Seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen
Staaten Osteuropas 1989 bis 1991 erfährt die in den
70er/80er-Jahren begonnene neoliberale Deregulierungspolitik
einen dramatischen, weltweiten Radikalisierungsschub. Zugleich
gesteuert und begleitet von internationalen Finanzinstitutionen
wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank,
schreitet die Zerstörung aller staatlichen Wirtschaftsstrukturen
rasch voran. Neben der Privatisierung von Staatsbetrieben und dem
immer weitergehenden Rückzug des Staates aus ökonomischen
Regulierungsprozessen werden überall staatliche Sozialprogramme
gegen Null gefahren und die dabei freiwerdenden Ressourcen über
Steuer- und andere Subventionen dem Privatsektor zur Verfügung
gestellt.
“Das Ergebnis der Privatisierungen war und ist eine
Mafiaökonomie der allgemeinen Bereicherung, mit der sich eine
völlig unstrukturierte Ausweitung des informellen
Wirtschaftssektors der ‘neuen Selbständigen’ verbindet .”[1341]
Dies geschieht in einer Zeit des Umbruchs von den bisherigen ‘fordistischen’
[1342] zu ‘toyotisierten’
[1343] Arbeits- und
Produktionsverhältnissen, in einer “späten und wesentlich
durch Deindustrialisierungsphänomene geprägten Phase der
Reorganisation des kapitalistischen Weltsystems ”[1344].
Die Folgen dieses Umbruchs, der weltweiten Deregulierung der
Arbeitsmärkte und der sich verschärfenden Konkurrenz der
multinationalen Unternehmen sowie der großen wirtschaftlichen
Zentren [1345], Länder und
Städte untereinander sind eine gigantische soziale Polarisierung
und tendenziell die Entstehung eines Proletariats in einer
kapitalistischen Welt.
“Während die Tarifparteien den Mantel der
Sozialpartnerschaft über den schleichenden
Transformationsprozeß breiteten, wurde seit Mitte der achtziger
Jahre eine ‘Deregulierungskommission’ der Bundesregierung
aktiv, um die Vorarbeiten zur Anpassung des westdeutschen
Arbeitsmarkts an den globalen Deregulierungstrend zu
beschleunigen .”[1346]
In der BRD veränderten sich die Arbeitsbeziehungen zwar seit
Mitte der achtziger Jahre merklich, blieben aber formell
unangetastet. Das ändert sich schlagartig mit dem Anschluß der
DDR: Die bislang “eher zögerlich gehandhabten
Deregulierungsmodelle [wurden] in Gestalt der
Treuhandanstalt mit voller Wucht auf die ‘neuen Bundesländer’
übertragen. In der untergehenden DDR wurde ein neoliberaler
Privatisierungsexzeß in Gang gebracht, dem unzweideutig
experimentelle Funktion für den gesamten Wirtschaftsstandort
Deutschland zukommt .”[1347]
Die direkten Folgen sind die schlagartige Zerstörung der
volkswirtschaftlichen Substanz der ehemaligen DDR, deren
industrielles Produktionspotential von 1990 bis 1993 um ca. drei
Viertel geschrumpft ist, und eine sofort einsetzende
Massenarbeitslosigkeit: Von ehemals knapp zehn Millionen
DDR-Beschäftigten ist inzwischen fast die Hälfte arbeitslos.
Vier Millionen Menschen leben mittlerweile teilweise oder
vollständig von Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, befinden sich in
Kurzarbeit, Fortbildung, Umschulung,
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder wurden in den Vorruhestand
geschickt. [1348] “Im
Jahr der ‘Vereinigung’ hat sich das größer werdende
Deutschland schlagartig und zugleich auf spezifische Weise in die
Deregulierungsperspektive des kapitalistischen Weltsystems
hineinkatapultiert .”[1349]
1993 wurden offiziell vier Millionen SozialhilfeempfängerInnen,
3,5 Millionen Arbeitslose (2,3 Millionen in West- und 1,2
Millionen in Ostdeutschland) sowie 3,7 Millionen ‘Unterbeschäftigte’,
d.h. in Umschulungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ‘geparkte’
Personen, registriert. Der Anteil der Arbeitslosen bzw. ‘Unterbeschäftigten’
am gesamten Arbeitskräftepotential ist auf 20,6% gestiegen. [1350] Im August 1995
schließlich beziffert die Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der
Arbeitslosen in der gesamten BRD auf 3,578 Millionen - trotz
einer im Vergleich zu 1993 deutlichen konjunkturellen Belebung.
