Spontis, Schlaffis und Chaoten


 Psychologische und politische Perspektiven der neuen Jugendbewegung

Karl-Michael Kuntz

Hausbesetzungen verunsichern und provozieren das politische Establishment und die mehr oder minder konservative Mehrheit älterer Westdeutscher. Kein Zweifel: Hausbesetzungen sind keineswegs isolierte Aktionen wohnungssuchender Vagabunden, sondern konkrete Demonstrationsversuche und Kristallisationspunkte einer handlungsorientierten Alternativbewegung, die nicht in papierenen Programmen und Postulaten stecken bleiben will.

Kein Zweifel: Die überwiegend von Jungwählern getragenen Erfolge der Grünen bzw. Bunten Listen erschüttern die Selbstsicherheit der drei Bundestagsparteien.

Kein Zweifel: Hausbesetzungen erzwingen Diskussion und Stellungnahme zu Vorstellungen über Leben, Gesellschaft, Demokratie und Zukunft.

Soweit die Situation. Sie wirft mehrere Fragen auf:

Wieso besetzen die lange Zeit als Schlaffis belächelten Jugendlichen Häuser, starten alle möglichen Alternativprojekte, nehmen als Kriegsdienstverweigerer eine negative Stigmatisierung auf sich?

Warum erweisen sich gerade Hausbesetzungen als konkrete Ansatzpunkte für eine neue Praxis alternativen Lebens?

Sind die politischen Bewegungen, die mit Hausbesetzungen teils parallel, teils verknüpft einhergehen, nur ein Strohfeuer?

Brauchen die etablierten Parteien nur ausdauernd zu warten oder hinhaltend zu taktieren, bis die »Bewegung« erlahmt und schließlich im Sande verläuft?

Wie tiefgreifend, wie grundsätzlich, wie verfestigt sind die weltanschaulichen Unterschiede zwischen der konservativen und konformen Mehrheit einerseits und den innovationsfreudigen Alternativlern andererseits - welche Probleme und Möglichkeiten gibt es für Verständigung und Zusammenleben?

Kurz: Welche Ursachen, Bedeutung und Zukunftsperspektiven hat die alternative Bewegung?

Hier soll der Versuch unternommen werden, den spezifischen Charakter der alternativen Bewegung zu skizzieren, ihre Motivationslage mit der Bedürfnishierarchie von Abraham H. Maslow zu deuten und verschiedene Möglichkeiten der künftigen Entwicklung zu skizzieren.

In die alternative Bewegung münden viele Strömungen und; Projektgruppen ein: die Friedensbewegung, die Anti-Kernkraftbewegung, Frauenbewegungen, Instandbesetzer, . Stadtteilgruppen, selbstverwaltete Jugendzentren, therapeutische Gruppen, Bürgerrechtsbewegungen, Kinderläden... Zugleich sammeln sich sehr unterschiedliche soziale, politische und weltanschauliche Strömungen, die ihre brodelnde , Dynamik ausmachen. Es gibt gemeinsame Aktionen, Treffpunkte, gemeinsame Presse, daneben aber auch viel nuancierende Abgrenzung, inhaltliche Auseinandersetzung untereinander, in manchen Gruppen - etwa den Bürgerinitiativen - auch fließende Grenzen zu etablierten gesellschaftlichen Einrichtungen.

Ungeachtet der unterschiedlichen Stoßrichtungen und: Schwerpunkte all der vielen Gruppen, ihrer Nuancen und Schattierungen sind ihnen einige zentrale Wertvorstellungen gemeinsam.

Einig sind sie in der Ablehung des Wachstums-Fetischismus, des übertriebenen Konsums, der zur Ausbeutung der Natur, zur Entfremdung der Menschen führt, der Ablehnung hochgezüchteter Technologie, der bürokratischen Bevormundung. Sie bejahen soziale und individuelle Selbstverwirklichung, Entfaltung geistig-seelischer und schöpferischer Kräfte.

In der Diktion Erich Fromms ist für die Alternativen das »Sein« wichtiger als das »Haben«.

Diese Grundstimmung manifestiert sich besonders deutlich in Hausbesetzungen. Durch die Erhaltung baulicher Substanz wird sinnlose Vergeudung von Materialien und Arbeit vermieden. Im Zuge der Instandbesetzung wird selbstbestätigende, die eigenen Kräfte und Fertigkeiten entwickelnde Arbeit geleistet. Anstelle von protzigem und kostspieligem Luxus kann pfiffige Kreativität treten. Selbstbestimmte Eigenleistungen ersparen fremdbestimmte Arbeit.

Gleichzeitig drücken Hausbesetzungen Distanz oder Verachtung gegenüber Eigentumsregelungen aus, die dem Grundbedürfnis des Menschen, schlichtweg ein Dach über dem Kopf, einen physisch geschützten Lebensraum zu haben, zuwiderlaufen.

Schließlich sind Hausbesetzungen eine der wenigen Möglichkeiten sichtbar konstruktiven Protests.

Gegen die vielen anderen Mißstände und Bedrohungen, die im Alltag, in der konkret erfahrenen Erlebniswelt unsichtbar bleiben - Rüstung, Atomenergie, Folter, Zensur -, sind nur Demonstrationsmärsche möglich. Hingegen kann die Zerstörung von Wohnraum durch Instandbesetzungen anschaulich ad absurdum geführt werden.

Gerade Hausbesetzungen bzw. die Räumung besetzter Häuser brandmarken die widersinnige und menschenfeindliche Haltung eines Systems, das Polizisten zum Schutz unbebauten Geländes (für Atomkraftwerke), einsetzt, die mutwillige Zerstörung von Wohnraum aber duldet. Die vielbeschworenen Sachzwänge sind ein Trugbild. Die Gesetze und Steuerregelungen, die zu diesen Absurditäten führen, sind von Politikern gemacht und können auch von ihnen wieder geändert werden - wenn nur der politische Wille vorhanden ist. Ohnehin haben Juristen noch immer Wege und Begründungen gefunden, wenn es galt, die normative Kraft des Faktischen durchzusetzen.

Die praktische Durchschlagskraft, die Möglichkeit, Theorie anschaulich in Praxis umzusetzen, führt zum politischen Erfolg der Hausbesetzungen, der in der breiten Sympathie für diese unkonventionellen Aktionen besteht. Jeder zweite Bundesbürger (geanz genau 51 %) äußerte in einer demoskopischen Umfrage Verständnis für Hausbesetzungen. Die Befragung führte das Institut für Demoskopie Allensbach Anfang 1981 durch, welches von der konservativen Professorin Elisabeth Noelle-Neumann geleitet wird. 31 Prozent des befragten repräsentativen Bevölkerungsquerschnittes verneinte Verständnis. 18 Prozent nannten ihre Haltung unentschieden. Gerade die hohe Zahl der Unentschiedenen weist darauf hin, daß das Thema immer noch kontrovers ist, daß die Meinungsbildung noch im Fluß ist.

Verständnis äußerten von den Unions-Wählern 40 %, von SPD-Wählern 54 %, von FDP-Wählern 63 % und von Anhängern der >Grünen< 87 %. Daß die Sympathisanten der Hausbesetzer grün, lange ausgebildet und vor allem jung sind, spiegelt sich auch in anderen sozialstatistischen Daten. Von den Absolventen höherer Schulen äußerten 63 % Verständnis, von den 16 - 29jährigen 70 Prozent. Endlich hat auch eine eher obrigkeitsstaatlich gestimmte Bevölkerung zumindest toleriert, daß Neuerer auch den Rasen betreten, vordem ein Schild steht: »Betreten verboten!« Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlaß. Ob Hausbesetzungen bei den Älteren Lernprozesse auch für andere Lebensbereiche in Gang setzen, daran zu zweifeln gibt es - leider - einige Gründe. Die Popularität der Hausbesetzungen läßt die heterogene Zusammensetzung der Akteure erahnen. So wie unterschiedliche Generationen ihre unterschiedlichen Bedürfnisse in einer Hausbesetzung ausgedrückt sehen, so manifestieren sich in dieser Aktion weitgefächerte Ziele auch innerhalb der jungen Generation.

