III. Die achtziger Jahre

 

1. Die Entwicklung in der BRD

 

1.1 Gesellschaftspolitische Entwicklungen

Bei den Wahlen zum 9. Bundestag am 5. Oktober 1980 kann sich das sozialliberale Bündnis von SPD (42,9 %) und FDP (10,6 %) noch einmal behaupten. [806]
1982 endet auch die Ära Schmidt, wie schon zuvor die von Kiesinger und Brandt, im Zuge einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise. Die SPD sieht sich zu diesem Zeitpunkt dem stärker werdenden Druck der UnternehmerInnen ausgesetzt. Am 7. September 1982 fordert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, unter anderem durch die Beendigung staatlicher Beschäftigungsprogramme, den Verzicht auf Arbeitszeitverkürzungen, Steuersenkungen und Reallohnminderungen. Ebenfalls im September geht die FDP auf Konfrontationskurs mit ihrem Koalitionspartner, indem ihr Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff Etatumschichtungen zu Lasten der sozial Schwachen, die Kürzung des Arbeitslosengeldes etc. fordert. Die Parallelen zu den Forderungen der Unternehmen und der CDU/CSU sind jedenfalls überdeutlich, der Regierungswechsel ist nur noch eine Frage der Zeit. Bereits am 1. Oktober, nach dem Austritt der FDP-Minister aus der Regierung Schmidt, verabschieden FDP und CDU/CSU ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen den SPD-Kanzler und wählen Helmut Kohl (CDU) zum neuen Regierungschef. [807]
Mit der Regierungsübernahme durch die CDU/CSU/FDP-Koalition 1982 wird die 13-jährige Ära Brandt/Schmidt beendet. Der in vielen Bereichen bereits unter der Schmidt-Regierung vorbereitete konservative ‘roll-back’ der vor allem unter der Regierung Brandt durchgeführten Reformprojekte wird von der neuen Regierung stark beschleunigt fortgeführt bzw. um neue Bereiche ergänzt.
Zwar beginnen bereits 1982 die Ermittlungsverfahren wegen der illegalen Parteienfinanzierung durch den Flick-Konzern - davon profitieren jedoch nur die Grünen, da alle anderen Parteien in irgendeiner Form an solchen Transaktionen beteiligt waren. Bei den Bundestagswahlen am 6. März 1983 erhalten die von den Spitzenverbänden der Wirtschaft öffentlich unterstützten Parteien CDU/CSU und FDP eine deutliche Mehrheit. [808] Erstmals ist im 10. Bundestag der BRD die Partei Die Grünen mit einem Stimmenanteil von 5,6 % vertreten. [809]
Eine der großen politischen Auseinandersetzungen der beginnenden achtziger Jahre wird innerhalb und - vor allem - außerhalb des Parlaments um die Stationierung der neuen US-Mittelstreckenraketen geführt. Die noch von der Schmidt-Regierung beschlossene Stationierung war auch innerhalb der SPD immer umstritten und wird von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Unmittelbar nach der mit den Stimmen der Regierungskoalition nochmals bekräftigten Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß [810] am 22./23. November 1983, beginnen die US-Streitkräfte mit der Stationierung von Cruise-Missile-Marschflugkörpern und Pershing II-Mittelstreckenraketen. [811] Die Kohl-Regierung intensiviert den unter Schmidt begonnenen außenpolitischen Kurs der engen Kooperation mit den USA, wo seit 1980 der republikanische Präsident Ronald Reagan eine immer aggressivere Politik gegenüber den sozialistischen Staaten betreibt.
Angesichts dieser Politik wächst in immer größeren Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung die Kriegsangst. Aus unzähligen BürgerInneninitiativen, Gewerkschafts- und christlichen Gruppen, Parteien [812], linken und alternativen Zusammenhängen entsteht Anfang der Achtziger “die größte Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik .”