März 1989


Es war nichts, über das sich viel sagen ließ: Die Beschreibungen wiederholten sich, dehnten sich endlos dahin, ermüdeten. Und genau das war es, was den Knast ausmachte. Ein Wiederholen und Dehnen und Ermüden ohne Ende. Die Tür war zu, und ich hatte jetzt wenigstens meine Ruhe. Das Theater der vergangenen Stunden war vorbei, der vorerst letzte Vorhang gefallen, nachdem verschiedene Darsteller ihre Auftritte gehabt und sich selbst gefeiert hatten. Schließer klirrten bedeutungsvoll mit ihrem Schlüsselbund, Kriminaloberkommissare gaben einander die Stichworte und legten Vermerke und Akten an, ein Staatsanwalt schoß vernichtende Blicke ab, angetrieben von der Sorge ums Gemeinwohl, und ein Richter am Kammergericht saß ernst und gewichtig vor mir und wies Vollmachten des Volkes vor, indem er mich zum stolzen Besitzer eines violetten Papieres machte. Alles können sie dir abnehmen, den Haftbefehl darfst du behalten. $ 129a, Mitgliedschaft in terroristischer Vereinigung, keine Überraschung, aber jetzt sozusagen von weiter oben abgestempelt.

Dann waren da verschiedene gleich aussehende Männer in grauen und blauen Uniformen, die ihren Job machten, die durchsuchten, untersuchten, Formulare ausfüllten, durchsuchten, Unterschriften verlangten, durchsuchten, Bettwäsche aushändigten, mir eine Buchnummer erteilten. Der Apparat, den ich schon so oft in den letzten Jahren hatte rülpsen und verdauen hören, wollte mich diesmal richtig verschlucken und erst nach gründlicher Verarbeitung wieder rausscheißen. Ich fragte mich, ob das jetzt der Magen war (und das Kammergericht die Speicheldrüse). Immerhin, ein Magen mit Fenster, mit Bett und Tisch und Schrank, mit einem Kugelschreiber, ein paar Blatt Papier und drei oder vier Jerry-Cotton-Heften. Das war besser als Säure.

Die Wände waren alt und benutzt; Zahnpasta klebte noch daran, mit der einmal Poster befestigt gewesen waren, ein paar verschämte Sprüche waren eingeritzt. Das beschäftigte mich kaum eine Viertelstunde. In der Wand ein Lautsprecher mit dem Anstaltsradioprogramm. Der funktionierte nicht. Der Schrank war leer. Der Blick durchs Fenster endete an grauen und rötlichen Mauern. Von außen das dumpfe Rauschen der Stadt, von der Tür her das Scheppern und Rufen auf den Gängen. Dazwischen Stillstand.

Wenn sie glaubten, mir machte das was aus, hatten sie sich geirrt. Naja, sie, wer war das schon. Egal! Ich bin doch kein Eierdieb, der an das Grundgesetz glaubt oder auch an gar nichts oder an die Stärkeren. Ob ich nun ein Feind bin, der vernichtet werden soll, oder eine Nummer, die verwaltet wird, sie werden mich nicht kriegen. Was ist es schon, was mir bevorsteht, verglichen mit all dem, was Menschen heute und schon immer durchgemacht haben? Verdammte Scheiße!

Die Groschenromane zu lesen dauerte nicht lange, und ich lag auf dem Bett, und heute war wenigstens ein Tag, an dem noch einiges geschah, es gab Essen, ich konnte mir Vormelderzettel geben lassen, um meine Anträge zu stellen, konnte vielleicht noch eine Einkaufsliste bekommen, und eine Bücherliste von der Knastbibliothek, oder dann eben morgen, doch irgendwann war das vorbei, und es blieb die verschlossene Tür, das verschlossene Fenster, der Wille, mich nicht leben zu lassen, der über allem hockte und mir die Luft nehmen wollte.

Die Zeitungen hätte ich ja gern gelesen. Haftbefehle gegen mutmaßliche Terroristen oder so ähnlich, manchmal auch nicht so mutmaßlich. Wo waren die anderen? Ich wollte sie wiedersehen, verdammt, wiedersehen, warum genügte es nicht, daß ich im Knast war, warum mußten auch die anderen? Es war nicht fair. Und gerade Hassan, der am wenigsten mitgemacht hatte bisher, war verletzt, Gemeinheit. So war das Leben: Nicht gerecht. Das hatten ja schon Westley und Butterblume in der »Brautprinzessin« erfahren müssen. Das wäre ein Buch, um es hier zu lesen. Jedes Buch würde ich hier lesen, sogar die Bibel, vielleicht, warum nicht. War nicht der Ursprung des Christentums aufrührerisch und revolutionär gewesen, bevor die Kirche zum Verrat der Ideale angetreten war? Vielleicht war somit ein kleiner Teil dieser Bibel, entstellt und verzerrt, auch die Geschichte von mir und meinen Gefährten. Was würde wohl der Richter sagen, wenn ich anfinge, meine Prozeßführung auf die Bibel zu stützen?

