Januar 1980


In dem kalten Winter wohnte ich in einer Wohnung im vierten Stock, die so billig war, weil das ganze Haus viel von seiner einstigen Eleganz verloren hatte. Eine schmale Treppe neben dem winzigen Bad führte in meinen Raum, dessen Decke zu niedrig war, um aufrecht zu stehen; hier war Platz für eine Matratze und ein paar Klamotten. Das Wohnen in der Kammer war in diesem Winter ein ständiger Kampf um Wärme, dafür hatte sie aber auch etwas anheimelnd Höhlenartiges und war leicht auszufüllen:

Ich hielt mich oft in der Kammer auf, obwohl es auch tagsüber kalt darin war. Ich konnte kaum den Stift halten, mit dem ich in mein Tagebuch schrieb. Das hatte ich gerade geschenkt bekommen und fühlte mich verpflichtet, es vollzuschreiben. Es war auch so eine Höhle. Darin sammelte ich meine Wirklichkeit, die keinen Platz hatte für Schüsse auf Buback in Karlsruhe oder auf Entführer in Mogadischu, für Stammheim, für Atomkraftwerks-Baustellen in Grohnde, Kalkar oder Malville, nicht einmal für Fahrpreiserhöhungen oder wenigstens Klassenfrequenzen an den Schulen. All diese Begriffe waren für mich nur leere Worte. Bedeutung hatten die Fußball-Bundesliga und Bücher, die ich gut fand, der letzte Urlaub, Filme, die mir gefielen, und Schwierigkeiten und Tricks des Lebens. Am 26. Dezember '77 starb Charles Chaplin. Das hatte Bedeutung. Ich las zum ersten Mal den »Herr der Ringe«. Das hatte Bedeutung.

Jean war öfter bei mir, mein Freund, der älter war als ich. Wir konnten über alles reden. Über Fußball, über die Schule, über Bücher, und was es sonst noch so gab. Als er mich einmal fragte, ob ich mir schon mal einen runtergeholt hätte, sagte ich nein, und er sagte auch nein, aber wir unterhielten uns lieber nicht weiter darüber. Sonst konnten wir aber offen miteinander sprechen, und das wollte schon etwas heißen, jetzt, als sich dieses schon länger ängstlich erwartete Gebilde namens »Pubertät« auch bei mir eingestellt hatte. Wir saßen oft oben in der Kammer und versuchten, die Umwelt und uns in irgendeinen gemeinsamen Rahmen einzupassen, angenehmer war es aber, darauf zu verzichten und diese Welt, die wenig zu bieten hatte, einfach draußen liegen zu lassen. Sie würde sich schon wieder melden, das tat sie sowieso immer, erwünscht oder unerwünscht.

Jean war der Meinung, ich mache mir das Leben schwerer als notwendig.

»Nur so als Beispiel«, sagte er, »als dauernd in den Umkleideräumen geklaut worden ist. Und dann noch der Nerv mit den Lehrern deswegen. Das war natürlich Spitze, wie du durchs Fenster rein bist in der Pause. Womit klar war, daß das keiner von uns sein muß, weil jeder rein kann. Aber dann rumzustreiten, sogar mit dem Direx ...«

»Angefangen hat der mit dem Streiten«, sagte ich.

»Und du bist filmreif zu Boden gegangen, wo er dich kaum angefaßt hatte; wie in der Bundesliga. Und wenn du auch recht hast - die Rüge hast du gekriegt und nicht er. Also, was hast du davon?«

»Ich würd's trotzdem wieder machen«, sagte ich und war etwas beleidigt.

»Kann ich mir vorstellen. Nur warum? Das mit dem Fenster war verboten, und dann auch noch 'ne Lippe riskieren, das bringt's doch nicht. Du weißt doch, wie es hier läuft an der Schule.«

»Klar weiß ich's«, sagte ich, »und mir hängt es übrigens zum Hals raus. >Du könntest doch, wenn du nur wolltest ...< und >du bist doch sooo intelligent ... < und dieses ganze Gerede, aber wenn es mal nicht so läuft, wie sie wollen, scheißen sie drauf.«

»Das wissen doch alle«, sagte Jean, »außer vielleicht die völligen Streber. Aber ich will einigermaßen gute Noten haben und ansonsten keinen Ärger, vor allem nicht, wenn ich eh keine Chance habe. Das meine ich, da müßtest du mehr drauf achten: Nicht weitermachen, wenn du nichts mehr gewinnen kannst.«

»Naja, vielleicht«, murrte ich, »aber nur, weil die Lehrer die Stärkeren sind, will ich auch nicht klein beigeben. Die erlauben sich schon so genug. Überhaupt, die ganze Schule ist so, und ganz oben sind die Blödesten von allen. Einer wie der Direx, der hat doch Schläge verdient, und statt dessen verteilt er welche. Wenn wir bei dem Unterricht hätten ...«

