April 1989 |
Irgendwo in diesem Haus Eins der Justizvollzugsanstalt Moabit waren jetzt Hassan und Boris, das drückte am meisten aufs Gemüt; Briefe unter uns würden natürlich, wenn sie überhaupt durchkamen, Wochen dauern, und was konnten wir uns schon schreiben, ohne Material für den Staatsanwalt zu liefern? Daß wir Sehnsucht hatten, uns umarmen, küssen, unterhalten, spüren wollten? Das wußten wir ja zum Glück auch so, ohne Briefe. Ich meinte jetzt, die berühmte Forderung nach »Zusammenlegung der Gefangenen« besser verstehen zu können: nicht in ihrem politischen Zusammenhang, sondern im persönlichen. Das war schon ein harter Brocken, hier zu sitzen und zu wissen, die anderen saßen auch hier, nicht weit, aber unerreichbar, so banal es nun mal war. Was am engsten verbunden gewesen war, war nun am weitesten fort, fortgerissen und gleichzeitig wieder nahegerückt von diesen uniformierten Armen. Dafür hätte ich manchmal meine Zelle kurz und klein schlagen können, wenn sich dieser Zustand vor mir aufpflanzte und sein Backsteingrinsen aufsetzte.
Aber auch Backsteine sind, für sich genommen, in Ordnung. Rauhe, warme, dunkle Steine, die noch irgendwie zur Erde gehören - im Gegensatz zum Beton, für den alle Adjektive längst verbraucht sind. Das ist etwas, das Moabit fast ein bißchen sympathisch macht. Ich hatte jedenfalls nichts gegen die Steine, und, sei's drum, auch nichts gegen die blaßgrüne Wandfarbe oder gegen das alte Sperrmüllholz des Schrankes. Ich malte mir die Zeit aus, wo ich ein eigenes Radio hier haben würde, und vielleicht eine Schreibmaschine, und eine Gitarre, und dann würde mir erst mal gar kein weiterer Wunsch mehr einfallen. Ich würde sogar sonnabends der Bundesliga lauschen und zu Hertha BSC halten oder, weil es bei den Hertha-Fans so viele Nazis gab, zu St. Pauli, und keine Briefe mehr schreiben, sondern welche malen, und Bilder beschreiben, damit ich's nicht verlernte, und erzählen, wie lustig das Leben im Knast ist, weil es Leben ist und weil ich mich nicht an den Mauern und Gittern messen mußte, sondern an anderen, wichtigeren Dingen: an meinen Ideen und Bildern, an meinen Freunden und Genossinnen, an mir selbst, am Leben, an der Wirklichkeit. Also an nichts anderem als vorher, in der anderen Welt jenseits des Stacheldrahts. War für mich etwa die Schule und ihre Ordnung ein Wert gewesen, mich daran zu orientieren? Oder Geld oder der Arbeitszwang oder irgendwelche Arschlöcher, die in ihrem dunkelgrauen Mercedes über die Köpfe der Menschen daherrauschten? Nein, mein Herr. Da waren ein paar idealistische oder romantische Anwandlungen, Liebe, Freundschaft, schönes Wetter und, vor allem, ganz unbescheiden, Idealismus und Romantik. Ich dachte an den Kies des Weges, wie er unter den Schuhen knirschte, wenn wir unsere Großeltern in ihrem Häuschen besuchten, als ich kleiner war, und die Knastmauern verzogen sich schweigend. Ich dachte an die Wolken, die große Triumphbögen über dem Atlantik gebildet hatten, während wir auf dem Rücken der Caldera wanderten, und die Gitter lösten sich auf. Ich dachte an den langsam aus der Stille emporsteigenden und anschwellenden Gesang der zahllosen Muezzins, während die aufgehende Sonne Kairo glänzen ließ, al-Kahira, die Siegreiche. Die schrillen Geräusche des Knastes verklangen, weit weg.
Postscript (gezippt) | Download | PDF-Format |