Einen Versuch, die Vielfalt der Erscheinungen und Motive zu ordnen, stellt die folgende Beschreibung der Berliner »Hausbesetzerszene« dar, die in einem internen Arbeitspapier des Bundesministeriums für Jugend und Familie enthalten ist:

»

  1. Die stadtpolitische Fraktion: Sie handelt wesentlich aus städteplanerischen und aus sozialpädagogischen Gesichtspunkten heraus. Sie besteht vor allem aus Anhängern von Bürgerinitiativen, darunter viele Architekturstudenten.
  2. Die Anhänger der Anarchoszene: Ihr Slogan: >legal - illegal - scheißegal<.
  3. Die existenziellen Hausbesetzer: schätzungsweise 1000 bis 1500 junge Trebegänger und Wohnungslose (einschließlich der Drogenabhängigen vielleicht auch 3000).
  4. Modische Hausbesetzer: überwiegend Schüler, Studenten und Angehörige der sozialpädagogischen Berufe, die am Image der Hausbesetzungen partizipieren wollen.«

Um Entstehung und Konsequenzen der unterschiedlichen Motivations-Schwerpunkte der vorherrschenden konformistischen Mehrheitsgesellschaft einerseits und der nonkon formistischen Minderheit andererseits zu interpretieren, möchte ich zunächst die Motivationstheorie des humanistischen Pyschologen Abraham H. Maslow heranziehen.

Maslow geht - wie auch die humanistischen Psychologen Charlotte Bühler oder Carl R. Rogers - davon aus, daß der Mensch eine starke Wachstumsmotivation, einen Drang zur Selbstverwirklichung hat.

Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung stehen an der Spitze einer Rangfolge bzw. Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse.

Die erste Stufe bilden physiologische Bedürfnisse, die für das nackte Überleben der Menschen entscheidend sind: die Befriedigung von Hunger, Durst, Sauerstoffbedarf, Wärme und Schlaf. Diese Bedürfnisse stehen vor allem am Anfang der individuellen Entwicklung ganz im Vordergrund und bestimmen weitgehend die Motivation des Säuglings. Sie behalten jedoch über das gesamte Leben des Menschen ihre fundamentale Bedeutung bei.

Die zweite Stufe bilden die Sicherheitsbedürfnisse: Schutz vor körperlicher Gewalt und Gefahr (durch Kriminalität, Katastrophen, Krieg), wirtschaftliche Sicherheit.

Die dritte Stufe bilden soziale Bedürfnisse: das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt, Geselligkeit und vor allem - Liebe Die vierte Stufe bilden Wertschätzungsbedürfnisse: Wunsch nach Selbstachtung und Ansehen bei anderen aufgrund von Leistung und Kompetenz.

Die fünfte Stufe bildet den Gipfel der Bedürfnishierarchie: Streben nach Entfaltung der Kreativität, nach autonomer Selbstverwirklichung.

Praktikabel vereinfacht ist Maslows Bedürfniskatalog in die sozialwissenschaftliche und politische Diskussion eingegangen. Die Bedürfnisse der unteren Stufen werden als »materiell« bezeichnet, die Bedürfnisse der obersten Stufen als »post materiell«.

Zum Verständnis der unterschiedlichen Bedürfnisschwerpunkte sind Maslows Annahmen über die Entwicklung menschlicher Motivationen wichtig:

Die motivationale Entwicklung eines Menschen läuft idealtypisch über Stufen. Zunächst bestimmen eindeutig die physiologischen Bedürfnisse das Verhalten. Je nachhaltiger diese befriedigt werden, desto mehr verlieren sie von ihrer verhaltenssteuernden Kraft und desto stärker verlangt die nächsthöhere, vorher noch kaum als dringlich empfundene Kategorie der Sicherheitsbedürfnisse nach ihrem Recht. Dieser Prozeß setzt sich nach demselben Grundmuster dann auch im Hinblick auf die sozialen und die Wertschätzungsbedürfnisse fort, bis schließlich das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung im Mittelpunkt der persönlichen Motivation steht. Diese Entwicklung der Motivbildung ist jedoch ziemlich störungsanfällig. Die Motivordnung darf keineswegs als starr festgelegt betrachtet werden. So kann das Individuum einmal auf bereits überwundene Bedürfnisklassen zurückgeworfen werden; zum anderen zeigen sich mitunter dauerhafte Fixierungen auf untere Motivationsstufen.

Die Generationen unterscheiden sich, so meine These, grundlegend hinsichtlich der Bedürfnisse und Motivationen.

Die ältere Generation hat erst für den Wiederaufbau geschuftet, sich dann am Wirtschaftswunder berauscht. Auf die Erfüllung elementarer Bedürfnisse folgte luxurierender und demonstrativer Konsum. Man arbeitete für das erste Radio mit UKW-Teil, für den ersten Kühlschrank, für den ersten Schwarzweiß-Fernseher, für ein erstes Auto, für eine neue Wohnungseinrichtung, für das nächste Auto, für Farbfernseher, für ein Haus, für HiFi-Stereoanlage, für Geschirrspüler, für das x-te Auto, für eine neue Wohnungseinrichtung. Getrieben von der Jagd nach immer neuen technischen Innovationen, die von der Werbung clever, raffiniert, glamourös und lustbetont mit Glücksversprechen aufgeladen wurden, entwickelte sich das Leben zu einer Konsumkarriere. Das Selbst, aber auch Ehepartner und Kinder, blieben oft auf der Strecke.

Weil Eigentum gegen Kommunismus immun machen soll, haben erst die CDU-Regierungen den Hausbesitz mit aller Kraft gefördert; weil der private Wohnungsbau, wie jeglicher Bau, als der wirksamste Konjunktur-Motor gilt, haben auch die sozialliberalen Regierungen den Bauboom immer wieder angeheizt.

Unbekannt blieb indes die medizinische und soziologische Forschung über die psychosomatischen Folgen des Eigenheimbauens: Nach dem Bezug ihres eigenen Hauses erkranken viele Menschen schwer und für längere Zeit. Viele Ehepaare lassen sich scheiden. Die Gründe: Die Menschen haben sich für den Hausbau aufgerieben. Die Hoffnungen, daß das Leben - die Ehe, das Familienklima - mit dem Einzug in das neue Haus endlich schön werde, daß man nur bis dahin durchzuhalten brauche - diese menschlich verständliche Hoffnung wird oft nicht erfüllt.

Hingegen sieht die Statistik über Hausbesitz rosig aus: Im Vergleich zur Mehrzahl der Nachbarländer weist die Bundesrepublik die meisten Eigenheime auf.

Ob die Alternativen den Zusammenhang mit zerrütteten Ehen und psychosomatischen Erkrankungen spüren, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall lehnen sie den physischen und psychischen Aufwand, die »Häusle«-Ideologie, die Isolierung in der vor dem Fernseher dahindämmernden Kleinfamilie ab. Sie suchen mitmenschliche Wärme, Verwirkli chung mit und in der Gruppe. Dazu werden jene größeren Wohneinheiten gebraucht, die um die Jahrhundertwende entstanden und die jetzt abgerissen werden sollen.

Die alternativen Projektgruppen ergreifen, statt zu lamentieren oder auf diffuse Systemveränderungen zu setzen, hier und heute die Initiative. Und statt den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten, errichten sie ihre eigenen unbürokratischen Einrichtungen.

