Als klar wird, daß Schleußer dennoch bei seiner
Position bleiben wird, besetzen am 4. Februar 21 Leute, darunter
auch einige Mitglieder der ‘Initiative Kaiserswerther Straße’,
das Haus Kaiserswerther Str. 290. Sie forderten den Erhalt aller
vier Häuser und die Zurverfügungstellung für ein
selbstverwaltetes Wohnprojekt - zu Mieten, die für StudentInnen,
SchülerInnen, Auszubildende, Arbeitslose und Familien bezahlbar
sind. Um der schnell anwesenden Polizei ein Eindringen zu
erschweren, wird das Haus verbarrikadiert. Die Verantwortlichen
werden zu Gesprächen aufgefordert und der friedliche Charakter
der Aktion betont. Dennoch stellt der anwesende Vertreter der
Landesregierung Strafanzeige. Nach nur sieben Stunden dringt
über eine Leiter ein schwergepanzertes Sondereinsatzkommando
(SEK) der Polizei in den ersten Stock des Hauses ein, prügelt
und tritt die überraschten BesetzerInnen zu Boden und fesselt
sie mit Kabelbindern. Fünf BesetzerInnen werden bei der
Erstürmung des Hauses so schwer verletzt, daß sie sich später
im Krankenhaus behandeln lassen müssen: Ein gebrochener
Mittelhandknochen, eine Platzwunde am Kopf und mehrere schwere
Prellungen werden von ÄrztInnen attestiert. Noch am Boden
liegende BesetzerInnen werden von SEK-BeamtInnen geschlagen und
getreten. [1576]
Ein einziger Polizist ‘verletzt’ sich dabei, als er mit
Kampfschrei durch eine geschlossene Balkonfensterscheibe in das
Haus springt und sich dabei einen kleinen Schnitt am Unterarm
zuzieht. Daraus wird später in der Anklageschrift gegen einige
der BesetzerInnen der Anklagepunkt ‘gefährliche
Körperverletzung’ konstruiert werden. [1577] Anke Kronemeyer, als Reporterin der
Rheinischen Post Augenzeugin der Räumung des Hauses, schildert
die Ereignisse so: “Er [der polizeiliche Einsatzleiter;
d.V.] wiederholte die Aufforderung [zur Räumung] einmal,
zweimal. Noch während er sprach, wurden die Wohnungen von hinten
gestürmt. Rund 60 Beamte des Spezialeinsatzkommandos - Dienst
hatten die Kölner - waren blitzschnell über eine Leiter in die
erste Etage geklettert. Die 21 Hausbesetzer reagierten
überrascht, sangen riefen, leisteten aber keinen Widerstand .”[1578]
Alle 21 BesetzerInnen erhalten wenige Wochen nach der Besetzung
Anklagen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung, die von
der Polizei auf 25.000 DM geschätzt wird. [1579]
Aber trotz allem ist die Besetzung ein politischer Erfolg: Die
Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und PolitikerInnen ist jetzt
endgültig geweckt. Die Proteste, sogar innerhalb der SPD, nehmen
derart zu, daß Finanzminister Schleußer schließlich ‘einknickt’
und die Häuser der Stadt Düsseldorf für drei Mio. DM zum Kauf
anbietet. [1580]
Die Stadt kündigt daraufhin an, in den Häusern Sozialwohnungen
mit einer Kaltmiete von rund neun DM/qm einzurichten. [1581] Die Initiative
Kaiserswerther Straße und die BesetzerInnen, ohne die die
Häuser wahrscheinlich nicht mehr existieren würden, sind auf
einmal außen vor und dürfen sich nun mit Anklagen und Prozessen
herumschlagen.
Dies alles geschieht in der ‘heißen Phase’ des
NRW-Landtagwahlkampfes [1582],
bei dem die SPD um ihre absolute Mehrheit, die Grünen um ihre
Regierungsbeteiligung und die CDU um eine stärkere Rolle in der
Opposition kämpfen. Von SPD und CDU wird der Wahlkampf mit dem
ebenso simplen wie populistische Thema (innere) Sicherheit
geführt - verbunden mit dem Schüren von Angst vor ‘Kriminalität’.
Bei der SPD haben auch soziale Themen noch einen gewissen
Stellenwert, ansonsten ist die Kampagne stark auf die
integrierende Person des Ministerpräsidenten Johannes Rau
zugeschnitten. Wahrscheinlich ist es deshalb auch von einigem
Gewicht, daß relativ bekannte SPD-KommunalpolitikerInnen, wie
der ehemalige SPD-Oberbürgermeister Klaus Bungert, sich unter
dem Druck der stärker werdenden öffentlichen Debatte in der
Frage des Erhalts der ‘Engländer-Wohnungen’ direkt an ‘Landesvater’
Johannes Rau wenden. Die SPD wendet sich schließlich und macht
nach der Entscheidung, daß die Häuser für ‘soziales Wohnen’
erhalten bleiben sollen, sogar offenen Wahlkampf mit diesem
Thema.
Am 1. Mai wird die Kaiserswerther Str. 290 zum zweiten Mal
besetzt - vor allem, um die viel zu hohen Sozialmieten
anzuprangern und der Forderung nach einem selbstverwalteten
Wohnprojekt Nachdruck zu verleihen. [1583] Die Besetzung dauert diesmal nur 15
Minuten, dann wird wieder geräumt. Diesmal setzt die
Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift sogar noch eins drauf:
‘Landfriedensbruch’ statt ‘Hausfriedensbruch’ [1584] wird den BesetzerInnen
jetzt vorgeworfen, obwohl alle ohne jeden Widerstand verhaftet
worden waren. Vor dem Hintergrund von einigen tausend
freiwerdenden ‘Engländer-Wohnungen’ im Besitz der
öffentlichen Hand soll hier offensichtlich ein Exempel statuiert
und vor Nachahmungen gewarnt werden. In Veröffentlichungen geben
die BesetzerInnen die erwarteten Kosten für Prozesse, Anwälte,
mögliche Schadensersatzforderungen etc. mit bis zu 80.000 DM an.