Irgendwie war es auch logisch, daß es gerade Hassan erwischt hatte. Er hatte so ein Talent dafür, in Nöte zu geraten. Und er fuhr Auto wie ein Henker, trotz seiner diversen Unfälle. So was konnte ihn nicht schrecken. Neben ihm kam ich mir manchmal richtig alt und gesetzt vor, obwohl ich der Jüngere war. Wenn Hassan loslegte, blieb kein Auge trocken; oft brauchte es gleich mehrere, die auf ihn einredeten, um ihn von irgendeiner fixen Idee abzubringen oder sonstwie zu beruhigen. Aber es war auch toll, wie er einen mitreißen konnte, bei banalsten Anlässen, ohne große Geste. Zwar klappte längst nicht alles, was Hassan anfaßte, aber er ignorierte das einfach. Ich fand das erfrischend; viele waren schon so verdammt alt geworden in den letzten Jahren.

Die Gedanken sprangen vom Hundertsten ins Tausendste, von einem Stichwort zum nächsten, während ich darauf wartete, daß die Sonne weiter sank und die Schatten der Gitterstäbe sich an der Wand vorschoben, wo ich sie markierte und die Uhrzeit danebenschrieb.

Nachts versank ich in schweren Träumen. Das Blaulicht erschien mir wieder, die querstehenden Autos, Hassans verzerrtes Gesicht, als er sich zu uns umdrehte, Zäune vor mir, Bullenstiefel rund um mich, als ich auf dem Asphalt lag. Blaulicht auf nassem Asphalt. Kreisendes Blaulicht, glänzendes Straßenpflaster, bekannt aus der Kinowerbung: Spende Blut! Hätte ich Widerstand geleistet bei meiner Festnahme, hätte ich sicherlich unfreiwillig etwas Blut gespendet, das Rote Kreuz wäre mir dankbar gewesen. Falls nicht zufällig ein Vampir unter den Bullen des Sondereinsatzkommandos schneller war. Ein Notfall, befindet sich ein Vampir unter den Gästen? Ich rappelte mich auf, fand mich in einem fremden Land und rannte doch über vertraute Straßen, und überall waren der Rauch und der Lärm eines Krawalls, das Knallen und Schreien, waren die Automotoren und das Scheppern von Pflastersteinen, das zischende Gas und das prasselnde Feuer, und ich rannte ziellos, kletterte und fiel und kletterte wieder und kam zu keinem Ende. Dann erreichte ich schließlich eine hohe Mauer, und als ich oben war, sah ich dahinter eines der besetzten Häuser, und auf der Mauer war Anna, und ich diskutierte mit ihr, redete sehr wichtig, redete auf sie ein, argumentierte wie toll. Sie aber gab mir einen Kuß, das war die einzig richtige Antwort, o je, war das schön, und ich verschwand in der Ferne.

Ich erwachte, im Mund das schale Gefühl fremder und unklarer Erinnerungen. Der Schatten des Fenstergitters war immer noch da, jetzt unbeweglich, von den Lampen im Gefängnishof an meine Wand geworfen. Die Traumbilder verschwanden, bis auf Anna, die noch bei mir blieb und mir etwas Wärme spendete. Die brauchte ich.

Und dennoch, es lohnte sich, es hatte sich gelohnt und lohnte sich noch, zum Teufel! Es war richtig, diese Genotec-Büros angezündet zu haben, genauso wie die anderen Sachen vorher, die Banken und Büros und LKWs und Fabrikhallen, und es war richtig, die Steine zu schmeißen und Barrikaden zu bauen. Es gab so vieles mehr, das richtig war und das dieser Knast mir nehmen wollte. Er wollte mir das Gefühl dafür aus dem Körper drücken und die Gedanken aus dem Kopf stehlen. Es war richtig, Sand im Getriebe zu sein, und sie würden es nicht schaffen, daraus ihr Glas zu schmelzen. Ihr Panzerglas für die Menschen, noch nicht perfekt, noch lange nicht, doch die Zeit wurde knapper. Dafür, auch dafür, arbeiteten so viele, auch jene bei der Genotec. Dagegen, auch dagegen, mußte gehandelt werden.

Na gut. Jetzt mußten erst mal andere handeln, und wir warteten auf unsere Verhandlung. Jetzt war die Zeit, sich alles zu überlegen, so vieles, was zu kurz gekommen war beim vielen Handeln. Und zu überlegen, wieviel Warum es gab und wie schwer es wog. Und natürlich war es die Zeit, daran zu denken, wieso gerade ich es war oder gerade Hassan oder gerade Carmen, die jetzt Zeit hatten nachzudenken; nachzudenken, wo die Abzweigung vom geraden Weg gewesen war, oder vielleicht auch anders: wo der gerade Weg abgezweigt war vom Unsinn des »normalen« Lebens. Was mich anging, so mußte das an die zehn Jahre her sein.

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