Sieht jetzt, wie ein Bauarbeiter - erst noch klopft er kleine Steine
in den aufgewühlten Sand, dann erst guckt er sorgsam um sich, reckt
sich, knüpft ein rotes Tuch vor die Nase und erhebt sich, mehr so
Marke Übertier, jede Hand zwei kleine Steine, alles nur ein kurzes
Lächeln - wie der wirft, zwei Schritte Anlauf, keiner hat im Rücken
Augen, Richtung Bullen in die Bank.
Immer noch bewegt das Männlein über ihm auf dem Balkon albern
seine stummen Lippen, Jochen sieht, wie Manuela - umknickt, sieht, wie
Manuela - fällt und aufgefangen wird, aufgerißne Augen.
Aufgerissene Augen, die Bullen zertreten die Tür. Frankfurt 76. Jochen
erinnert sich:
Wir sind die letzten. Sie ist sechzehn. Im letzten Zimmer. Der großen
Wohnung. Andere schreien. Einige rufen. Draußen im Flur.
Gestern die Demo. Ein Bulle, sagen sie, hätte gebrannt. Ulrike Meinhof,
sagen wir, wurde durch die Isolationshaft, sagen wir, ermordet.
Ich sage: Hier lang. Manuela sagt: Hilf mir. Ich helfe ihr hoch. Wir stehen
auf dem Fensterbrett. Wir springen.
Im Hof blüht Holunder. Wir laufen. Ein Hauswart rennt hinter uns
her.
Er humpelt. Wir lachen. Die Mauer ist riesig. Wer keine Angst hat, geviertelt
zu werden, kann den Kaiser vom Pferd ziehn. Auf der Mauer gibt es ein
Gitter. Auf dem Gitter sind eiserne Spitzen. Ich stütze mich hoch,
und es duftet nach Flieder. Oben, in der Mauer, steckt abgebrochenes Glas.
In meiner Hand steckt das Stück einer Scherbe. Ich drücke. Zwischen
den Mittelhandknochen tritt langsam der grüne Glasrest blutig aus
meiner blassen Haut.
Sieg oder Tod. Manuela, die abrutscht. Der Hauswart schlägt mit einer
Krücke nach ihrem Kopf, und sie schreit.
Ich fasse mit verschmierten Fingern nach ihren Händen und sage: Du
schaffst es. Sie sagt: Ich schaffe es nicht mehr. Der Hauswart zerrt an
ihrem Bein.
Ich sage: Doch. Trete dem Hauswart gegen den Kopf Als sie zurücksackt,
fasse ich nach. Eine eiserne Spitze bohrt sich ein Stück in ihr Bein.
Die Lider dünn, die Iris grau, zwei aufgerißne Augen.
Jetzt murmelt Manuela unter der Hochbahn: Lusche. Jetzt kann Jochen sehen,
wie Kai, wenn auch widerwillig, jene Lederjacke losläßt, langsam
schüttelt sich der Typ, rot: RAFft euch zusammen, lächelt, noch
mit unwirsch dünnen Lippen, wie verquetschten Wangen, lacht. Rucken
mit der rechten Schulter, RAFft euch auf, sein flaues Grinsen: »Alter,
fehlt dir irgendwas?«
Jochen sieht, die Bullen kommen zügig näher, sieht, wie Manuela
fuchtelt, mit den Händen rudert, wedelt, mit den Armen winkt, Jochen
hört sie rufen. Während Kai sich eilig umschaut, aber nicht
sehr schnell begreift, während sich die Lederjacke fix nach Pflastersteinen
bückt, während Manuela wedelt, duckt sich Jochen, huscht vorbei,
an geparkten Lkws, windet sich durch Autoreihen, rennt zurück, über
die Straße, tritt an Kotflügel, auf Hauben, tanzt noch einmal
über Dächer, fädelt sich durch heißes Blech, sieht:
die Schlagstockbullen treiben Flüchtende in den Verkehr, faßt
nach Manuelas Händen, zerrt: »Los komm, wir rennen da lang«,
schafft es Richtung Steinmetzstraße, links und rechts ein Rest Rabatten,
eingetrocknet Hundekacke, an der Türkenkinder krümeln, »schau
dich lieber nicht mehr um, laß uns einfach laufen«. Warte,
sagt Manuela. Was, fragt sie, wird mit Kai?
Im Hintergrund lauern Geräusche von Schlägen und Verletzten,
im Rücken rumpelt der Verkehr, bevor sich beide umdrehn, mault Manuela:
Ich... ich hab noch mal gerufen, bloß ich bin dann gestolpert, und
er war zu beschäftigt, mit diesem schmalen Jungen, in abgewetzter
Jacke: RAFft euch zusammen, RAFft euch auf, wir haben uns verloren, genau
gesagt: Kai mich.
Er hat an ihm gezottelt, ich hab gedacht: Was soll das? und du bist einfach
abgehaun, und ich hing in der Mitte, und Jochen zuckt die Schultern, und
sagt nichts, sondern grient.
Und während sie weiterlaufen, und während die Bullen die Demonstranten
forttreiben in den Verkehr, denkt Jochen: Solidarität ist eine schlechte
Waffe im falschen Augenblick.
<- back | next
-> |