Die Ausbreitung des Postmaterialismus beobachtet der Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart (amerikanischer Gastprofessor in Mannheim) in mehreren europäischen Ländern schon seit 1970. Die Befragungen, zum Teil von der Europäischen Gemeinschaft finanziert, fanden 1970, 1973, 1976 und 1978 statt.

Im Durchschnitt bekannte sich jeder zehnte befragte Bundesbürger zu postmateriellen Werten; vor allem 15- bis 24-jährige, die heute das Wählerreservoir der Grünen bilden.

Inglehart erwartet, sofern keine »dramatischen« wirtschaftlichen Einbrüche passieren, daß die Postmaterialisten die Materialisten nach und nach ablösen.

»

  1. Materialisten sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Postmaterialisten brauchen hier keine Energien mehr zu investieren und können sich >entfernteren< Dingen zuwenden.
  2. Als historisch relativ neue Gruppe, die noch eine Minderheit darstellt und deren Ziele und Werte in der gegebenen Ordnung kaum repräsentiert sind, sind die Postmaterialisten in der Regel unzufrieden mit bestehenden Verhältnissen und unterstützten sozialen Wandel.
  3. Die Unruhe und der materielle Schaden, der von manchen unkonventionellen politischen Handlungen erzeugt wird (wie Mieterstreik oder Hausbesetzung; d. Verf.), ist für Postmaterialisten weniger negativ und weniger bedrohlich als für Materialisten.
  4. Zusammengefaßt also: Postmaterialisten verfügen über eine größere Menge psychischer Energie, die in Politik investiert werden kann. Sie stehen der etablierten sozialen Ordnung kritisch gegenüber und haben - subjektiv gesehen - durch unkonventionelle politische Aktivitäten weniger zu verlieren als Materialisten. Politischer Protest und unkonventionelle politische Aktivität sind also Merkmale einer postmaterialistischen Gruppe.«

Inglehart stützt sich auf folgende Befragungs-Ergebnisse:

»Einen Mietstreik mitzumachen, illegale Besetzungen von Gebäuden zu unterstützten oder den Verkehr lahmzulegen«, dazu sind 74% der Postmaterialisten bereit, aber nur 24% der Materialisten.

Das Reformengagement schlägt sich in der Einstellung zum sozialen Wandel nieder:

»Unsere Gesellschaftsordnung muß radikal und revolutionär verändert werden«, erklärten 16% der Postmaterialisten, 4% der Materialisten. »Unsere Gesellschaft muß schrittweise durch Reformen verbessert werden«, erklärten 72% der Postmaterialisten, 59% der Materialisten.

»Unsere jetzige Gesellschaft muß mutig gegen alle umstürzlerischen Kräfte verteidigt werden«, erklärten 13% der Postmaterialisten, 38% der Materialisten.

Sicherlich bedeuten Ingleharts Umfrageergebnisse keineswegs mehr als grobe Indikatoren, zumal es eine breite Mitte Unentschlossener bzw. Schwankender gibt. Aber immerhin belegen sie mit positivistischer empirischer Soziologie, die von Technokraten eher akzeptiert wird als »verstehende« Methoden der Humanwissenschaften, daß die Postmaterialisten weder eine Minderheit sind, noch ein Strohfeuer entfachen. Auch sind sie nur zum geringsten Teil radikal.

Ohnehin entziehen sich viele Nonkonformisten der konventionellen demoskopischen Erforschung teils durch Verstellung, teils durch Verweigerung von Interviews. Für diese Reserve gibt es verschiedene Gründe: Sie verweigern sich einer voyeuristischen bürgerlichen Intellektuellen-Schickeria. Sie fürchten, daß hinter Umfragen der Verfassungsschutz steckt und sie erfaßt und kriminalisiert werden. Sie wollen keine Informationen für soziatechnische Manipulations-Instrumente liefern. Aus solchen Überlegungen haben in Zürich Angehörige der alternativen Bewegung dem 30jährigen Soziologen Hanspeter Kriesi, der sich selbst als Teil der Bewegung versteht, die Interviews, die sie ihm gegeben hatten, nachträglich wieder aus dem Soziologischen Institut der Universität Zürich entwendet. Kriesi, der seit Jahren an einer umfassenden Studie über politische und soziale Bewegungen in der Schweiz arbeitet, verzichtet nun auf eine empirisch-systematische Erhebung über die Bewegung, weil er sie nicht gegen den Willen der Betroffenen durchführen will.

Die Hoffnung konservativer Politiker, die Alternativbewegung sei eine pubertäre Protestgebärde, die bald an Reiz verlieren werde, gehört in den Bereich der Stammtischpsychologie. Die tröstliche Vermutung, hier seien die »üblichen« Generationskonflikte verantwortlich, die wie Kinderkrankheiten überstanden werden müßten, verkennt die Motive der neuen Jugendrevolte.

Gleichgültigkeit gegenüber den Älteren sowie die radikal neue Suche nach einem eigenen Lebensstil hat der Göttinger Pädagoge Gerd Wartenberg einfühlsam reflektiert. Die konventionellen Begriffe »Identitätskrise« und »Generationenkonflikt« gehen davon aus, daß die Auseinandersetzung des Heranwachsenden mit seinen Eltern zu einer Rebellion gegen die bestehende Gesellschaft ausgedehnt wird. Das aber ist - bemerken heute aufmerksame Eltern und Erzieher verdutzt - heute kaum noch der Fall. Die Jugendlichen rebellieren nicht mehr gegen die Eltern bzw. die ältere Generation. Deren Lebensstil ist heute so wenig attraktiv, daß sich die Jugendlichen von ihm zurückziehen. Statt dessen suchen sie nach einem eigenen Stil, nach Lebensqualität, ohne die Auseinandersetzung mit Eltern und Älteren noch ernstzunehmen. Jugendliche stellen sich die Frage: »Wie kann ich mein Leben gestalten?« So, als müßten sie für sich ganz neu und ganz anders beginnen. In der extremsten Form tritt dieses Phänomen so auf, daß auch nicht mehr erwogen wird, ob die ältere Generation in ihrem Leben Lösungen fand, Werte und Ideale vertritt, die es verdienen, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt. Die Jugendlichen beginnen gleichsam »ohne Geschichte« (oder im Rückgriff auf Modelle vorgeschichtlicher, tribaler Gesellschaften) ihr Leben zu gestalten. Da es jedoch unmöglich ist, den traditionellen Kontext ganz zu ignorieren, gewinnt ihr Leben für andere gleichsam »demonstrative« Züge: Die Jugendlichen wollen sich selbst und anderen beweisen, daß ein »alternativer« Lebensstil möglich ist.

Was heißt es, sein Leben ohne Vorbilder und Tradition zu gestalten?

Eine unmittelbare Auswirkung dieser Einstellung bei Jugendlichen findet sich zunächst im Bereich der Selbstdarstellung. Der Jugendliche will ein Individuum sein, das

Alle diese Verhaltensformen haben wiederum neue Formen der Geselligkeit zur Folge, einen jugendspezifischen Jargon, der über den Sprachstil auch eigene Ideale setzt (wie »Peace« oder »Power«). Daß die psychischen Ursachen der Alternativbewegung keineswegs in der Auseinandersetzung mit den Eltern liegen, wird besonders an der Sexualmoral deutlich. War für die klassische Identitätskrise der »Kampf gegen die überholte Sexualmoral der verklemmten Eltern« typisch, so herrscht heute - nach Wartenberg - ein neues Experimentierungsverhalten vor. Verliebtsein ist nicht mehr der Ausgangspunkt von Verlobung, Ehe, Familie. Verliebtsein ist immer noch ein »traumhaftes« und »berauschendes Erlebnis«, aber, zugleich auch ein Zustand, der schnell wieder nachläßt. Sexuelle Kontakte werden zwar unkomplizierter, treten früher und etwas häufiger auf, sind aber oft losgelöst von tiefergehenden persönlichen Beziehungen. Die angestrebte Lust: kann auch eine fast spirituelle Bedeutung haben, etwa kosmische Erlebnisse bringen. Entsprechend wird auch die sexuelle Betätigung experimenteller: sei es, daß man vielfältigste Partner »ausprobieren« möchte, sei es, daß man die vielfältigsten Formen des sexuellen Kontakts erprobt, z. B. neugierig auf homosexuelle Kontakte ist oder die Masturbation wie eine Art Selbstbehauptung braucht (es geht eben auch ohne Partner!).