[813] Bei Sitzblockaden vor Raketenstellungen, Massendemonstrationen [814] und Ostermärschen beteiligen sich hunderttausende von Menschen am Widerstand gegen die NATO-Aufrüstungspolitik. Der am 15./16. November 1980 verabschiedete ‘Krefelder Appell’, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Zustimmung zur Stationierung der Mittelstreckenraketen zurückzuziehen, wird innerhalb der nächsten zwei Jahre von über drei Millionen Menschen unterschrieben. [815] Zwar kann die Friedensbewegung die Stationierung der Raketen nicht verhindern, aber durch jahrelange Aktivitäten und Debatten sorgt sie für eine anwachsende Sensibilität bei Friedens- und Abrüstungsfragen in großen Teilen der Bevölkerung. Über Partei- und Gesinnungsgrenzen hinweg (und bis weit ins Lager der CDU-WählerInnenschaft hinein) bestimmt die größte außerparlamentarische Bewegung der Nachkriegsgeschichte über lange Zeit die öffentliche Diskussion. [816]
Fast parallel zur Friedensbewegung entsteht ab 1980 die bis dahin größte internationalistische Bewegung der BRD. Unter dem Motto ‘Solidarität mit Nicaragua’ [817] arbeitet bis zum Ende der achtziger Jahre ein sehr breites politisches Spektrum, das von autonomen über gewerkschaftliche bis hin zu christlichen Gruppen reicht, an der Herstellung von Öffentlichkeit in der BRD und unterstützt das revolutionäre Land auf vielfältige Weise. Wichtig sind auch die etlichen tausend deutschen ‘InternationalistInnen’, die in den achtziger Jahren nach Nicaragua reisen und sich dort aktiv am Aufbau wichtiger Infrastrukturprojekte der sandinistischen Regierung - etwa im Bildungs-, Gesundheits- oder Kooperativenbereich - beteiligen. [818] Diskutiert wird in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage der Motivation der Solidaritätsbewegten: Sind nicht die zahlreichen Aktivitäten zumindest eines Teils der Bewegung auch Projektionen von nicht erfüllten Revolutionswünschen im eigenen Land auf ein kleines Land in der ‘3. Welt’? Verabschieden sich nicht viele Linke mit ihrem Engagement für die Revolution ‘im Süden’ von der notwendigen, aber nach den Erfahrungen der Sechziger/Siebziger oft frustrierenden und scheinbar perspektivlosen politischen Arbeit im eigenen Land? Auf jeden Fall spielt diese Bewegung in den Diskussionen und Aktivitäten der gesamten linken und sozialen Bewegungen zu Beginn der achtziger Jahre eine bedeutende Rolle. [819]
Mit dem Zerfallsprozeß der sozialen und BürgerInnenbewegungen ab Mitte der achtziger Jahre kommt es zur Integration von großen Teilen des außerparlamentarischen Protestpotentials - vor allem aus den Bereichen Friedens-, Ökologie-, Frauen- und ‘3. Welt’-Bewegung - in die Partei Die Grünen . Deren WählerInnenpotential wächst in gleichem Maße an, wie die Aktivitäten außerhalb der Parlamente nachlassen. [820] “Ihre umweltpolitische Position geht von der Notwendigkeit einer Modifizierung bzw. Ersetzung des Profitprinzips durch ökologische Gesichtspunkte aus. (...) Sie versammelt (...) vor allem Proteststimmen von Wählern, die ihr in Einzelpunkten zustimmen, auf sich. Zumeist werden gesellschaftliche Schäden ausschließlich auf Wirkungen der modernen Technik (‘das Industrie-System’) zurückgeführt. Die Unbestimmtheit ihrer Position in zahlreichen Fragen - bei prinzipieller Ablehnung der Atomrüstung und des Baus von Kernkraftwerken - hat bisher die parlamentarischen Chancen dieser Partei eher erhöht .”[821]
Bei den Bundestagswahlen 1987 erhalten die Grünen bereits 8,3 Prozent der WählerInnenstimmen und etablieren sich damit endgültig - nach CDU/CSU (44,3 %), SPD (37,0 %) und FDP (9,1 %) - als ernstzunehmende Größe in der bundesdeutschen Parteienlandschaft. [822] Die Regierungskoalition wird erneut von den Parteien CDU/CSU und FDP gebildet. Obwohl der 1983 einsetzende Wirtschaftsaufschwung keine positiven Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit und die Entwicklung der Reallöhne hat [823], glaubt offensichtlich die Mehrheit der WählerInnen den Versprechen der Kohl-Regierung, nur mit ihr werde ein weiterer wirtschaftlicher Aufschwung möglich sein. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme wird mit einer Umverteilung der Gewinne und Senkung der Sozialausgaben [824] begonnen.


