelte (die meisten allerdings haben noch keine Steine geworfen; sie sind auf dem Wege, es zu lernen, just in diesen Verhandlungen, in denen man es ihnen vorwirft, sie dafür verurteilt). Recht - das suchen diese Menschen nicht im Gerichtssaal, sie wissen, daß es ihr Recht dort nicht gibt. Wenn sie den Saal verlassen, sind sie nicht beeindruckt, sie sind wütend, wenn »die Bullen« - und das sind für sie auch die Richter - zugeschlagen haben, und sie freuen sich, wenn einer rausgekommen, davongekommen ist. Ihre Vorstellungen, ihr Feeling, ihr Leben wird durch die Gerichte nicht in Frage gestellt. Die da oben, wir hier unten - das geht nie mehr zusammen.

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