Die Suche nach dem Lebensstil schlägt schließlich in der Einstellung zur Arbeit durch. Falls man einen Job hat, gewinnen Blaumachen und Wegbleiben eine wichtige Funktion: Die traditionelle Arbeitsmoral verliert an Bedeutung. Nur im subkulturellen Kontext vermag man der Arbeit noch einen, Sinn abzugewinnen: So gibt es »neue Handwerker«, die töpfern, Schmuck herstellen, und es gibt eine neue Landwirtschaft, biodynamisch, verbunden mit neuen Wohnformen wie den Landkommunen. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die etablierten Berufe im eigenen Sinne umzugestalten. Aber im Arbeitsbereich sind die sozialen Erwartungen, besonders rigide strukturiert. Der Versuch, sich selbst den, Job »passend« zu zimmern, trifft hier auf den härtesten Widerstand und führt langfristig meistens doch in die Anpassung oder aber zum endgültigen »Aussteigen«.

Am Ende der von Gerd Wartenberg beobachteten Entwicklung steht also der Ausstieg aus der konformistischen Mehrheitsgesellschaft und der Einstieg in »Lebensstil-Subkulturen«, die vielfältige, komplexe Leitlinien politischer, religiöser oder auch psychologischer Art in Entwürfe für ein lebenswertes Leben umzusetzen suchen.

Ähnlich wie Gerd Wartenberg, aber ohne dessen entwicklungspsychologische Analyse, entdeckt das Familienministerium in seiner Alternativ-Studie die neuen Werte der »Selbstdarstellung und Ausdrucksfähigkeit«. Aus dem Bedürfnis nach ganzheitlichem Erleben, neuer Sinnlichkeit, Selbsterfahrung ist eine »neue >Psychokultur< mit eigenen Umgangsformen, Sprache und Gebärden« entstanden. Diese Spielart der alternativen Bewegung steht »im scharfen Gegensatz zu den lustfeindlichen, asketischen und dogmatischen Ideologien der K-Gruppen«. Gleichzeitig entwickelt sich seit Beginn der 70er Jahre »ein regelrechter Boom« von mehr oder weniger qualifizierten Psycho-Angeboten, ein breiter grauer Markt, der das Bedürfnis nach Hilfe in psychischen Krisen und nach ganzheitlichem Erleben aufgegriffen hat. Dazu gehören auch die Betonung des sogenannten subjektiven Faktors sowie die »neue Innerlichkeit« und der neue Spiritualismus religiöser Gemeinschaften. In verschiedenen,Meditationsformen, Yoga, vegetarischer Ernährung und Askese werden religiöse Ausdrucksformen und Erfahrungen gesucht. Die Neuentdeckung Hermann Hesses und der Philosophie Rudolf Steiners gehören ebenfalls zur psychedelischen Welle. Alte Mythen und Kulte werden ausgegraben, insbesondere aus der Indianerkultur.

Stark beachtete »Thesen zu den Jugendunruhen 1980« hat die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen, ein Beratungsorgan des Schweizer Bundesrates (der dem Bonner Bundeskabinett entspricht), aufgestellt. Die Thesen stützen sich auf eine »Bestandsaufnahme der sozialen und psychologischen Hintergründe der neuen Zürcher Jugendbewegung«. Dani Nordmann, sozialpsychologisch und journalistisch ausgebildet, mit einem »direkten Draht« zur Jugendszene, führte die Bestandsaufnahme durch.

Die Jugendkommission betont, daß sie »selbstverständlich auf dem Boden unserer Rechtsordnung steht, und ebenso selbstverständlich verurteilt sie Gewaltanwendung in jeder Form. Sie ist aber auch der Überzeugung, daß die erfolgte Anwendung von Gewalt und die Verletzung der Rechtsordnung mit Problemen zusammenhängen, die erkannt und verstanden werden müssen und die mit einer Argumentation ausschließlich auf der formalen Ebene nicht gelöst werden können.«

Als Auslöser der Unruhen wird zwar eine radikale Minderheit genannt, doch werden deren Probleme als Probleme einer Mehrheit »und zwar einer Mehrheit nicht nur der Jugendlichen« betrachtet.

Das Schweigen der Mehrheit der Jugendlichen zu den Unruhenwirdinder TendenzalsZustimmungzudenZielen - nicht aber der Gewaltanwendung - gewertet, weil sich »erfahrungsgemäß... eher zu Wort (meldet), wer gegen als wer für etwas ist«. Als Ursache sieht die Jugendkommission das Gefühl menschlicher Isolation inder Gesellschaft. Grund für die Radikalisierung seien die als unerträglich empfundenen Ungerechtigkeiten: »Die radikalen Minderheiten rekrutieren sich also aus besonders exponierten, besonders belasteten und gleichzeitig besonders wenig belastbaren Mitgliedern unserer Gesellschaft.« »Besonders exponiert« bedeutet hier, »sich als die Geschlagenen« fühlen, die nun zurückschlagen und zwar mit der eigenen Körperkraft als Form natürlicher körperlicher Abreaktion, die daneben auch friedfertig konstruktive Aktionen wie z. B. die Renovierung eines Jugendzentrums zuläßt. Extreme Formen von Gewalt wie Brandstiftung und Waffenanwendung seien lediglich Ausdrucksmittel einer verschwindenden Minderheit.

Die Thesen widersprechen der von konservativen Politikern propagierten »Rädelsführertheorie«, wonach die Jugendlichen als Handlanger eines »harten Kerns« von professionellen Krawallmachern sind. Die Studie der Jugendkommission bestreitet zwar nicht, daß es besonders militante Gruppen an der Peripherie der Bewegung gibt, diese als Drahtzieher zu, betrachten, hieße aber die Bewegung falsch interpretieren. Andererseits unterschätzt die Jugendkommission die gesellschaftspolitischen Ziele der neuen Bewegung. Sie meint, daß die »Jugendlichem, die heute auf die Straße gehen... sehr direkt konkrete Probleme erlebt (haben), und was sie wollen, ist die Abschaffung von Mißständen aus ihrer Sicht, ohne daß sie sich um weitere Zusammenhänge kümmern. An die Stelle ideologischer Ziele sind pragmatische Forderungen getreten...«

In der Tat verwendet die Bewegung heute weniger ideologische Schlagworte. Daß sie keine gesamtgesellschaftlichen Ziele anstrebt, ist jedoch ein Irrtum. Zwei Fehlinterpretationen könnten die Jugendkommission zu dieser Fehleinschätzung verleiten haben: Einmal die stark ausgeprägte Emotionalität der Bewegung und andererseits das Abrücken von starren Ideologien. Die neue Generation will nicht mehr auf die politische Zukunft warten, die den neuen Menschen schafft, sie will mehr Menschlichkeit heute und jetzt; es sind die Umstände, die sich anzupassen haben. Das heißt aber nicht, daß gesamtgesellschaftlich nichts verändert werden soll. Die Aktionen der Bewegung richten sich - wie die Studie selbst erwähnt - gegen Objekte, die ihnen als Symbole der Unterdrückung und der abgelehnten materialistischen Welt erscheinen.

