Juni 1989


Ich schmiß mit den Papieren herum, verdammt, sie machten mich wild: die Akten zu unserem Fall. Ich verteilte die Papiere über die Zelle, aber ich brachte es natürlich nicht über mich, sie ins Klo zu stopfen. Akteneinsicht, wie sich das nannte, hatte man uns gewährt; selbstverständlich hatte es ein paar Monate gedauert; selbstverständlich waren sie nicht vollständig - so ist das in politischen Strafverfahren nun mal üblich. Die wirklich interessanten Dinge behielt die Staatsanwaltschaft lieber für sich. Das war nun wirklich kein Grund mehr, sich aufzuregen: Es war zu alltäglich. Es war ganz unterhaltsam, die ameisenhafte Kleinarbeit der Staatsschutzbehörde zu verfolgen, durchmischt mit den geheimnisvollen Erkenntnissen des Verfassungsschutzes, soweit uns die zugänglich gemacht wurden, und zuletzt die überaus gewitzten Schlußfolgerungen eines Oberstaatsanwaltes. Da war so einiges an komplettem Blödsinn und offensichtlich unlogischen Zusammenhängen versammelt, aber auch das war es nicht, was mich wild machte. Auch das war normal, es waren ja auch nur Menschen, die diese Akten fabriziert hatten, und zudem wollten sie ja zuerst und vor allem uns Schlimmes nachsagen und -weisen und uns im Knast behalten. Da war es nur folgerichtig, daß sie die Realität hier und dort ihrem schönen Gebilde »terroristische Vereinigung« anpaßten. Dann gab es etliche Einzelheiten, die stimmten oder die mit uns überhaupt nichts zu tun hatten, und einiges war durchaus lehrreich, anderes schmeichelhaft, wieder anderes peinlich, Fehler, die wir begangen hatten und für die wir uns jetzt hätten ohrfeigen können. Bei Licht betrachtet sahen weder wir noch unsere Verfolger besonders heldenhaft aus, weder James Bond noch Sherlock Holmes hatten eingreifen müssen. Ein paar lächerliche Kleinigkeiten, die Verdacht erweckt hatten, ein paar Observationen, und schon waren wir im Fadenkreuz gelandet, wahrscheinlich war Kommissar Zufall stark beteiligt gewesen. Tausende waren vielleicht in den letzten Jahren aus vergleichbarem Anlaß überwacht worden, ohne dabei schließlich im Knast zu enden.

All das genügte nicht, um mich wild zu machen. Es waren die Akten selbst, die schriftliche Neuformierung der Wirklichkeit, wo jedes Aktenzeichen mich ohnmächtiger machte. Dieses Papier strafte mich Lügen, wenn ich ihm widersprechen wollte, denn hier stand es schwarz auf weiß, gezeichnet und unterzeichnet und gestempelt, und wenn ich einmal irgendwo vermodern würde, würde dieses Papier immer noch daliegen und eine Geschichte verkünden, die es selbst geschaffen hatte - so, als sei diese Geschichte nicht ein Kunstprodukt Außenstehender, sondern von mir und den anderen gelebt, von Boris und Judith und Carmen und Hassan und anderen Menschen. Die Akte war auch so eine kleine Trennscheibe: Sie erlaubte den Blick auf die Wirklichkeit, doch du mußtest schon selbst wissen, was hinter der Scheibe war, um es richtig zu erkennen. Sonst gab es nur zu sehen, was der Scheibe gefiel. Ich fürchtete dabei nicht etwa um den Verlauf des bevorstehenden Prozesses: Der Richter war ja von keiner anderen Natur als die Akte, und er würde mir mit derselben logik begegnen und, nebenbei, mit einem erheblichen Willen zur Verurteilung: Es war mehr ein grundsätzlicher Ärger über die Demütigung durch diese Blätter, diese eingefärbten Reste von Regenwäldern, die sich in Regalen stapelten und jetzt wieder mal bei mir angekommen waren.

