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Augenzeugenbericht vom Abend des 22.9. "Am Abend des 22. September sitze ich bei Tee und Musik in meiner Wohnung in der Gleditschstraße, im Stadtteil Schöneberg. Es ist etwa halb zehn, als ich das Sirenengeheul der Polizei bemerke. Es scheint kein Ende zu nehmen und ich frage mich, was wohl nun schon wieder los ist. Ich stecke meinen Personalausweis ein, gehe hinunter, steige aufs Fahrrad und fahre zur Grunewaldstr., auf der eine fast endlose Polizeikolonne mit Sirenengeheul in Richtung Kleistpark rast. Ich nehme den Weg durch die Goltzstr., biege am Winterfeldplatz in die Pallasstr. ein und fahre Richtung Potsdamer. Auf allen Straßen bewegen sich unzählige Menschen zur Potsdamer hin. In der Pallasstr. stehen ungefähr 10-15 Polizeifahrzeuge mit Blaulicht, ich fahre an ihnen vorbei zur Potsdamer hin, die Polizeiwagen stehen ungefähr 300 Meter von der Kreuzung entfernt. Vom Kleistpark her wälzt sich eine stumme Menge teilweise vermummter Demonstranten die Potsdamer herab, von einem Geräusch begleitet, das Hunderttausende von Krebsen verursachen würden, die mit ihren klappernden Scheren über Kieselsteine krabbeln, mit einer ums hundertfache verstärkten Lautstärke - das sind die Steine, die auf den Asphalt prasseln, die Holzbohlen, Rohre und Schilder der Baustellen an dieser Kreuzung. Ich stehe dort an der Ecke und in gespenstischer Stummheit demontieren die Demonstranten, nicht nur die Baustellen, sondern die gesamten Wertvorstellungen der herrschenden Gesellschaft. Ich schlottere am ganzen Körper angesichts dieses Angriffes. Die gespenstische Szene, erhellt von künstlichen Neonreklamen, die noch nie so absurd waren wie in diesem Augenblick, der unheimliche Laut, der die Menge begleitete, die bis zum Zerreissen gespannte Atmosphäre, das läßt sich nicht mit Worten beschreiben, die Gefühle sich nicht ausreichend artikulieren. Es ist der totale Bürgerkrieg, es geht ums Ganze, um meine Zukunft, um deine Zukunft, um die Zukunft eines jeden Menschen, es ist die Demontage aller geheiligten Werte der heutigen Gesellschaft. Eine totale Verzweiflung über den Verlust der Menschlichkeit spricht aus dieser Menge, die alles Bewegliche, dessen sie habhaft werden kann, auf die Straße wirft, um eine Barrikade gegen die nachrückenden Polizeistreitkräfte zu erreichen. Und die Polizei hat in allen vier Straßen Stellung bezogen, ich spüre, daß ich rundum eingekesselt bin, vor mir tausend verzweifelter Menschen, hinter mir die Vertreter der staatlichen Macht. Angesichts der Absurdität zittern mir die Knie: Hier stehe ich nun in der stummen Menge, die das zerstört, was ihnen die Lebensfreude gestohlen hat, umringt von den Streitkräften einer Macht, deren Interesse es ist, den Menschen das Leben hassenswert zu machen, einer Macht, die mit entnervendem Sirenengeheul, bedrohlichen Fahrzeugen, dicken Holzknüppeln, beißendem Tränengas, futuristisch wirkenden Schutzschilden und unheimlichen Wasserwerfern eine Opposition mundtot zu machen versucht. Diese Macht geht vor gegen eine wütende fast wehrlose Menge, die ihre Sehnsucht nach Liebe und Menschlichkeit nicht mehr durch Worte auszudrücken vermag. Ich stehe auf dieser Kreuzung, umgeben von unmenschli- |
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