Die gesellschaftskritischen Thesen der Jugendkommission setzen bei dem Stichwort »Toleranz« an. An ihm wird die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz der Gesellschaft, an der die Jugendlichen leiden, exemplifiziert:

»Gewährenlassen«, das zu »Vernachlässigen« wird. Aus diesem Laisser-faire-Stil, der in Erziehung und Ausbildung zum ständigen Begleiter der Jugendlichen als Ausdruck falsch verstandener Liberalität wird, entwickelte sich, so die Schweizer Thesen, das große Einsamkeitsgefühl. Dazu tragen auch das fehlende Geborgenheitsgefühl in der Kleinfamilie, das vergiftete soziale Klima in Wohnblöcken, die unpersönlichen Lebensverhältnisse, die überbeanspruchten Eltern bei, kurz, die Leiden in der Massengesellschaft.

Als weitere Widersprüche werden die scheinbar unbegrenzten individuellen Möglichkeiten erwähnt, denen, Normdenken, ausgerichtet auf materiellen Wohlstand, auf Effizienz und auf Anpassung gegenübersteht. Oder: »Die Toleranz ist Schein, der Druck ist echt.«

Die Kommission berichtet, daß die Jugendlichen die Rezession besonders schmerzhaft erfahren. Zu dem »Gefühl, um berechtigte Hoffnungen und Utopien betrogen worden zu sein«, gesellt sich die Verbitterung der Jugendlichen, daß die Wohlstandsgesellschaft für andere gemacht ist, sie selbst aber die ökologischen Kosten der Wohlstandsproduktion zu tragen haben. Die Schweizer These: »Dies auch nur dumpf zu empfinden, kann den einzelnen in eine innere Situation führen, in der nur noch Auflehnung als angemessene Reaktion erscheint.«

Die Kommission sieht in der »amtlichen« Reaktion auf die Jugendrevolte die Gefahr der Vereinfachung, die Gefahr der Bagatellisierung, der Repression, der Gettoisierung, die Gefahr der parteipolitischen Vermarktung und der Verdrängung von Zukunftsängsten.

Diese Gefahren lassen sich in zwei Reaktionskategorien verallgemeinern: Überheblichkeit und Verdrängung. Bagatellisierung sieht die Kommission hauptsächlich in der »Drahtziehertheorie« oder der Verharmlosung der Bewegung als Ausdruck pubertären Protestes. Ähnlich gefährlich ist die parteipolitische Ausbeutung des Protestes durch konservative Kreise, die mit Gewalt reagieren wollen.

Dazu die Jugendkommission: »Damit wird den Jugendlichen im nachhinein bestätigt, was sie zum Griff zur Gewalt, veranlaßte: Der Eindruck, daß Neuerungen nicht möglich, sind, daß das Recht veränderten Bedürfnissen nicht angepaßt, sondern vielmehr zur Unterdrückung neuer Vorstellungen und Bedürfnisse verwendet wird. Damit wird auch der Verdacht genähert, daß sich hinter den formalen Argumentationen ein Beharren auf den Inhalten und persönlichen Vorteilen der geltenden Ordnung verbirgt, über das dann nicht diskutiert werden kann.« Unter der Beteuerung, auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit zu stehen, verlangt die Kommission, auf die Gewalt der Jugendlichen mit Dialog und nicht mit noch mehr Gewalt zu reagieren.

Die Gefahr der Vereinfachung kann die Gefahr der Gettoisierung bedingen: Ein Teilaspekt der Bewegung wird aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst, wie z. B. »autonomes Jugendzentrum«, und in der Erfüllung dieses Teilaspektes wird die Gesamtlösung gesehen. Diese Art des »Nicht-Dialogs hat seine Wurzeln auch in der Verdrängung von Zukunftsangst. Diese soll mit vereinfachenden Scheinlösungen überwunden werden. Damit wird die Angst aber nur verdrängt, denn sie wird als Jugendproblem ausgesondert und dadurch verstärkt. Es bleibt die Angst, die die Schweizer so umschreiben: »Die Angst der Jugend macht Angst, weil sie auch unsere Angst ist.«

Soweit die Schweizer Darstellung und Interpretation, die auch im Bundestag - so von dem SPD-Abgeordneten Hauck - zitiert wurde.

Die Frage, wie hierzulande die Materialisten auf den Postmaterialismus der Alternativen reagieren, zwingt zu einer differenzierten Betrachtung. Mit Hausbesetzungen können Materialisten sympathisieren, mit alternativer Lebensführung jedoch keineswegs. Materialisten verstehen, daß auch andere Menschen ein Dach über dem Kopf haben wollen. Die Instandsetzung von Wohnraum nötigt ihnen Respekt ab. Aber das Desinteresse an Karriere und Luxuskonsum ist ihnen fremd. Plötzlich sollen alle Mühen für den sogenannten Lebensstandard vergeblich oder gar lächerlich sein - das ist ein irritierender Schock, dem man besser ausweicht. Um die Ahnungen verpaßter Lebenschancen zu unterdrücken, entwickelt man eine vorbeugende Abwehrstrategie: man wertet die Exponenten der »post materiellen« Alternativen ab, indem man sie als Spinner bezeichnet, oder man verteufelt sie als Feinde der Gesellschaft.

Durch Aggressionen gegen die Gesellschaftsveränderer vermeidet man auch Selbstzweifel - ein zusätzlicher psychischer Gewinn.

Die unterschiedlichen Wertorientierungen der Altersgrup, pen finden bereits in den Wahlergebnissen der letzten Landtagswahl und der Bundestagswahl 1980 ihren Niederschlag, wenn man SPD, CDU/CSU sowie FDP insgesamt als Parteien der Materialisten betrachtet und die Grünen als Partei der alternativen Postmaterialisten. Mehr als zwei Drittel aller Stimmen für die Grünen kommen aus der Altersgruppe der 18- bis 35jährigen. Hätten auch die Älteren so gestimmt, wären die Grünen 1980 durch Überspringen der Fünf-Prozent-Klausel in den Bundestag gekommen.

Gleichzeitig zeigt sich eine kontinuierlich wachsende Tendenz zur Wahlenthaltung bei den jüngeren Wählergruppen. Grund dafür dürfte einerseits die politische Apathie ziemlich entpolitisierter junger Leute sein, andererseits aber auch der stumme Protest von Jugendlichen, die mit diesem »System« nichts mehr zu tun haben wollen. Der Wertkonflikt zwischen den Altersgruppen bringt die etablierten Bundestagsparteien in eine schwierige Lage, die an der Kernkraftfrage besonders deutlich wird. Stellen sich die Parteien auf die Jugend ein, so laufen sie Gefahr, die älteren Wähler zu vergrämen. Behalten sie ihren technokratischen Kurs, bei, verlieren sie die Jungwähler weiterhin an die Grünen. In einem nüchternen Arbeitspapier mit dem Titel »Jugend, und Union« stellt die CSU (im Mai 1981) fest: Der Trend im Jungwählerbereich läuft gegen die CDU. Das Interesse an Politik ist stark zurückgegangen. Von den 14- bis 24 jährigen neigen zur CDU 2%, zur SPD 17% - die übrigen sind ein: »offenes Potential«.