[806] CDU/CSU erhalten bei diesen Wahlen 44,5 %, vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 136.
[807] Vgl. ebenda, S. 103 ff.
[808] “In der Schlußphase des Wahlkampfs wurden Meldungen lanciert, wonach mehrere Unternehmer Aufträge mit einer Auflösungsklausel für den Fall eines sozialdemokratischen Wahlsieges versehen hätten ”, ebenda, S. 108.
[809] CDU/CSU erhalten 48,8 %, die SPD 38,2 % und die FDP 6,9 % der WählerInnenstimmen.
[810] Der NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 sah die Stationierung von Mittelstrecken in Europa vor, da die UdSSR mit ihrerm Bestand an SS-20-Raketen hier eine angebliche Überlegenheit besäßen. Vorschläge der UdSSR unter Andropow, die SS-20 auf die Anzahl der französischen und britischen Bestände zu reduzieren (1982), werden von der Bundesregierung genauso abgelehnt wie der Vorschlag der DDR, in Mitteleuropa eine atomwaffenfreie Zone zu errichten (1983), vgl. Kistler, H., Die Bundesrepublik Deutschland, S. 353.
[811] Die Mehrzahl der Raketen, u.a. alle 108 Marschflugkörper, sollte nach dem NATO-Doppelbeschluß in der BRD stationiert werden, ein geringerer Teil in Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Italien.
[812] Neben den Grünen spielt hier vor allem die ‘Deutsche Kommunistische Partei’ (DKP) eine wichtige Rolle.
[813] Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 98 ff.
[814] An einer Demonstration der Friedensbewegung in Bonn am 10.10.1981 beteiligen sich 300.000 Menschen. Und anläßlich des Besuchs von Ronald Reagan am 10.6.1982 demonstrieren bereits 400.000 in der Bundeshauptstadt. - vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 99.
[815] Vgl. Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 99.
[816] Vgl. Kistler, H., Die Bundesrepublik Deutschland, S. 353 ff.
[817] Die Solidaritätsgruppen, die zu anderen mittelamerikanischen Ländern (bzw. deren Befreiungsbewegungen) arbeiteten, waren zwar vorhanden, aber lange nicht so stark wie die zu Nicaragua. Dies lag wohl auch daran, daß weder die linke Befreiungsfront FMLN (in El Salvador) noch die guatemaltekische URNG die Diktaturen in ihren Ländern stürzen konnten. Nicaraguas linke Revolutions-Regierung bot ab 1979 viel mehr konkrete Anknüpfungspunkte für die praktische Solidarität und die materielle Unterstützung des Landes.
[818] Vgl. Balsen, W. u. Rössel, K., Hoch die internationale Solidarität, S. 393 ff.
[819] Vgl. Ebenda, S. 393 ff.
[820] Im Verlauf der achziger Jahre verändern die Grünen ihr Gesicht: Aus den ‘Alternativen Schreckgespenstern’, zu denen sie die bürgerlichen Medien oft stilisieren, werden zunehmend ‘ernstzunehmende, pragmatische RealpolitikerInnen, deren ökologische Forderungen - wenn auch oftmals stark abgeändert - Eingang selbst in die Programme von CDU/CSU finden. In kaum einem anderen Land Europas ist das ‘ökologische Bewußtsein’ in der Bevölkerung am Ende der achziger Jahre so ausgeprägt, wie in der BRD. Und auch die Privatwirtschaft lernt im Laufe der Zeit, daß sich mit dem Etikett ‘Grün’ gutes Geld verdienen läßt. Noch offen ist, ob das (ökologische) Modernisierungspotential, das die Grünen auch für die Wirtschaft darstellen, langfristig tatsächlich zu einigen grundlegenden Modifizierungen (‘Reparaturmaßnahmen’) des kapitalistischen Produktionssystems führen wird.
[821] Fülberth, G., Leitfaden durch die Geschichte der BRD, S. 109.
[822] Vgl. ebenda, S. 138.
[823] Vgl. Kap. C. III. 1.2 (Ökonomische und soziale Situation)
[824] So wird bereits 1983 das Bundesausbildungsförderungs-Gesetz (BAFÖG) geändert: Die Unterstützung von SchülerInnen fällt künftig weg und die Stipendien für StudentInnen werden durch Darlehen ersetzt. Dadurch wird ein wichtige Reform der Brandt-Ära - die soziale Öffnung der Hochschulen auch für die Kinder von Eltern mit geringem Einkommen - zumindest teilweise zurückgenommen.


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