Gleichzeitig nimmt die Zahl der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
(ABM) beschäftigten Personen durch drastische Kürzungen des
Bundes in diesem Bereich kontinuierlich ab. Waren 1994 noch 1,75
Millionen Personen in ABM beschäftigt, so sind es ein Jahr
später nur noch 1,5 Millionen. [1351]
Schon seit langem ist klar, daß auch in Zeiten positiver
wirtschaftlicher Entwicklung die Zahl der Arbeitslosen nicht mehr
merklich verringert wird. Durch Rationalisierungen und
Modernisierung der Unternehmen vor allem im EDV-Bereich werden
immer mehr Beschäftigte aus regulären Arbeitsverhältnissen
ausgegrenzt. Bereits 1993 gab es in der BRD 2,3 Millionen
geringfügig Beschäftigte ohne Sozialversicherung. Auch die Zahl
der ‘neuen Selbstständigen’ nimmt rapide zu. Es wird
geschätzt, daß mehr als 50% dieser ‘Existenzgründungen’
innerhalb von 5 Jahren wieder eingehen. [1352]
Auch für die (noch) festangestellten
Kernbelegschaften, deren Zahl beständig kleiner wird,
verschlechtern sich die Bedingungen: Tarifverträge werden immer
häufiger “gestreckt, (...) weitgehend durchlöchert ”[1353] oder schlicht einseitig
von Unternehmensseite gekündigt. Und wieder ist es das Gebiet
der ehemaligen DDR, auf dem erste Probeläufe in dieser Richtung
unternommen wurden. Ebenfalls von den Entwicklungen in
Ostdeutschland ausgehend werden die meisten Unternehmensleitungen
bei der Frage der Flexibilisierung von Arbeitszeiten - angeblich
zur ‘Beschäftigungssicherung’ der ArbeitnehmerInnen sowie
der Bewahrung bzw. Verbesserung von ‘Standortvorteilen’ im
internationalen Wettbewerb - offensiv. Das eigentliche Ziel ist
klar: Die ‘Lohnnebenkosten’ sollen gesenkt, die
Produktivität und damit die Gewinne erhöht werden.
Am 12. September 1995 einigen sich die IG Metall und die
Unternehmensleitung im größten Automobilkonzern der BRD, den
VW-Werken, auf eine vierprozentige Lohnsteigerung und eine
Arbeitsplatzgarantie bis Ende 1997. [1354] Gleichzeitig wird jedoch eine
Flexibilisierung der Arbeitszeiten eingeführt, die es
ermöglicht, das “Produktion und Arbeitszeit enger an die
Nachfrage gekoppelt werden können (...) Das Unternehmen nutzt
die Kapazitäten, wenn es sie braucht, und kann die
Wochenarbeitszeit bei Bedarf erhöhen. In Flautezeiten soll die
angesammelte Mehrarbeit in Form von Freizeit abgegolten werden ”.[1355] Der Samstag wird zwar
noch nicht zum regulären Arbeitstag, jedoch werden die
bisherigen 50-prozentigen Lohnzuschläge für Samstagsarbeit auf
30 Prozent reduziert. Konzernchef Piech spricht in diesem
Zusammenhang vom ‘Traum einer atmenden Fabrik’, der langsam
Gestalt annehme - gemeint ist offensichtlich eine sich mit den
Betriebszielen völlig identifizierende, flexibel einsetzbare
Belegschaft, ganz im Sinne der postfordistische Ideologie. Der
erzielte ‘Kompromiß’ wird übrigens “von Vertretern aus
Politik, [1356]
Unternehmensverbänden [1357]
und Gewerkschaften einhellig begrüßt .”[1358]
Insgesamt verschlechtern sich seit 1989/90 die sozialen
Bedingungen für einen immer größeren Teil der Bevölkerung in
West- und - noch drastischer - Ostdeutschland rapide. Besonders
betroffen sind Frauen, Ältere, unqualifizierte Jugendliche und
ArbeitsmigrantInnen. [1359]
[1341] Roth, K.-H., Die Wiederkehr der Proletarität, S. 17.
[1342] “Für die fordistische Gesellschaftsformation sei
die intensive, auf Rationalisierungsprozessen basierende
Akkumulation, das Vorhandensein von Massenproduktion auch im
Bereich der Konsumgüterindustrie und dementsprechende
Massenkonsummöglichkeiten spezifisch. Dabei wirken zahlreiche
kulturelle, politische und soziale Bedingungen ‘regulierend’
zusammen, so daß die Abstimmung von Massenkaufkraft,
Massenkonsum und Massenproduktion gewährleistet ist” ,
Rodenstein, M., in: Häußermann, H., u.a., Stadt und Raum, S. 34
ff.
[1343] Die Vordenker des postfordistischen/toyotistischen
Akkumulationsmodells “denunzieren die bisherige fordistische
Produktionsweise als starr, etatistisch und hochlohnfixiert. Seit
Beginn der neunziger Jahre dominiert nicht mehr Ford, sondern die
‘postfordistische’ Rentabilitätsphilosophie Toyotas (...).
