März 1981


Es wurde dunkel, und damit begann die Zeit der Spannung. Wir gingen durch die Gneisenaustraße, in dichten Reihen, eingehakt, und an den Rändern die Bullen in voller Kampfmontur, und allen war klar, daß es passieren würde. Die Frage war nur, wann es soweit war, wann die Spannung zur Explosion führen mußte. Und ich war drin, anders als damals, lief mit, es waren nicht »die«, die da liefen, sondern wir, und es waren nicht Polizisten neben uns, sondern »die«, die Bullen, und es gab keine Unklarheiten oder fließenden Übergänge zwischen uns und denen.

Nicht weit vor mir begann es mit einer Rempelei; es war nicht viel zu sehen außer sich bewegenden Menschen, die hierhin und dorthin drängten, erhobene Schilde und Knüppel und ihnen gegenüber Arme, die zum Schutz vor den Schlägen gehoben wurden. Wer angefangen hatte, spielte keine Rolle. Es ging ganz schnell. Alles rannte auseinander, der Demozug zerbrach, die Leute verteilten sich, kletterten über das Gitter zum Mittelstreifen, und die ersten Steine flogen gegen die Bullen, die einen Pulk gebildet hatten.

Der Tanz hatte begonnen, und es war nebensächlich, wie er eröffnet wurde. Ich erkannte niemanden im Halbdunkeln, alle bewegten sich kreuz und quer, die einen auf die Bullen zu, die anderen weg, manche auf der Flucht, andere, um sich zu bewaffnen. Neben mir war noch Petra, aufgeregt und unschlüssig. An allen Ecken gruben Leute am Boden die Pflastersteine aus und verstreuten sie, und zischend landeten die ersten Tränengasgranaten neben uns. Ich wollte zuerst weg, Hauptsache weg. Alles, was ich hatte, war ein Tuch, das ich immerhin vors Gesicht gezogen hatte, aber gegen Tränengas nutzte es nichts. Petra hatte so was noch nicht erlebt, aber ich fühlte mich nicht gerade verantwortlich, denn ich hatte es auch noch nicht erlebt. Da vorn knüppelten die Bullen Leute nieder, die nicht schnell genug gewesen waren, und nun rannten sie, mit den Knüppeln auf die Schilde trommelnd, auf uns los, und alle rannten. Irgendwie schienen die Bullen schneller zu sein als wir. Ich registrierte kaum, wie ich mich bückte und Steine aufsammelte, und neben mir rechts und links blieben die Leute stehen, nach und nach, drehten sich um und warfen ihre

Steine, bis die Bullen stehenblieben. Sie blieben stehen und versuchten, die Steine abzufangen mit ihren Schutzschilden, doch es wurden immer mehr, und sie begannen, sich zurückzuziehen. In der Luft war ein Schreien und Poltern, dessen Ursprung nicht zu bestimmen war, es füllte den Raum zusammen mit den Polizeisirenen, dem Gas, den Steinen. Es war nicht mehr ein Raum, den ich beobachtete. Der Stein, der erste Stein, mein Stein, hatte den Raum mitgefüllt. Ich gehörte dazu, es war, als sei ich eingetaucht, nein, umgekehrt: aufgetaucht aus dem dumpfen, verschwommenen Wahrnehmen unter Wasser in die klare und scharfe Luft, jetzt wurde endlich deutlich, was alles geschah, wohin es gehörte und wohin ich gehörte. Das erste, was der Stein für mich bedeutete, waren die zum Stehen gebrachten Bullen, die von Jägern zu Gejagten wurden. Aus Angst wurde Mut, aus Ohnmacht euphorische Stärke. Da rannten sie, nicht wir!