»Da hättest du deine Fünf weg, klarer Fall«, sagte Jean, »so wie letztes Jahr in Chemie; aber das kommt ja auch genau daher, daß gewisse Lehrer dich kennen und dir eine reinwürgen wollen, weil du ihnen immer Streß machst. Manche Leute bei uns machen andere Sachen, wie damals, als die Tür ausgehängt war und der Olle sie an den Kopf gekriegt hat, aber die haben nicht so viel Ärger, weil sie rechtzeitig Ruhe geben. Daß Schule Mist ist, wissen wir doch, und daß die Lehrer meistens Ärsche sind, auch. Und daß wir nur hingehen, weil wir müssen, und daß wir müssen, weil wir da vollgestopft werden mit dem ganzen Müll für das sogenannte Leben. Richtige brave Erwachsene sollen wir werden.«

»Wenn dir das alles so klar ist, wieso machste dann das alles mit?« fragte ich.

»Das mach ich auch nicht endlos mit«, sagte Jean, »du wirst schon sehen. Aber wieso soll ich was provozieren? Ich weiß, alles ist ein großer Betrug, und das reicht mir. Die können mir eh nichts, weil ich das kapiert habe. Und was willst du auch groß machen? Alarm schlagen? Du hast doch gemerkt, als Klassensprecher, wie schlapp alle sind.«

»Aber irgendwas muß doch passieren«, trotzte ich, »ich meine, es ist doch auch früher was passiert oder? Die Dinge ändern sich doch auch mal, sind nicht mehr wie früher.« »Dann muß du wohl Politiker werden«, sagte Jean, »und dich ans Weltverbessern machen. Mein Vater kennt auch so einen. Ein Idiot, kannste mir glauben. Mein Vater aber auch.«

»Am besten wäre es, das alles abzuschaffen, Schule und so«, sagte ich.

»Und wieder leben wie in der Steinzeit? Als Jäger und Sammler?« fragte Jean spitz.

»Wieso nicht? Denen ging es bestimmt nicht so schlecht.« »Mammuts gibt es aber keine mehr«, sagte Jean, »und für Felle um die Hüften ist es etwas zu kalt geworden. Und überhaupt ist es zu kalt, so zwischen den Menschen, meine ich. Ist wie zur Eiszeit, finde ich, auf der Straße und zu Hause, verstehst du.~«

»Nein.«

»Na egal, jedenfalls kannst du heute nicht mehr von Beeren leben. Und hinter jedem Baum kann einer mit der Keule stehen.«

»Ich rede doch nicht von Beeren und Bäumen«, sagte ich, »sondern von unserer Schule. Die muß ich fertig kriegen, schließlich will ich Abi machen, und da soll sich irgendwas tun. Wenn alles so beschissen ist, muß doch was passieren. Vielleicht bräuchten wir 'ne Schülerzeitung, das wäre wenigstens was.«

»Erst willst du Politiker werden, dann Journalist«, sagte Jean, »komm mal auf den Teppich.«

»Wieso?« gab ich zurück, »ich habe keine Lust mehr, immer als der Schwächere dazustehen und mich allein rumzustreiten. Vielleicht machen sich die Schwächeren mehr Gedanken als die Stärkeren, die haben's ja nicht nötig.«

»Gedanken machen ist ja o. k.«, sagte Jean, »mach ich ja auch. Aber, wie gesagt, du darfst nicht übertreiben. Du legst dich ja mit jedem an. Kein Wunder, daß du oft was draufkriegst.«

»Ich leg mich nicht mit jedem an«, sagte ich, »ich misch mich nur ein, wenn's mir zuviel wird, was passiert. Du redest ja immer so, als wäre dir alles klar, -aber du machst nichts, und bei mir ist es andersrum.«

»Von wegen ich mache nichts«, sagte Jean, »ich reite mich nur nicht so rein wie du.«

Jean ging, der Winter blieb, und ich blieb auch und las in meinen Büchern herum, zählte sie von Zeit zu Zeit und war etwas stolz darauf, schon so viele zu besitzen. Viele Bücher zu haben war ein Gütezeichen. Niemand hatte so viele wie mein Opa. Im Wohnzimmer eine ganze Wand, die nur aus Regal bestand, und darin Hunderte und Aberhunderte von Büchern. Zusammen mit dem gedämpften Licht und dem Geruch nach Zigarren war das eine Art Olymp für mich, an den ich mich kaum jemals ernsthaft heranwagte. Undenkbar, daß jemand all diese Bücher jemals gelesen hatte. Im Laufe der Jahre pickte ich mir das eine oder andere heraus, ohne es ernsthaft zu lesen; es war mehr ein Versuch der Annäherung. Ich hielt mich an Bilder und Überschriften, zumal mir diese Bücher fürchterlich dick erschienen. Mein Vater hatte auch viele Bücher, die aber weniger fremdartig und respekteinflößend wirkten. Und ich selbst, nun ja, ich zählte die meinen jedenfalls, in der Hoffnung, durch schiere Masse zum Olymp aufschließen zu können. Später gingen die meisten verloren, oder ich warf sie weg, weil mir ihr Inhalt oder meine Sammelleidenschaft mittlerweile peinlich geworden waren.