Zunächst standen dabei die produktivitätsfördernden
Verheißungen der ‘Partizipation’ einer in ‘Betriebsgemeinschaften’
zusammengeschmiedeten Elite von hochentlohnten Gruppenarbeitern
im Vordergrund. Fertigung und Qualitätskontrolle wurden wieder
zusammengelegt, die Fertigungstiefen abgeflacht, die despotischen
Stab-Linie-Strukturen des Verwaltungsapparats zugunsten einer ‘schlanken
Produktion’ aufgebrochen. (...) Drei Viertel der gesamten
Produktionskapazität werden inzwischen ‘nach unten’
ausgelagert und an die Kette der ‘just in time’-Zulieferungen
nachgeordneter Produzenten und Lagerhalter gelegt. Wo sich
Widerstand gegen das Diktat regt, kommt die inzwischen
international gewordene Niedriglohnkette ins Spiel. (...) Der
bisherige Betriebsdespotismus fordistisch zerlegter
Arbeitsverrichtungen wird feierlich zu Grabe getragen, um zu
einer sprunghaften Potenzierung des Leistungsprofils der Gruppen
übergehen zu können. Der bisherige Zeit- und Materialaufwand
für ein neues Produkt soll halbiert werden, ebenso die
Investitionsquote in Vorrichtungen und Werkzeuge. Drastisch
reduzierte Lagerbestände sollen zusammen mit fortlaufenden
Freisetzungen beim Verwaltungs- und Fertigungspersonal das
bisherige Leistungspotential verdoppeln. Das alles ist nur
möglich, wenn sich die Belegschaften in einem bisher nicht
gekannten Ausmaß mit dem Betriebsziel identifizieren. Bis
hinunter zu den Gruppen an den Taktstraßen sollen nun alle ‘unternehmerisch
denken’, ‘selbstreguliert’ handeln und
Firmentarife,firmeninterne Ausschüsse und
Schlichtungseinrichtungen als ausschließliche Vermittlungsform
zur Konfliktsteuerung akzeptieren. Wie in Japan soll es zu einer
klaglos verinnerlichten Rundum-Abschöpfung aller körperlichen,
mentalen und kognitiven Komponenten der Leistung kommen ”,
Roth, K.-H., Die Wiederkehr der Proletarität, S. 19 ff.
[1344] Ebenda, S. 12.
[1345] Gemeint ist hier die “Triade” der drei großen
Wirtschaftsregionen Japan-Südostasien, Westeuropa und
Nordamerika.
[1346] Ebenda, S. 21.
[1347] Ebenda, S. 21, vgl. auch ebenda, S. 31: In der BRD “vollziehen
sich ausgehend vom DDR-Anschluß in extremer zeitlicher
Verdichtung gesellschaftliche Umwälzungen, die sich in der
übrigen kapitalistischen Welt seit Anfang der achziger Jahre
weitaus stetiger entwickelten.”
[1348] Vgl. Ebenda, S. 21 ff.
[1349] Ebenda, S. 22.
[1350] Vgl. Ebenda, S. 22: “Die Grenzen zu den
arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vergleichsgrößen der durch
die Präsidialdiktatur Brünings 1930/31 eingeleiteten
Deflationspolitik sind inzwischen überschritten.”
[1351] Vgl. RP, 8.9.1995.
[1352] Vgl. Roth, K.-H., Die Wiederkehr der Proletarität, S.
23 ff.
[1353] Ebenda, S. 22.
[1354] Die Tarifvereinbarungen gelten allerdings nur für die
rund 100.000 Beschäftigten in den westdeutschen VW-Werken. In
den ‘fünf neuen Bundesländern’ sind die VW-MitarbeiterInnen
im Metall-Tarifvertrag in einer niedrigeren Gehaltsstufe
eingruppiert.
[1355] RP, 13.9.95.
[1356] Bundeswirtschaftsminister Rexrodt (FDP) sprach von
einer “angemessenen Lösung ”,vgl. RP, 13.9.95.
[1357] Der Verband der Automobilindustrie (VDA) bezeichnete
den Abschluß als “wichtigen und richtigen Schritt” zur
flexiblen Arbeitszeitgestaltung, vgl. ebenda.
[1358] Ebenda.
[1359] “Ältere Arbeitnehmer, Frauen, Ausländer,
Schwerbehinderte und Personen ohne abgeschlossene
Berufsausbildung gehören zu den sogenannten ‘Problemgruppen’
des Arbeitsmarktes” , Statistisches Bundesamt, Datenreport
1994, S. 94. Besonders deutlich sind die Unterschiede zwischen
Ost- und Westdeutschland, wenn die Arbeitslosigkeit von Frauen
betrachtet wird: Während im Westen 1993 ‘nur’ 8,7 % der
Frauen arbeitslos gemeldet waren, betrug diese Zahl im Osten 25,5
% (bei 13,5 % arbeitslosen Männern im Osten). Vor allem die
ostdeutschen Frauen, die in der früheren DDR wesentlich stärker
am Arbeitsleben teilnahmen als die Frauen in der BRD, gehören
also zu den HauptverliererInnen des Anschlusses der DDR, vgl.
ebenda, S. 76.