Das Defizit gegenüber der SPD wird so erklärt: »Die erste nachweisliche Änderung im Verhalten der Jungwähler fiel zusammen mit den Studentenunruhen der Jahre 1967/68. In dieser Zeit erfolgte eine intensive Politisierung der Jugendlichen durch vorwiegend neomarxistisches Gedankengut. Für diese geistige Auseinandersetzung war die CDU damals nicht hinreichend gerüstet. Sie hatte die Herausforderung des Wiederaufbaus angenommen und sie auch gemeistert. Die Jugendlichen der 60er Jahre gehörten zur nun mündigewordenen ersten Nachkriegsgeneration, welcher der erreichte Standard selbstverständlich geworden war und die nun ganz neue Fragen aufwarfen. Sie erhielten damals Antworten vor allem aus dem linken Spektrum. SPD und FDP nutzten die Situation; sie versprachen >Reformen< und >wir schneiden die alten Zöpfe ab!<. Das politische Geschehen fand statt auf der Basis einer Revolution bis dahin auch von der Jugend akzeptierter bürgerlicher Wertvorstellungen. Arbeit und Leistung wurden in Frage gestellt und diskriminiert. Egalität wurde zum beherrschenden Prinzip und zur fast ausschließlichen Form, in der sich gesellschaftliche Gerechtigkeit manifestieren durfte. Kurzfristige Befriedigung von Bedürfnissen galt mehr als langfristige Lebenszielplanung. Mit dieser säkularen Einstellungsänderung innerhalb der Jugendgeneration erfolgte eine fast galoppierende Aufgabe religiöser Bindungen gerade durch junge Leute und vor allem aus dem studentischen Milieu, durch Leute also, die sich artikulieren können.

Die SPD nutzte ihre Möglichkeit zu öffentlicher Darstellung und empfahl sich der jungen Generation als politische Kraft, bei der die neuen Anliegen gut aufgehoben seien.« In zehn Thesen fordern die Autoren des Arbeitspapieres die CDU auf, sich aufrichtig auf die Jugend einzustellen.

  1. These:
    Gegenwärtig sind keine Fakten erkennbar, welche den berechtigten Schluß zuließen, der für die Union negative Trend im Jungwählerbereich sei gebrochen.

  2. These:
    Der Entscheidungsprozeß für eine Partei wird bei den Jungwählern wesentlich beeinflußt von dem emotionalen, atmosphärisch-attraktiven Klima, das eine Partei ausstrahlt. Die deutlich sichtbaren Eigenschaften einer Partei, wie Offenheit, Meinungspluralität, Diskussionsbereitschaft und Innovationsfähigkeit, bestimmen den Prozeß der Präferenzfindung stärker als inhaltliche Details der Parteiprogramme.

  3. These:
    Die Präferenz für eine bestimmte Partei entscheidet sich für Jugendliche zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr und kann . danach nur schwer wieder verändert werden. Die Einflußfaktoren in diesem Lebensabschnitt zu ergründen sollte zu den zentralen Aufgaben weiterer Untersuchungen zählen.

  4. These:
    Die politische Ansprache der Jugendgeneration kann nicht in dem einseitig verlaufenden Prozeß bestehen, das vorhandene Angebot der Partei an die Jugend heranzutragen. Bevor eine Partei an Jugendliche herantritt, um sie über ihre Politik zu informieren, muß sich die Partei zunächst über den Bedingungsrahmen informieren, innerhalb dessen Jugendliche von Politik betroffen sind bzw. betroffen gemacht werden können.

  5. These:
    Massive Informationsstrategien von seiten einer Partei laufen der Interessenlage der Jugendlichen entgegen. Sie werden nicht als einladend, sondern als lästig empfunden. Zugang zur Politik und Zustimmung für ein politisches Programm wird bei Jugendlichen nur erreicht werden können auf dem indirekten Weg der erfahrbar gemachten Anteilnahme einer Partei an ihrem persönlichen Lebensraum und der dort auftretenden Probleme.

  6. These:
    Da die Parteien als Institution auf die politische Meinungsbildung der Jugendlichen einen nur geringen Einfluß haben, wird die Partei versuchen müssen, auf dem Umweg über die als wesentlich belegten Einflußträger Zugang zu den Jugendlichen zu gewinnen.

  7. These:
    Das politische Desinteresse der Jugendlichen ist auch eine Folge des politischen Kommunikationsstiles, der durch seine Sprachbarrieren einen großen Teil dieser Generation von der Beschäftigung mit Politik abhält.

  8. These:
    Entscheidend für Jugendliche ist vor allem die im persönlichen Erlebnisfeld wahrgenommene und als sympathisch oder unsympathisch empfundene Aktivität einer Partei.

    Der ortsbezogenen Politik kommt damit eine besondere Bedeutung zu, vor allem, wenn von hier aus ein Transfer auf bundespolitische Gegebenheiten möglich ist.

  9. These:
    Sogenannte »postmaterielle« Werte müssen einen hervorragenden Rang in der inhaltlichen Jugendansprache haben. In allen inhaltlichen Aussagen der Politik sollte eine werthafte Dimension in ihrer Auswirkung auf Jugendliche bedacht und deutlich herausgestellt werden.
  10. These:
    Vorrangig sind Maßnahmen im vorpolitischen Raum.
Soweit die Thesen der CDU-Bundesgeschäftsstelle.

Für die CDU gibt es m. E. einen bequemen, aber für die Demokratie höchst bedenklichen Weg, der in diesen Thesen (4, 6 und 10) schwach anklingt: Die CDU kann die Entpolitisierung - beispielsweise durch Forcierung des Privatfernsehens - vorantreiben und die demagogischen Methoden, mit denen sie oft - aber besonders in Wahlkämpfen - operiert, weitertreiben und durch subtilere Werbung ergänzen.

Antje Huber, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, hat sich aufgrund ihres Regierungsamtes und aufgrund ihrer SPD-Mitgliedschaft mit der Entwicklung eingehend beschäftigt. In ihrem Ministerium ließ sie die Studie »Zur alternativen Kultur in der BRD« für Bundeskanzler Helmut Schmidt erarbeiten, eine Auswertung vorliegender Jugendstudien ähnlich dem Bericht der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen.

Die Studie ist in die Rede der Regierungspolitikerin über »die aktuelle Situation der Jugend« sowie das Parteipapier »SPD und Jugendprotest« eingegangen, das unter Antje Hubers Federführung entstand.

Sie erkennt, daß die Jugend gesamtgesellschaftliche Probleme thematisiert, die sie »in ihrer ungesicherten und offenen Lebenssituation stärker betreffen und von ihnen daher mehr empfunden und deutlicher artikuliert werden«. Dies gilt für Schüler, Studenten und jugendliche Arbeiter, auch wenn die Probleme zumeist von älteren, besser gebildeten, zur Selbstreflexion fähigen Jugendlichen formuliert werden.

»Das Lebensgefühl vieler Jugendlicher ist geprägt durch Krisenerfahrungen, die subjektiv stärker empfunden werden:

Der Arbeitsmarkt vermittelt ihnen das Gefühl, überflüssig zu sein; sie erhalten keinen Ausbildungsplatz oder keine Arbeitsstelle in dem Beruf, den sie ergreifen möchten, oder sehen keine Möglichkeit, sich im Beruf zu verwirklichen,

Viele Jugendliche empfinden ein unspezifisches >es wird immer schlimmer<. Dabei spielt eine Rolle, daß der heutigen Jugend die Erfahrung von Krieg und Nachkriegszeit fehlt und Krisenerfahrungen erstmals in der Pubertät gemacht wurden.

Materielle Werte haben für Jugendliche tendenziell geringere Bedeutung als früher. Das zum Leben Notwendige war für die Mehrzahl der Jugendlichen nie in Frage gestellt, es wird als selbstverständlich vorausgesetzt bzw. auf einem hohen Erwartungsniveau ähnlich wie bei Erwachsenen eingefordert.