Ich stand an der Schwelle zur Konsum- und Fernsehjugend oder hinkte eher hinterher, denn meine Eltern legten keinen großen Wert auf Fernsehen, und die riesigen Farbglotzen bei anderen Leuten wirkten auf mich stets deplaziert und fremd. Das Weltbild kroch aus den Zeilen der Bücher, pflanzte sich fort, verflocht sich langsam. Und dieses Weltbild, das im Papier wohnte, sagte, daß die Welt genau so schlecht war, wie sie mir erschien. Das Papier war es, das mir versicherte, daß meine Erlebnisse im Schulalltag millionenfache Wirklichkeit waren, daß überall und schon immer das und viel Schlimmeres geschah. Da war das »Dritte Reich«. Und die unzähligen Kriege und Sklaven im alten Rom und Scheiterhaufen im Mittelalter. Und Hunger und Pest, KZs und Atombomben, Vergewaltigungen und Folter, Gemeinheit und Grausamkeit. All dies verdichtete sich in mir, drängte sich in meine Gedanken, begann zu wurzeln und zu treiben und blieb dabei noch lange Zeit ein konturloser Schatten, den ich nicht in Worte hätte zwingen können.

Es kam dann eine Zeit, in der ich anfing, mich doch langsam an diese Worte heranzuwagen. Ich hatte das Gefühl, klarer zu sehen.

»Weißt du«, sagte ich zu Jean, »bis vor kurzem war da so ein Käfig um mich, ganz dicht und dunkel, und dann begannen die Latten sich zu lockern und zum Teil abzufallen. Ich meine diese ganzen Zwänge von Erziehung, Moral, was dich alles so einengt. Das sehe ich jetzt klarer. Jetzt sehe ich überhaupt erst richtig, daß das ein Käfig um mich rum ist. Und jetzt kann ich die restlichen Latten selber wegstoßen, verstehst du?«

»Klar, du bist der geborene Philosoph«, spottete Jean. »Das kommt jetzt erst raus, wo du bei der Schülerzeitung bist.« »Ach, du hast doch keine Ahnung«, sagte ich, »und wieso machst du eigentlich nicht mit?«

»Weil mir da zu viele von diesen superschlauen Oberstuflern dabei sind, die dir jetzt sonstwas erzählen, aber in ein paar Monaten haben sie ihr Abi und sind sowieso weg.«

»Die riskieren doch viel mehr als du«, sagte ich, »wegen ihrer Abi-Noten, die sie sich versauen können, wenn sie zu frech werden.«

»Und außerdem«, sagte Jean, »was da manche so schreiben, klingt doch etwas komisch. Von Kommunismus und solchen Sachen.«

»Da sind welche von einer K-Gruppe dabei«, sagte ich klug. »Und was ist 'ne K-Gruppe?« fragte Jean.

»Naja, so Übriggebliebene von der Studentenbewegung '68, jedenfalls haben die damals damit angefangen, und heute gibt's diese Gruppen eben immer noch. Und die heißen K-Gruppen, weil sie Kommunisten sind, glaube ich. Ich kapier auch nicht immer ganz, worauf die hinauswollen.«

»Na, von mir aus«, sagte Jean, »aber für mich ist das alles nichts. Erstens, ich kann nicht schreiben. Daran scheitert schon mal alles. Und dann, dieses ganze Politikzeug, damit will ich gar nicht erst anfangen. Gegen Neonazis, o. k., und gegen Bafög-Kürzungen und so weiter, also meinen Segen habt ihr. Aber das reicht mir dann auch. Immer durch die Klassen laufen und sich die dummen Scherze beim Verkaufen anhören, und der ganze Streß mit den Lehrern ... und jetzt dürft ihr doch nicht mal mehr in der Schule verkaufen oder?«

»Vielleicht«, sagte ich, »weiß ich noch nicht.«

»Und du machst da doch nur wegen Petra mit«, setzte Jean kurz nach.

»Was?« fuhr ich hoch. Darauf wollte ich nicht angesprochen werden. Die erste große Liebe war eine Geheimsache oberster Priorirär.. Jean ließ mich in Ruhe.

»Es macht mir jedenfalls Spaß«, sagte ich, »es ist wenigstens etwas, wo man nicht immer als der Schwächere zurückbleibt.«

»Naja, wenn du meinst«, sagte Jean, wird sich ja noch zeigen.«

Vor der Schule standen Leute in grünen Parkas und mit langen Haaren, mindestens Abiturienten, wahrscheinlich noch älter, und verteilten Flugblätter. »Auf nach Gorleben!« stand darauf.

»Das hat doch keinen Zweck«, sagte ich zu ihnen, »da fährt doch von denen hier eh niemand hin.« Ich hätte hinzufügen können, ich selbst übrigens auch nicht, und was ist eigentlich mit Gorleben? War das nicht irgendwas mit Atomkraft? Aber diese Blöße wollte ich mir nicht geben, denn ich fühlte mich diesen Langhaarigen verbunden.

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