Ich schmiß also mit den Papieren rum, und dann sammelte ich sie wieder auf und beruhigte mich etwas, und ich sagte mir, daß es ja wohl nicht nötig war, sich so aufzuregen, und außerdem war gestern erst frischer Einkauf gewesen, und gleich kam der sf-beat im Radio und überhaupt, morgen kam Goran zu Besuch und brachte noch jemanden mit, ich hatte vergessen, wen. Es war also eher angebracht, glücklich und zufrieden zu sein.

Das war jetzt der zweite Besuch hintereinander von Goran, ich hoffte, daß es deswegen draußen keinen Streit gäbe. Mit Goran konnte ich gut reden, auch wenn jemand daneben saß, denn wir verstanden uns als alte Freunde ganz gut, auch wenn andere nichts verstanden. Wir sprachen über andere Dinge als früher - damals, als wir uns kennengelernt hatten, war der Alltag durchdrungen von Häuserkämpfen, von Demos und Krawallen, Besetzerräten und Festen; von all dem gab es heute nicht viel zu erzählen.

Im Laufe der Jahre waren wir auseinandergerückt. Mitte der Achtziger, als die Fremdworte zunahmen und die Sätze länger und schwieriger wurden und ihr Inhalt dauernd geklärt und in Frage gestellt werden mußte, waren wir uns eine Weile fremd geworden. Er hatte von wichtigen politischen Diskussionsprozessen gesprochen und Organisierung und Strukturierung des Widerstandes entdeckt, und mir war das alles zu losgelöst von der Erde, Diskussionen wie im Spacelab, das interessierte mich nicht. Und heute war der Widerstand zwar nicht sonderlich strukturiert oder organisiert, was immer auch die Zeitungen über »autonome Gruppen« fabulierten, aber mit Goran konnte ich wieder besser reden, eher so wie früher.

Am liebsten hätte ich mich jetzt mit Goran hingesetzt und gemeinsam diese Akten durchgelesen, und dann hätten wir uns über die schönsten Fehler und Irrtümer amüsiert, aber das ging ja nicht, weil er die Akte offiziell nicht sehen durfte und wir schon gar nicht neben einem Staatsschutzbullen die Pannen der Ermittler verkünden konnten. Genug zu plaudern und zu amüsieren würden wir auch so finden.

Für mich war die Verhaftung wenigstens in dieser Beziehung eine Erleichterung. Jahrelang hatte ich besonders Goran gegenüber die Schizophrenie gespürt, die das Leben am Rande der Illegalität mit sich brachte. Immer wieder mußte ich ihm gegenüber Erklärungen finden, warum ich mich zurückhielt, kaum mehr Risiken einging, sei es beim Klau im Supermarkt, sei es auf Demos, wo ich mit Goran so oft im dicksten Gewühl gewesen war. Der Versuch, ihm gegenüber offen und ehrlich zu sein und gleichzeitig einen wichtigen Bereich des eigenen Lebens auszublenden, machte mir oft zu schaffen. Denn ich verschwieg ihm ja nicht aus konkretem Mißtrauen etwas, sondern weil das ungeschriebene Gesetz der militanten Politik aus gutem Grund forderte, daß in diese Arbeit stets nur die direkt Beteiligten eingeweiht waren. Dies und die Gewohnheit, stets davon auszugehen, daß Gespräche, die in den eigenen Wohnungen und Treffpunkten geführt wurden, abgehört und aufgezeichnet wurden, hatten die Angriffe der staatlichen Behörden auf uns seit Jahren auf Zufallserfolge reduziert. Nun war ich selbst Teil eines solchen Zufallserfolges geworden, was mich nur wenig tröstete. Doch was Goran anging, fühlte ich mich wirklich leichter. Er mochte sich seinen Teil gedacht haben, und wir hatten ja alle versucht, locker damit umzugehen, aber ich merkte erst jetzt, wo alles offenlag, was für eine Anspannung es doch gewesen war. Wenn ich den Staatsschutzbullen ansah, der unser Gespräch belauschte, haßte ich ihn mehr für diesen Zwang als dafür, daß er mich im Knast festhielt.

 Postscript (gezippt)DownloadPDF-Format 


zurück zum Inhaltsverzeichnis