Erfahrungen mit der Politik sind für Jugendliche im wesentlichen Erfahrungen mit der eigenen Ohnmacht - man verweist sie auf >Sachzwänge< - und weitgehend auch Erfahrungen mit Reglementierung und >Repression<. Sie scheitern in der Regel, gerade wenn sie ihr eigenes Lebensgefühl ausdrücken wollen, z. B. bei der Zensur von Schülerzeitungen. Sie verstehen die Sprache der Politik nicht. Die Art, wie Politiker und auch Verwaltung mit ihnen umgehen, empfinden sie oft als destruktiv. Sie erleben, daß jugendpolitische Fragen zum Spielball kommunalpolitischer Auseinandersetzungen werden, in denen es nicht um ihre Probleme geht.

Fast alle staatsverdrossenen Jugendlichen haben aber zunächst versucht, >sich einzubringen<. Nach langen Mißerfolgserlebnissen (z. B. mit Jugendzentren) wandten sie sich dann ab: >Ich mache keine Kompromisse mehr.<...

Die Einschätzung der Gewaltbereitschaft ist schwierig. Jugendliche haben - z. T. schon in der Familie - erlebt, daß der Einsatz von Gewalt zu anders nicht erreichbaren Erfolgen führt. Im politischen Bewußtsein ist Gewalt eher moralisch als gesetzlich definiert; Jugendliche begreifen ihre Aktionen als letztes Mittel gegen die erfahrene >strukturelle< Gewalt des Staates im Ausbau der Kernenergie, in der Arbeitslosigkeit, in einer schlechten Wohnsituation.

Gegen einen Staat, der ein Tornado-Projekt finanziert und gleichzeitig die Kürzung bei Sozial- und Jugendprogrammen mit Sachzwängen begründet, gegen eine anonyme Gesellschaft, die von Solidarität mit Schwachen spricht, aber Randexistenzen ins Abseits drängt, die alles und nicht zuletzt ihn selbst nach Effizienz beurteilt, seinen Lebensraum langsam aber sicher zubaut, glaubt mancher Jugendliche sich nur noch mit Pflastersteinen wehren zu können. Es gibt ein diffuses Oppositionspotential, auch ein diffuses Gewaltpotential von beträchtlichem Umfang.

Es gibt allerdings - auch als Folge des Einsatzes von Gewalt gegen den Staat - die eindeutige Ablehnung von Gewalt auch bei Staatsverdrossenen. Da der Gewaltbegriff ein anderer ist, wirken Appelle zur Legalität nicht glaubhaft.

Die jugendliche Minderheitskultur hat eine oder auch mehrere Gegensprachen entwickelt (verbal oder nichtverbal); die Anwendung von Gewalt hat z. T. auch die Funktion einer Gegensprache. Es gibt die Gewalt auch in einer ironisehen, nicht ernstgemeinten Spielart, die Staat und Gesellschaft lächerlich machen will. Gegensprachen sind unter den Jugendlichen verbreitet und beliebt. Einen hohen Stellenwert haben Symbole, positiv wie negativ besetzte. Wer ihre Bedeutung mißachtet, mobilisiert Widerstand und senkt gegebenenfalls die Gewaltschwelle...

Die alternative Kultur hat Signale gesetzt zu anspruchsloserer Lebensweise, durchschaubaren Produktionsvorgängen, zu mehr Spontaneität und Echtheit im mitmenschlichen Umgang. Es sollte bedacht werden, wieweit bestimmte Äußerungen der Jugendkultur eine utopistische Antizipation unserer Zukunft sind. Wenn durch die Einführung neuer Technologien so viele Arbeitsplätze wegrationalisiert werden und ein Teil der sich abzeichnenden strukturellen Arbeitslosigkeit eintritt, wie sollen die Betroffenen dies in ihrer Lebensgestaltung auffangen? Kann man dann noch negativ urteilen, wenn jemand >ein Jahr auf Stütze (Arbeitslosenunterstützung) geht?< Dies gilt auch für als parasitär empfundene Verhaltensweisen aus der studentischen oder der alternativen Szene.«

Die Schilderung der Politikerin endet mit 13 »möglichen Folgerungen für die Politik«. Die Politiker sollen moralisch standhafter bleiben und den Dialog mit jungen Menschen unvoreingenommen aufnehmen. Die Demokratie soll toleranter sein und mehr praktische Partizipation, insbesondere auf der örtlichen Ebene in Parteien und Gemeindepolitik, eröffnen. Die Gesellschaft soll alternative Subkulturen tolerieren. Die Bürokratie sollte vermindert werden: »In neu zu schaffenden Rechtsvorschriften sollten der Ermessenspielraum der unteren Verwaltungsebene und der freie Gestaltungsraum des Bürgers weitgehend erhalten bleiben. Es sollte mehr Raum für individuelles, persönliches, freies und spontanes Handeln geschaffen werden, auch mehr Freiraum für individuelle Lebensentwürfe, die stark von Durchschnittsnormen abweichen.« Politik und Verwaltung sollten sich stärker an kleinräumigen Strukturen orientieren, Gleichförmigkeit vermeiden und mehr Orte, Treffpunkte mit emotionaler Ausstrahlung schaffen bzw. dort, wo sie entstanden sind, unterstützen.

Schließlich fordert die Ministerin Freiräume bzw. Schutz gegen Eingriffe der Verwaltung für kleine soziale Gruppen und nachbarschaftliche Beziehungen, für Kinder und Jugendliche. Die Familie soll wieder zum Ort der geistigen Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern werden. Schließlich wird eine Fülle von Verbesserungen in Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitk, aber auch im Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern gefordert: menschlichere Schulen, weniger Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, »Sensibilität« der Behörden für Ängste und Unsicherheiten der Ausländer oder junger Arbeitsloser.

Im Parteipapier der SPD wird die Reihe moralischer Appelle fortgesetzt: »Es muß darauf gedrungen werden, daß Sozialdemokraten in ihrem politischen Handeln und ihrer privaten Lebensführung die von ihnen theoretisch vertretenen Prinzipien auch praktisch einlösen.« Zur Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit wird der Partei und damit den Jungsozialisten empfohlen, gerade in den Kommunen sozialdemokratische Beschlüsse zu realisieren: Wohnungen bauen, Energiesparen mit Vorrang für Fußgänger, Radfahrer und Personennahverkehr, rigoroses Vorgehen gegen Umweltschädiger, Wiederbelebung früherer Beschlüsse zum Bodenrecht, eine Besinnung auf mehr Selbstverwaltung der Jugendarbeit in Jugendzentren, sozialen Projekten, Selbsthilfegruppen, Berufsgenossenschaften, Kultur zum Selbermachen, Abbau von Heimerziehung zugunsten dezentraler Selbsthilfegruppen, neue Lebensformen wie Wohngemeinschaften, wobei man zu dem Schluß kommt: »Wenn für viele Junge die Kleinfamilie nicht mehr die von ihnen angestrebte Form des Zusammenlebens ist, dann kann es nicht Aufgabe der Politik sein, sie immer noch als Norm des Zusammenlebens zu konservieren und anderen Lebensformen Schwierigkeiten in den Weg zu legen.«

Die moralischen Appelle der Antje Huber, ihr breitgefächertes »Verbesserungsprogramm« mögen subjektiv aufrichtig gemeint sein, aber es fehlt die Überzeugungskraft. Viele der Fehlentwicklungen sind seit Jahren bekannt. Die Hoffnung, daß die sozial-liberale Regierung offenkundige Mißstände korrigieren werde, ist geschwunden. Nur ein paar Beispiele: Die Unwirtlichkeit der Wohnmaschinen wird seit 1960 beklagt, aber die kommunikationsfeindlichen Blöcke wurden - unter Beteiligung der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat« - zügig weitergebaut. Die Inhumanität großer Krankenhäuser für Patienten und Personal ist seit Jahren bekannt, aber immer größere Kliniken wurden gebaut. Gegen den Willen zermürbter und verbitterter Bürger wurden sowohl die Notstandsgesetze als auch die Gemeindereform durchgesetzt.