Alles war ein einziges Chaos, Bullen und wir und Neugierige und Anwohner liefen durcheinander, die Wannen kurvten herum, die Blaulichter unscharf im Gasnebel, Müll und Bauwagen lagen auf der Straße; die Autos hielten und spuckten Bullen aus, die brüllend hinter dunklen Gestalten herstürmten oder mit erhobenen Schilden zu den Fahrzeugen flüchteten, die mit aufheulenden Motoren anfuhren. Ich kniete irgendwo an einer Ecke und buddelte Steine aus und war wie besoffen. Petra neben mir auch, aber sie hatte keinen Stein geworfen. Sie hatte ihn in der Hand behalten. Sie schien mir immer noch im Wasser zu tauchen. Es war ein Zeichen mehr, daß unsere Wege sich trennten, was wir aber erst später bemerkten. Jemand rief mir zu, ich sollte nicht so weit vom Geschehen entfernt in der dunklen Straße Steine ausgraben, wegen der Zivilbullen, die mich abgreifen könnten. Ich reagierte kaum, jaja, was sollte uns schon passieren. Ich hatte nicht gesehen, was passieren konnte: Der Anlaß der Demo war die Räumung von drei besetzten Häusern am Fraenkelufer gewesen. 800 Bullen, Panzerwagen, Wasserwerfer, Absperrgitter, sogar ein Polizeiboot auf dem Kanal, alles abgeriegelt, kein Millimeter Platz übrig. Auf mich wirkte das inszenierte Schauspiel staatlicher Allmacht nicht, denn ich hatte die Steine jetzt persönlich kennengelernt, und sie hatten mir gesagt, mir zugerufen, daß es einen Weg gab. Einen einfachen Weg, gegen alle Panzerungen, gegen die Jagdhorden und Knüppel der Macht, einen Weg, über den ich jeden Tag lief. Ein Weg, den du aufreißen mußtest, um auf ihm gehen zu können.

Natürlich ging es vorbei, und natürlich weiter. Die Nacht nahm kein Ende, sie verlagerte sich in andere Straßen, mit anderen Bullen, anderen Menschen auf unserer Seite, anderen Steinen, brennenden Barrikaden. Jetzt war es auch meine Nacht. Die Augen brannten vom Tränengas, aber das war egal, denn es war das Parfum des Aufstandes, der Wohlgeruch, den der Angstschweiß der Macht verströmte. Die Funken der Barrikaden versengten unsere Haare, und die Hitze trieb uns zurück, wenn wir schwitzend Bretter heranschleppten und Matratzen aufs Feuer warfen, nach vorne und hinten schielend, ob die Blaulichter schon herankamen, und auf die Sirenen und die Wannenmotoren horchend. Wenn sie schon nicht uns gehörte, die Nacht, dann gehörte sie wenigstens auch nicht den anderen. Wenn es auch nicht unsere Zeit sein mochte, so war es zumindest auch nicht ihre.

Es war ein einziger Rausch, nicht nur für uns. Ein Spiel, das immer wieder umschlug, für Sekunden, um ernst zu werden - aber dann kam stets der Moment, wo es wieder ging, und wo der Ernst der Gefahr verblaßte, denn es war alles noch einmal gutgegangen. Wenn es keinen Ausweg mehr zu geben'schien, öffnete sich eine Tür, ergab sich eine Lücke in den Bullenabsperrungen, drehten die Verfolger plötzlich ab oder wurden sie zurückgeschlagen. Ich rannte allein auf der Straße, hinter mir mit heulendem Motor eine Wanne, ich rannte wie ein Idiot, immer geradeaus, wie im Fernsehkrimi, wo alle Zuschauer sich darüber aufregen, wie blöd es ist, immer geradeaus wegzulaufen vor dem Auto, durch die Adalbertstraße, die Wanne hinter mir, gleich würde sie mich umfahren, ich mußte fast kotzen vor Anstrengung und Angst. Ich hatte nur eine Flasche geworfen, weil die Bullen gerade zu fünft jemanden am Boden hatten und verdroschen, und der Fahrer war auf eigene Faust hinter mir her. Es stieß mich etwas von hinten, in Kniehöhe, nur ein Moment, ein Antippen der Stoßstange, dann kriegte ich die Kurve, zwischen zwei Bauwagen durch, und die Wanne schleifte an den Seitenwänden entlang und war vorbei. Am 12. Dezember 1980 hatten sie einem damit die Beine zerquetscht, zwischen Stoßstange und Betonkübel. Ich atmete nur und sah eine Weile Sterne. Und dann war es wieder gut, lagen Steine da, gab es Baustellen zum Barvikadenbauen, öffneten sich neue Wege.

Das waren die Märznächte, meine Nächte, die nichts mehr zu tun hatten mit den Dezembernächten. Was ich im Dezember getan hatte, hatte Petra jetzt erlebt. Nach Ende der Vorstellung war sie gegangen, und ich spielte jetzt mit. Das war der Unterschied. Wo ich gestanden hatte, standen andere. Wo ich stand, hatten andere gestanden, standen noch dort, wir wurden immer mehr. Nicht mehr ein paar hundert, sondern ein paar tausend, die die schwarzen Tücher trugen. Vielleicht glaubten auch wirklich einige daran, daß es bald zehntausend sein würden, während andere bereits beharrlich das Ende der Bewegung verkündeten. Vielleicht kamen schon die ersten Kurven, die ersten Ecken, das Ende der einfachen geraden Wege, aber wen interessierte das schon, solange es vorwärts ging?