[1585]
Auf einer Pressekonferenz spricht sich der neue
NRW-Wohnungsbauminister Michael Vesper (Bündnis 90/Die Grünen)
gegen die Kriminalisierung der BesetzerInnen aus. Die Besetzung
sei eine Form “von zivilem Ungehorsam ”[1586] gewesen. Auch die Presse
zeigt sich überwiegend verständnisvoll. In seinem Kommentar “Da
riß die Hutschnur ”[1587]
schreibt der ansonsten eher als konservativer Pressevertreter
bekannte Ludolf Schulte am 9. September in der Rheinischen Post: “In
Kürze werden junge Leute vor Gericht stehen, weil sie die
Häuser besetzt hatten. Ihnen war angesichts behördlicher
Inkompetenz die berühmte Hutschnur gerissen. Wie wird das Urteil
lauten? (...) Seine [Vespers; d.V.] Einschätzung drückt
vielmehr aus, was viele gerade an dieser Stelle empfinden mögen:
Guten Gewissens kann niemand diese Hausbesetzer hart bestrafen
und gleichzeitig verleugnen, daß hochangesehene Bundes- wie
Landesbehörden fahrlässig einen Anlaß zu dem Übergriff
gegeben haben. Von schlechtem Gewissen muß auch die Städtische
Wohnungsgesellschaft gewesen sein, als sie ‘vorsorglich’ ein
Bauschild zur Abwehr einer weiteren Besetzung aufstellen ließ,
ohne im Besitz von Umbaurecht zu sein .”[1588]
Am 8. September 1995 erklärt Vesper, die vier Häuser würden
vom Land für 4,35 Millionen DM an die
Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) verkauft. Da der
ursprünglich angestrebte Verkaufspreis von 3 Millionen DM nicht
zu halten gewesen sei, habe die Städtische
Wohnungsbaugesellschaft einen Rückzieher machen müssen. Laut
Vesper wäre ein “niedrigerer Kaufpreis (...) aus
rechtlichen Gründen nicht möglich gewesen .”[1589] Eine Mitarbeiterin der
Ratsfraktion der Grünen erklärt gegenüber einem Mitglied der Initiative
Kaiserswerther Straße , daß es zu keinem Zeitpunkt
schriftlich fixierte Kaufvereinbarungen zwischen Stadt und Land
bezüglich der vier Häuser gegeben habe. Sie vermutet, daß die
im Februar 1995 ausschließlich von SPD-PolitikerInnen aus Stadt
und Land getroffenen Abmachungen während der heißen
Wahlkampfphase in erster Linie dazu gedacht waren, die kritische
Öffentlichkeit zu beruhigen.
Am 29. September 1995 werden die ersten vier von insgesamt 21
BesetzerInnen vor dem Düsseldorfer Amtsgericht wegen
Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch zu jeweils 1.000 DM
Geldstrafe verurteilt. [1590]
Der Prozeß gegen die 21 BesetzerInnen ist unseres Wissen nach
der größte, der jemals in Düsseldorf wegen einer Hausbesetzung
geführt wurde. Auch auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen
Anfang der achtziger Jahre wurden zu keinem Zeitpunkt derart
viele Menschen wegen der Besetzung eines einzigen Hauses
angeklagt. [1591]
[1576] Vgl. Reader Kaiserswerther Straße, S. 32 ff.
[1577] Vgl. ebenda, S. 56.
[1578] RP, 6.2.95.
[1579] “Mensch lasse sich das mal auf der Zunge zergehen:
‘Sachbeschädigung’ an einem Haus zu verüben, das eigentlich
abgerissen werden soll! Und zum ‘Hausfriedensbruch’: Stören
Bagger und Abrißbirne den ‘Frieden’ eines Hauses nicht ein
bißchen nachhaltiger?” , vgl. SoWe-ErstsemesterInnen-Info
1995, 9/95, S. 19.
[1580] Vgl. RP, 22.2.95.
[1581] Vgl. ebenda.
[1582] Die Wahlen finden am 15. Mai 1995 statt: Die SPD
verliert ihre absolute Mehrheit und geht, nach langwierigen
Verhandlungen, eine Koalition mit den Grünen ein, die ihren
Stimmenanteil auf über 10% verdoppeln konnten. Die Grünen
werden mit nur zwei MinisterInnenposten ‘abgespeist’: Das
Umwelt- und das Wohnungsbauministerium.
[1583] Vgl. NRZ, 2.5.95.
[1584] Vgl. Reader Kaiserswerther Straße, S. 62.
[1585] Vgl. ebenda, S. 62.
[1586] RP, 9.9.95.
[1587] Ebenda.
[1588] Ebenda.
[1589] NRZ, 9.9.95.
[1590] Vgl. RP, 30.9.95.
[1591] Am 5. Dezember 1995, einige Wochen nach der
Fertigstellung dieser Arbeit, beginnt vor dem Düsseldorfer
Amtsgericht der Prozeß gegen die restlichen 17 BesetzerInnen.
Alle werden wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung
angeklagt, zwei BesetzerInnen außerdem wegen gefährlicher
Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wir
haben keinen Zweifel daran, daß auch die übrigen 17 Angeklagten
verurteilt werden. Die unnachgiebige Staatsanwaltschaft, die
schon im ersten Prozeß ein großes Interesse an der Verurteilung
der BesetzerInnen gezeigt hat, wird selbst der/dem ‘verständnisvollsten’
Richter(in) kaum eine andere Wahl lassen.