15
Auf den ersten Blick wird die Stadt bunter.
Die Herrschenden täuschen über ihre Beton- und Glasorgien mit ein wenig Kunst am Bau weg; die Beherrschten malen ihren grauen Alltag an. Die Summe der Arbeit anonymer Sprayer ergibt das Fresko einer anderen Kunst. Solange Leonardo und Michelangelo keine Macker sind, dürfen sie mitmischen; die andere Kultur, die der Graffiti, Umfunktionierungen von Parolen, Werbetafeln, die des hastigen Pinsels kennt keinen Stil. Sie schafft ihn. Das Schweigen wird beredt, der Maulfaule hat Wortwitz, der sich weigert, den Zombies in Fernsehstudios Rede und Antwort zu stehen, drückt sich differenziert aus: Musik, Körpersprache, die Maskierung auf Umzügen und Demonstrationen, Parolen,

Slogans, Verhohnepiepelungen, gesprühte Kurzromane, das Märchen in Steno (etwa eine feste, verschlossene Eisentür am U-Bahnhof Nollendorfplatz; daneben, auf die Mauer gesprüht: Dahinter. ..).

Das Völksvermögen (vgl. Peter Rühmkorfs gleichnamiges Buch) nimmt zu. Die Fotos in diesem Band - die ich nicht kommentieren möchte, die keiner Kommentierung bedürfen - enthüllen die Eleganz, den Wortwitz, den bissigen Humor, die geniale Frechheit, die unbändige Lebenslust, den Charme, die Trauer, die Wut einer autonomen Kultur. Der Kultur der Autonomie. Der Anderen Kultur.

Kunst am Bau soll über die Verbrechen der Herrschenden und ihrer Architekten hinwegtäuschen; die Graffiti und Zeichnungen der Anderen Kultur decken sie auf.

Die Farbe an den aufrecht gestellten Schuhkartons aus Beton soll darüber hinwegtäuschen, daß da keine Häuser stehen, sondern eben Schuhkartons aus Beton, Kleinfamilienknäste, totale Institutionen; die Farben der Sprayer und nächtlichen Malerkolonnen weisen auf die Unwirtlichkeit der Häuser und Städte hin. Die Parolen und Slogans der Verkäufer, Trusts, Parteien und Verbände verkleistern die Hirne; die Parolen der Anderen Kultur versetzen den Verstand in sein Recht, belehren und amüsieren.

Die da - angeblich - den Dialog verweigern, den Diskurs der Mächtigen und der Macht ablehnen, drücken sich auf vielfältige und differenzierte Weise aus. Sie schreien, rufen, sprechen ein gutes Deutsch. Ein anderes Deutsch.

 
<- back | next ->