Wir waren gegen Eigentum, höchstens die Straßen sollten uns gehören, und alle sollten darauf tanzen können. Und manchmal war es auch so, manchmal fuhren die Wannen planlos umher, ohne anzuhalten, und wir dazwischen, wie es sich gerade ergab, von allen Seiten schmeißend, auch von vorn, und sie fuhren weiter. Ob die Bullen sich nicht raustrauten oder einem Befehl folgten, war mir dann herzlich egal. Was interessierten mich Risiko und Strategien, Nutzen oder Sachschaden bei diesem Gefühl der gepanzerten Macht als Spielball meiner lächerlichen Steine! Es sollte immer so weitergehen. Es war besser als jede Revolution.

Abends, wenn Zeit war, vor dem Fernseher, und morgens, nach den Zeitungen gierend, erzählten wir uns unsere Heldentaten. Nicht nur die Siege, sondern auch die Niederlagen. Es ging nicht darum, am tollsten zu sein, sondern ein Teil des Spiels zu sein. Dabeisein war alles. Geschichte wird gemacht, sangen die »Fehlfarben« im Hintergrund, und wir waren es, die sie machten. Wir traten heraus aus der kollektiven Ohnmacht in eine kollektive Stärke. Es gab keine anderen Sonnen neben der Bewegung. Aus Neukölln und vom Kreuzberg zogen die Ausdünstungen der Fabriken heran, Kaffee und Schokolade bei Südostwind, Gerste von Schultheiß bei Westwind, und sie bedeuteten nicht mehr als eine dünne Erinnerung an Zeiten, in denen von »Klassenkampf«, »Proletariat« und ähnlichem geredet worden war. So was lebte nur noch in Büchern. Es gab eine neue Klasse: Die Menschen, die sich bewegten, um ihre Fesseln zu sprengen, das war unsere Klasse. Wenn wir kein Geld hatten, egal, auch gut, in den Supermärkten wurde geklaut, was das Zeug hielt, Miete und Strom wurden nicht gezahlt, wozu also Geld? Wozu arbeiten wie ein Idiot? Damit wir später auch mal Angst um unser Auto hätten, wenn draußen die Barrikaden gebaut wurden?

Gewalt als moralisches Problem war erledigt. Wer darüber noch debattierte, war nicht ernst zu nehmen. Es war so, als wolltest du über das Ja oder Nein von Gegebenheiten wie dem Leben, dem Tod oder der Liebe diskutieren, als ob jemand Regen und Sonnenschein in Frage stellen wollte. Gewalt war keine Frage, kein Problem, sondern eine Realität, mit der alle konfrontiert waren. Die Bewegung war von der Gewalt sowieso nicht zu trennen, denn ohne Gewalt wäre sie nicht entstanden, und die Bewegung war uns alles. Interessant war höchstens, wann Gewalt taktisch eingesetzt werden sollte oder konnte oder mußte. Mußte! Alles um uns her schrie nach Gewalt! Gegen den Moloch, an dessen glatten, gesichtslosen Flächen kein Halt zu finden war, der uns aus den zahllosen Schaufensterscheiben entgegengrinste, mit Neonreklamen glitzernd, funkelnd, leuchtend, flackernd, glänzend, sauber, mit passend dekorierten Auslagen in betonstarrenden Neubaubunkern, lachenden, zufriedenen Menschen mit zerquetschten Seelen, die so oft in der »Bild-Zeitung gelesenkatten, sie seien glücklich, bis sie,es selber glaubten. Der Moloch, dessen Leuchtreklame dich überall einholte, farbig, gleichmäßig oder abwechselnd leuchtend, aus-und-an, aus-und-an, penetrant im Blickfeld, sich immer vordrängend, blinzelnd, tänzelnd, schreiend, ein Stich in die Augen, eine Überschwemmung, die kein Damm aufhielt. Dahinter verbarg sich die Fratze. Die Bäume, die krepierten, um die Dividende bei Daimler-Benz zu gewährleisten. Die AKWs, Goldesel für Elektrizitätsunternehmen und Banken, die dem Staat nebenbei die Bombe sicherten. Um ihnen den Uran-Nachschub zu sichern, wurden die letzten US-amerikanischen und australischen Urbewohner von ihrem Land vertrieben. Giftgaslager und Raketenbasen, Kasernen und Schießstände, Manövergelände und Trainingsgebiete, wo für den kleinen und großen Krieg geübt wurde. Den kleinen in Nordirland, für den die englischen Truppen in Westdeutschland ausgebildet wurden, den großen, in dem die BRD als ständige Militärparade gegen den Osten diente. Gifte, die in Luft, Wasser, Erde und Lebensmittel gepumpt wurden, als gebe es dafür Preise zu gewinnen, im Namen des Profits, des Profits von Großkonzernen, des Profits der Herrenmenschen, der stolzen Männer. Die Männer, die Frauen vergewaltigten und erniedrigten, für sich arbeiten ließen und zum Dank verhöhnten. Die Männer, die höchstens den Haarschnitt geändert hatten gegenüber dem »Dritten Reich«. Dieselben Generäle, Staatsanwälte, Richter, Beamten wie im Faschismus. Das über Nazigesetze gezwängte Grundgesetz. Isolationsfolter in deutschen Knästen, Todesschüsse, Menschenjagd, Berufsverbote, Zensur, alles unter dem Mantel der wehrhaften Demokratie. Wer macht Demokratie? Wehrmachtdemokratie! Regenwälder, die für deutsches Klopapier draufgingen, Menschen, die verhungerten, während in ihrem Land Getreide als Futtermittel für europäische Rinderherden angebaut wurde, von deren Fleisch die Verhungernden nichts zu sehen bekamen - und an diesem Fleisch war nicht mehr viel Natürliches. Faschistische und diktatorische Regimes in allen Teilen der Welt, um die Profite der westlichen Konzerne nicht zu gefährden. Folter und Elend, Tod und Vertreibung als Humus, aus dem uns blühender Wohlstand erwuchs. Als Blattläuse die weltweiten Flüchtlinge, gegen die unsere Herrschenden rassistische Stimmungen emporwachsen ließen; doch die Blüten dieses Wohlstandes waren fahl und krank, denn um sie zu sehen, brauchten wir Fernseher und Zeitungen und die Schaufenster, und die Menschen wurden zu Augen und Ohren, zu Speichern, in die gnadenlos alles hineingeschüttet wurde, ohne Chance, selbst frei zu entscheiden, pausenlos unter Druck, auf den Zeigern der Uhren reitend, die nur noch Sekunden und Zehntelsekunden anzeigten.

