Häusliche Gefühle
»Räumt uns doch, ihr Schweine, von mir aus, räumt uns doch... denn Häuser gibt's wie Sand am Meer, drum fällt der Abschied uns nicht schwer... « Anni, die Sängerin der Brigade Bullerbüh ist klatschnaß. Mit weitaufgerissenen Augen brüllt sie in ihr Mikrophon. Hinter ihr stehen zehn Musiker mit ihren Verstärkern auf der viel zu engen Bühne. Auch sie sind völlig durchgeschwitzt, wiegen sich im behäbigen Dreiviertel-Takt und grölen den Refrain mit. Der letzte Walzer heißt ihr Song. Mindestens 250 Leute haben sich in den knapp 25 Meter langen Raum gequetscht. Die Luft ist zum Schneiden, die Stimmung sportpalastmäßig. Jetzt hämmert die Band mit rohem Sound im dreifachen Tempo los. Sie wissen, wovon sie singen, die meisten sind Hausbesetzer aus der Potsdamer und Umgebung, das Publikum ebenfalls. Anni wohnt genau vier Stockwerke über dem Schauplatz des Spektakels in der Nr. 157, direkt gegenüber vom Sozialpalast; wie die angrenzende 159 seit knapp zwei Jahren besetzt. Ob Anni und ihre 28 Mitbewohner in den beiden Häusern bleiben können, ist noch immer ungewiß. Wenn sie rausfliegen, ist das auch das Ende des abendlichen Treffpunkts der Hausbesetzer auf der Potse, wie sie die Straße nennen. K. 0. B. heißt der Laden, und die Bedeutung dieser drei Buchstaben ist ebenso wechselhaft wie umstritten. K. 0. B. steht nicht unbedingt für Kontaktbereichsbeamten, den tolpatschigen Seyfried- Bullizisten mit dem unentwegt piependen Funkgerät, sondern gleichermaßen für Kontaktstelle obdachloser Bayern, Krawall ohne Bullen oder Kontrast ohne Blau. Tische und Stühle sind im Kneipenstil der Zeit gehalten, an den kaltweißen Wänden ziehen sich schwarze, gezackte Linien entlang - Fieberkurven ähnlich, ,mit steigender Tendenz. Dazwischen politische Plakate, die ein antinukleares Anarchistencamp in Italien ankündigen, das Besetzerfestival Kulturschock annoncieren oder zur Solidarität mit den von der Bürgerkriegsjustiz verfolgten Brokdorfkämpfern auffordern. Die vereinzelten Pflanzen sind kränklich, das Grün des abstrakten, wohl neuwilden Gemäldes gegenüber der Theke ist weitaus kräftiger. Endlösung hat jemand draufgeschrieben, in der eckigen Runenschrift. Die weiße Küchenuhr zeigt fünf vor zwölf, seit sie dort hängt. Es ist kurz nach zwei. Die letzte Runde wird ausgerufen, und das bringt noch einmal Bewegung unter die vierzig ausdauerndsten Gäste. Wer sich noch nicht vollgedröhnt genug fühlt, den kann, das über die Bierkästen plazierte Plakat Arbeiter meidet den Schnaps auch nicht davon abhalten, sich die letzte Ration zu holen. Das Plakat haben die Gewerkschaf- <- back | next -> |