Mai 1989


Endlich Briefe von Hassan und Boris, es schien Jahre gedauert zu haben und Jahre. Fast gleichzeitig kamen sie an, und ihre Inhalte ähnelten sich, denn immerhin war dazwischen der Staatsanwalt, der alles verwerten wollte. Boris schrieb, daß sie ihn schon ein paarmal verlegt hatten, ihm seinen Kram durcheinandergeschmissen und ihm einzelne Sachen abgenommen hatten. Aber es ging noch so, und er ließ sich nicht provozieren. Warum auch wütend werden und sich Blößen geben denen gegenüber, die nur darauf warteten? Dafür war anderswo noch genug Zeit und Raum. Boris konnte sich beherrschen. Das hatte er schon immer gekonnt, es reichte ja auch, ab und zu das Richtige zu sagen oder zu tun. Er hatte noch nie den Eindruck gemacht, als ob ihn Knast so richtig plätten könnte, und so klang es auch in seinem Brief. Ich merkte, daß ich ihn eigentlich immer noch nicht richtig kannte, obwohl wir bestimmt seit gut drei Jahren oft genug zusammen gewesen waren, in harmlosen wie gefährlichen Situationen. Naja, was heißt schon kennen. Das waren ja nicht irgendwelche drei Jahre gewesen. Andererseits rauchte er vor dem Frühstück, und das mochte ich nicht so gern. Und sein Musikgeschmack war auch nicht meiner, aber wir wohnten ja nicht zusammen und waren nicht verheiratet. Jetzt hatten sie ihn eingesteckt, und Judith saß in Plötzensee. Das war Scheiße, denn die beiden hatten sich gerade ineinander verliebt, und da hätte es wenigstens Gnade vor Unrecht geben sollen. Er schrieb nichts davon, logisch, denn unsere persönlichen Beziehungen gingen keinen Staatsanwalt oder Richter etwas an, aber es nagte sicher nicht zu knapp an ihm. Ich konnte mir vorstellen, wie irgendwelche Knackis ihm mit besten Wünschen Pornos zukommen ließen. Das würde so ein Moment sein, wo er vielleicht die Ruhe verlieren könnte, obwohl das unklug war, denn im Knast mußt du deine Erwartungen an andere Menschen niedrig ansetzen und auch mit denen auskommen, denen du sonst aus dem Weg gehst, die dir zuwider sind oder dich einfach nerven. Aber er saß ja auch in dieser eingeschränkten Isolationshaft, also bestand da wohl keine Gefahr.

Und Judith in der Plötze, von der auch ein Brief angekommen war, würde sich mit so was wenigstens nicht rumärgern müssen. Vielleicht gingen die Frauen im Knast ja wirklich besser miteinander um. Wissen konnte sie's nicht, denn wir hatten ja alle fünf die gleichen Haftbedingungen, und daher würde sie ihre Mitgefangenen kaum kennenlernen. Hatte ich Judith nicht sogar auf so einer Knast-Demo kennengelernt, in der Bewegungszeit, die die berüchtigten Jahrzehnte her sein mußte? Oder noch vorher? Judith kannte ich jedenfalls schon ewig lange; es war seltsam, wir hatten uns immer wieder aus den Augen verloren und irgendwo wieder getroffen in diesem Dorf namens Kreuzberg. Unsere Freundschaft war besser als so manch eine Liebesbeziehung. Mit Judith gab es fast nie Probleme, eigentlich erstaunlich. Sie und Boris paßten gut zueinander, und sei es nur in der Hinsicht, daß sie es anderen ersparten, sich ständig Gespräche über Beziehungsprobleme und sonstige Psychos anhören zu müssen. Obwohl dieses Urteil ja vielleicht auch etwas verfrüht war, nach der kurzen Zeit, die diese Beziehung nun hatte blühen können. Und jetzt hatten sie erst mal genug Muße, sich im Konservieren von Gefühlen zu üben und Probleme zu sammeln, wenn sie wollten. Judith schrieb nichts davon, sondern auch nur das übliche, was sich so als erstes von Knast zu Knast sagen ließ und was ich den anderen auch geschrieben hatte. Und so war es auch in Ordnung, und es wurde auch gleich schöner in der Zelle, nachdem ich die Briefe zu den anderen gepackt hatte, die sich schon stapelten; ich konnte die Pizza riechen, die ich mit Boris und Judith gegessen hatte, eine mit richtig guten Sachen drauf, nicht ganz so gummiförmig wie sonst, dazu die nächtlichen Straßen von Kreuzberg, die wir vom Vorgarten der Pizzeria aus sahen; die vorbeiratternde Hochbahn, das losdüdelnde Martinshorn der Feuerwehr von gegenüber, die Grüppchen von Touristen oder normalen Kreuzbergern oder Leuten, die in Wilmersdorf normal gewesen wären, die Muslime, die aus der türkischen Moschee nebenan kamen, und die Dealer, die direkt daneben ihre aufgemotzten Autos auf dem Bürgersteig abstellten. Und dann Leute, die wir kannten, die sich zu uns setzten oder die im Vorbeigehen grüßten. Und ab und zu Bullen, die mißmutig vorbeifuhren; die Türen der Wannen waren geöffnet, weil es so schwül war und weil sie auch ein bißchen auf Gelegenheiten warteten, Rache für den letzten Krawall zu nehmen, vielleicht für eines ihrer 1. Mai-Debakel. So konnte es noch lange weitergehen. Schade, daß so viele das nicht bemerkten und immer weiter, weiter mußten. Nicht, daß ich nicht auch weiter wollte. Aber alles mit Maß und mit Ziel, sagte der Notar Bolamus bei Franz Josef Degenharde.

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