Die anderen vom Zeiger stoßend, um nicht selbst zu fallen, die letzten Schlagzeilen wiederholend, um gebildet zu erscheinen, allein, entwurzelt, und, wenn genug Zeit zur Erkenntnis blieb, verzweifelnd oder erstarrend. All das und noch viel mehr staute sich hinter den Fassaden und Schaufenstern, lugte hinter den Auslagen hervor, stank hier und dort unter der Tür hindurch, und ständig lauerte es unserem Gewissen auf. Manchmal ließ es sich durch Drogen betäuben - nicht der einzige Grund für Drogen! -, und manchmal konntest du darüber lachen, und manchmal schlug es zu wie mit Eisenstangen und Hämmern und schrie dir ins Gesicht, daß es nicht sein durfte, daß es nicht eine Sekunde länger sein durfte und daß es der Moloch war, der dich fertigmachte. Nur wer ganz nahe an die Scheiben ging oder wer ein Loch reinschlug, konnte sehen, daß die eigenen Probleme und Frustrationen sich dort endlos fortpflanzten, in alle Richtungen, bis sie schließlich in den brasilianischen Regenwäldern ankamen und trotzdem noch der Vater mit seinen Sprüchen und Schlägen blieb und alles dazwischen. All das verbarg sich hinter den Zerrbildern, die die Schaufensterscheiben und die Schutzschilde der Bullen spiegelten, und zuerst mußten die Spiegel weg. Aber die kannten keinen Spaß, die Spiegel.

