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Unsere Meinung:

In dieser gestörten Stadt

-thes. Ein Toter ist zu beklagen. Das geschieht in dieser unserer Ordnung mit dem angemessenen Ernst, wie immer Schuld und Schicksal sich verkettet haben mögen. Einen Märtyrer aber hat die Szene der Hausbesetzer und Sympathisanten damit nicht, auch keinen Benno Ohnesorg. Der Student, der an jenem 2. Juni an der Berliner Oper starb, war, ohne ein Angreifer zu sein, einem Übermaß an Staatsgewalt ohne Selbstverschulden erlegen. Die APO konnte sich darauf berufen, zumal ihr prinzipieller Ansatz, daß verkrustete Strukturen in Frage gestellt zu werden verdienten, richtig war.

Die Hausbesetzer und deren friedliche oder gewalttätige Sympathisanten entbehren solch geistigen Überbaus ihrer materiellen Ansprüche weitgehend. Sie maßen sich an, einen zugegebenen Mißstand auf einem lebenswichtigen sozialpolitischen Gebiet, mit dem System schlechthin zu identifizieren und angebotene Kompromisse zu denunzieren.

Deshalb war es richtig, daß der neue Senat die Berliner Linie seines Vorgängers ernst nahm und an einer geringen Zahl dafür nachweislich geeigneter Objekte Exempel statuierte. Wir haben dennoch vorher zu bedenken gegeben, ob eine Debatte des Parlaments darüber abgewartet werden sollte. Dies taten wir nicht, weil es rechtlich geboten gewesen wäre, sondern aus politischen Erwägungen. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Aufgabe der Exekutive. Deren Vollzug wurde fair, ohne Winkelzüge vorbereitet. Die Behörde hatte durch den Verzicht auf durchaus legitime Überraschung in Kauf genommen, daß die Szene sich auf die Staatsaktion vorbereiten und ihre Sympathisanten mobilisieren konnte. Es sei also eingeräumt, daß der von uns in Erwägung gezogene Respekt vor dem Parlament zwar eine gewisse Frontenklärung in der poIitischen Kontroverse ermöglicht, die Risiken der Konfrontation aber nicht verringert, womöglich vergrößert hätte.

Auch darf nicht außer Betracht bleiben: Das Angebot des Staates an Rechtsbrecher, mit ihnen über das illegal beanspruchte Rechtsgut zu verhandeln, um daraus womöglich Legalisierungen herzuleiten, bedeutet bereits eine erhebliche Spannung des rechtsstaatlichen Bogens. Dies wird gerade ein ehemaliger Justizminister wie der Berliner Oppositionsführer Vogel wissen, weshalb er mit seinem Vorwurf, sein Nachfolger im Amt des Regierenden Bürgermeisters verlasse die Berliner Linie, weder bei Freund noch Gegner so recht überzeugend gewirkt haben mag.

Einwände gegen den gestrigen Vollzug der Räumung haben wir demnach nicht. Die Polizei ist nach den Beobachtungen unserer von Tränengas und Wasserwerfern auch unmittelbar betroffenen Mitarbeiter dem Anspruch eines flexiblen, schonenden Einsatzes unter Vermeidung unnötiger Konfrontation gerecht geworden. Sie unterschied dabei auch mit stellenweise sichtbarem Erfolg zwischen den eigentlichen Hausbesetzern, von denen nur im Ausnahmefall Aggressionen aus den Häusern heraus oder bei der Räumung beobachtet wurden, und den Störern. Schon lange vor der Räumung wurde in Einzelaktionen krimineller Art deutlich, was wir an einer Hauswand schon seit Tagen so bekenntnisfreudig und geschliffen formuliert lesen durften: "Wir bekämpfen nicht die Fehler des Systems, sondern dessen Vollkommenheit."

Nun liegt es im Wesen unseres Systems, daß es sich nicht für vollkommen hält und deshalb bereit sein muß, auch auf aggressiv vorgetragene Zweifel einzugehen, sie notfalls fruchtbar zu machen, wie es ja auch am Beispiel der besetzten Häuser geschieht. Um vor der Geschichte brennende Barrikaden rechtfertigen zu können, bedürfte es indes einer revolutionären Situation, die auch mit allem anarchistischem Bemühen nicht erzeugt werden kann, sondern gesellschaftlich gegeben sein muß, was selbst Horst Mahler irgendwann einsah.

Bei den Berliner Anschlußkrawallen aber, die immer wieder ernstzunehmenden und grundrechtlich geschützten Demonstrationen folgen, macht lediglich eine politisch nicht einleuchtend motivierte kriminelle Minderheit einem Gemeinwesen, das ohnehin an seiner Lage chronisch krankt, das Leben schwer. Sie diskreditiert, dabei auch die von ihr jeweils benutzten Anlässe, so die Hausbesetzungen, als Mittel begründeter politischer Aktionskritik. Auch zugegebene Mißstände rechtfertigen keine chronischen Rechtsbrüche.

Wer hier den inneren Frieden gefährdet, wurde gestern erneut deutlich. Ob die einge-

 

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