Mit der Atomenergie bahnt sich dasselbe Überroll-Manöver an. Treibende Kraft der Vergewaltigung des Bürgerwillens sind in der Regel Technokratie und Verwaltung. Sie überfahren auch die Politiker mit sogenannten Sachzwängen, die oft nur das Ergebnis armselig eingleisigen Denkens sind und mehr oder minder subtiler Korrumpierung.

Die Erfahrungsbereiche gewählter Politiker und der Wahlberechtigten sind unterschiedlich, aber in der Grunderfahrung der Ohnmacht stimmen sie überein. Wenn es zwischen Eltern und Kindern zum Gespräch über Politik und Demokratie kommt, dann sagen viele Ältere: die da oben tun, was sie wollen; der kleine Mann hat keinen Einfluß, er kann nur das kleinere Übel wählen. Lassen sich die Jugendlichen nicht entmutigen, ergreifen sie doch die Initiative, beispielsweise für selbstverwaltete Jugendzentren, so werden sie von Kommunalbehörden schikaniert, blockiert und oft sogar durch die Polizei kriminalisiert.

Die Wahlkämpfe sind - bar inhaltlicher Aussagen - zu Ritualen verkommen. Welche Gründe sollen skeptische Zeitgenossen haben, den etablierten Parteien ihre guten Vorsätze, die sie auch in der Jugenddebatte des Bundestages deklamierten, zu glauben?

Mag sein, daß die vom Bundestag in Auftrag gegebene Jugenduntersuchung ein detailliertes Bild hervorbringt; prinzipiell Neues wird sie nicht entdecken können. Wichtiger wären Untersuchungen darüber, wie Politiker und Bürger sich gegenüber der Technokratie behaupten können, wie die Partizipation der Bürger in Gang gesetzt werden könnte, wie eine Fülle von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften, für die sich immer eine scheinbar rationale Begründung konstruieren läßt und die im Effekt schikanös gegen Bürger eingesetzt werden, wieder abgeschafft werden können.

Die Bundestagsdebatte über die Einsetzung der Enquete-Kommission »Jugendprotest im demokratischen Staat« (am 10. 4. 1981) nutzten die etablierten Parteien, um Verständnis für die Jugend, »Dialog«-Bereitschaft und Offenheit für neue Werte zu demonstrieren. Darüber hinaus steuerte die CDU eine kurze, oberflächliche Attacke auf die emanzipatorische Pädagogik bei - und bemängelte, daß der SPD-Abgeordnete Schröder/Hannover ohne Krawatte am Rednerpult stand.

Die Probleme, welche die protestierende Jugend bewegt, wurde mit der Beteuerung, man wolle sie ernst nehmen, summarisch aufgelistet, aber nicht behandelt. Während auf den Straßen die Polizei knüppelt, fällt im Bundestag der Protest auf Watte.

Das erstickende Almagam von Wohlwollen, technokratischem Realismus und Blindheit für alternatives Potential demonstrierte Antje Huber: »Es kann gar kein Zweifel sein, meine Damen und Herren, daß sich ein 60-Millionen-Volk nicht auf alternative Weise ernähren kann. Die allermeisten Projekte leben von zumindest indirekter staatlicher oder privater Unterstützung. Man kann die Probleme der Nation auch nicht in kleinen Gruppen lösen, die jede Delegation von Entscheidungsbefugnissen ablehnen. Und wir können nicht alle im Grünen sein und die Industrie abschaffen. Aber vielleicht können und sollten wir im Tagesgeschäft innehalten und in Gesprächen herausfinden, was man - besonders vor Ort - besser machen kann...

Wenn junge Leute den Wunsch haben, Wachstumszwänge aufzulösen, die Produktion in die, wie sie sagen, Naturwelt zu reintegrieren, wenn wirtschaftliche Entflechtung stattfinden soll - Dezentralisierung der Produktion, Entwicklung von Mittel- und Kleintechnolagien, Verselbständigung zu kleinen Einheiten -, kurz, wenn die Idee, auf einem niedrigen Niveau besser zu leben, sich dort ausbreitet, dann können wir nicht sagen: Dies alles läßt sich für uns alle machen, und ihr habt alle recht. Aber wir müssen die Signale beachten, daß es Menschen in unserem Lande gibt, die so nicht mehr weiterleben wollen, und wir müssen uns fragen, ob wir nicht Formen finden müssen, die humaner sind als das, was wir jetzt haben.«

Auf den ersten Blick läßt diese Passage der Politikerin Bemühen um Verständnis sowie Nüchternheit erkennen. Die Maßstäbe für die Beurteilung alternativer Projekte müssen jedoch erheblich gründlicher durchdacht werden. Daß die persönliche Befriedigung der Beteiligten ein wichtiges, nicht zu vernachlässigendes Element darstellt, hat die Ministerin zwar angedeutet. Die ökonomische Beurteilung hat sie sich aber zu leicht gemacht. Der Eindruck, daß viele Alternativ-Projekte ökonomisch schwach sind, entsteht vermutlich oft durch eine gewisse Unbeholfenheit, durch Mangel an technischer Brillanz und professioneller Routine. Da kommen Kapitalmangel für eine rationelle Ausstattung und Anfängerschwierigkeiten zusammen. Für die ökonomische Bewertung müssen Vergleichs-Konzepte entwickelt werden, die alle Kosten (wie Belastung der Umwelt, Beanspruchung der Infrastruktur) erfassen.

Gerade der Agrarmarkt, den die Ministerin erwähnt hat, ist, (ähnlich wie der Wohnungsmarkt) ein Beispiel für ein Versagen des bürokratischen Managements, unter dem alle Be teiligten leiden: Landwirte, Natur, Steuerzahler und vor allem der auf Ernährung angewiesene Mensch. Die Produktsubvention führt zu Überschüssen, die nur mit einer rücksichtslosen, Natur und Menschen gefährdenden Technologie (Dünger für Pflanzen, Hormone für Tiere) erreicht werden können. Die Überschüsse - Rind-, Schweinefleischberge, Milch, Butter, Wein... - müssen kostspielig subventioniert, gehortet und schließlich oft auch vernichtet werden. Der Alarmruf, der EG-Agrarmarkt sei nicht mehr zu finanzieren, ist seit Jahren von Politikern zu hören.

Angesichts dieser altbekannten Schwierigkeiten zeigen alternative Anbaumethoden Problemlösungen auf. Daß sanfte Landwirtschaft weniger Erträge bringt, ist unbestritten. Aber dadurch entfallen Kosten für Überschuß-Subventionierung, Lagerung, Vernichtung. Gleichzeitig entfallen Folgekosten für Erkrankungen, die auf chemische Rückstände in den Lebensmitteln zurückzuführen sind.

Daß sanfte Methoden mehr menschliche Arbeitskraft beanspruchen, ist auch kein Manko angesichts steigender »struktureller« Arbeitslosigkeit.

So wie.sich die wohlwollende Skepsis Antje Hubers auf dem Gebiet alternativer Ernährung bei näherer Betrachtung als unkritische Fixierung auf eine falsche Agrarpolitik erweist, die von allen als schwachsinniger Mißstand beklagt wird, so könnte eine genauere Betrachtung anderer Probleme (Verkehr) ergeben, daß die alternativen Modelle entweder ebenso gut sind wie die vorherrschenden oder sogar besser. Statt die Jugend untersuchen zu lassen, sollten die Politiker die Kritik an ihrer Politik ernst nehmen und ihre Ohnmacht gegenüber Bürokratie und Technokratie entschlossen bekämpfen.

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