Da war keine Taktik. Da war keine Moral. Da war die Gewalt, die alles umklammerte. Die Gewalt, die das ganze System zusammenhielt, die der Realität den Schein der Ordnung in all dem unmenschlichen Chaos gab. Die Gewalt, die längst die Ebene von Kain und Abel verlassen hatte, jene vorgeschichtliche Zeit, in der Gewalt nichts anderes war als der Schlag eines Menschen gegen einen anderen. Jede neue Generation fand eine neue Art der Gewalt, eine Steigerung bis zum Massaker, zur Massenvernichtung, eine Steigerung bis zur völligen Unkenntlichmachung, bis das häßliche Gesicht der Gewalt hinter hübschen Masken verschwand, hinter langen Anhäufungen kleiner Gemeinheiten, hinter Dehnungen von Augenblicken auf viele Jahre, in denen Demütigungen und Versklavungen versteckt wurden. Gewalt nistete sich in allem ein, verbreitet durch männliche Herrschaft und Religionen, die wie Seuchen die Menschen überfielen und ihnen den Willen nahmen, frei zu denken und zu entscheiden, bis die Gewalt schließlich überall saß, in den Taten, in den Berührungen, in den Worten, in den Gedanken, in allem, über das Menschen verfügten. Wer will den Gegenbeweis führen in einer Sprache, die nur den Beweis formulieren kann? Es gab keine richtige Sprache, um klar zu sagen, was wir zu sagen hatten, darum konnten uns nur die verstehen, die gesehen hatten, was wir gesehen hatten. Viele hatten sich danach die Augen verbunden oder ausgestochen. Wir waren nicht sprachlos, nichts weniger als das, doch wir waren Geisterfahrer auf der Autobahn der Normalität mit unserer Sprache, und so konnten uns nur die verstehen, die den starren Blick von der Straße weg richteten, die wirklich verstehen wollten. Und wir selbst achteten meist nicht auf die, die uns entgegenkamen und in der anderen Richtung verschwanden, wir verachteten sie oft oder bedauerten sie, wir hofften vielleicht, doch wir fühlten uns nicht verantwortlich, denn sie selbst waren es ja, die bloß hinzusehen brauchten, um zu erkennen, was ihre Normalität tatsächlich bedeutete. Und dann würden sie verstehen.

Und da war nur ein Weg, um alles zu ändern, um den Moloch in all seinen unzähligen Verästelungen und Unterschiedlichkeiten zu zerstören. Es war sinnlos, ihn wandeln zu wollen, denn es war nichts Gutes an ihm, nichts Erhaltenswertes. Er mußte weg. Er mußte zerstört werden. Es gab nur eine Konsequenz aus dem Gesehenen, nur eine Konsequenz, wenn er wirklich weg sollte. Es war idiotisch, auf Veränderungen zu hoffen, sich für kleine Verbesserungen abzurackern. Verbessert wurde damit im Endeffekt nur das Funktionieren dessen, was doch gerade außer Funktion gesetzt werden sollte. Die Entscheidung war nicht die Gewaltfrage, sondern die Frage, ab er weg sollte oder nicht, der Moloch, der alles bedeckte. Auf Gewalt zu verzichten hieß, sich zu arrangieren, es war der historische Kompromiß der Mo@, die Logik des kleineren Übels, die besagte, wenn wir schon in der Hölle lebten, sollten wir wenigstens versuchen, das Feuer etwas kleiner zu stellen. Wer auf die Gewalt verzichtete, hatte sich amputiert, einen Teil der eigenen Träume verraten, sich die Hand abgehackt, die die Träume hätte verwirklichen können, aus Angst, diese Hand könnte auch Schlechtes tun. Wir wollten unsere Hände behalten, und sei es um den Preis, unsere Unschuld zu verlieren.

Nein, es gab gar keine Unschuld zu verlieren. Unschuldig waren nur die Kinder, und das auch nicht mehr lange. Da half keine Gewaltfreiheit, und sei der Humanismus wie ein Berg so schwer. Es war zwar eine edle Absicht, mit reinem Gewissen zu leben, doch es war eine Illusion. Jeder gangbare Weg führte über die Knochen anderer Menschen und reduzierte Gewaltfreiheit auf das Bedürfnis, sich nicht die Hände schmutzig machen zu wollen (die abgehackten, sozusagen; auch Allegorien können stolpern). Die Füße blieben im Schmutz. Und wofür? Da wollten wir unserer Schuld lieber offen begegnen und unsere Hände behalten, uns nicht selbst zur Schwäche verurteilen, solange es noch Hoffnung gab.

Es blieb die Taktik, die Frage, wann und wo die Gewalt nötig war. Da waren wir uns nie einig, und wir hatten sowieso keine Strukturen, um verbindliche Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Es gab eine allgemeine revolutionäre Moral, deren Grenzen ungenau abgesteckt waren, deren Verhältnis zur Gewalt aber von allen Seiten, Freunden wie Feinden, schärfer ausgeleuchtet war als irgendein Problem sonst.

Manchmal schien es, als gebe es überhaupt nur dieses Problem. Wenn anderswo ganze Gebirge unbeachtet versanken, wurde hier jedes Staubkorn auf die Waagschale geblasen. pas war richtig, denn wir wollten etwas Besseres schaffen, aber es war auch ungerecht, und wir hatten keine Lust, darüber noch zu streiten. Wir handelten lieber; der Haß mag ja auch die Gesichter der Gerechten verzerren, aber die Euphorie der Befreiung macht auch die Gewalttätigen schön. Und die Befreiung und die Gewalt gehörten zusammen wie Geburt und Schmerz.

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