4.2 Fazit

Die AWN war während des gesamten Jahrzehnts zweifellos die wichtigste Organisation, die zu wohnungs- und planungspolitischen Themen gearbeitet hat. Sie existierte fast zehn Jahre - länger als alle BürgerInneninitiativen in den siebziger oder die HausbesetzerInnenbewegung in den achtziger Jahren. In keiner anderen Stadt der BRD hat es je eine vergleichbare Organisation gegeben, die derart viele städtische Häuser über so einen langen Zeitraum verwaltete. In Frankfurt hatte der dortige SPD-Stadtrat während der Häuserkämpfe im Westend versucht, eine ähnliche Vereinbarung mit den BesetzerInnen zu treffen, was aber angesichts der Stärke und des Selbstbewußtseins der dortigen Bewegung nicht funktionierte. Der Vergleich mit Frankfurt weist auf ein Düsseldorfer Spezifikum hin, das auch später, etwa im Zusammenhang mit der Kiefernstraße, noch von Bedeutung sein wird.
Die Aktionsform ‘Hausbesetzung’ ist zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannt und vor allem die in Düsseldorf regierenden SozialdemokratInnen wissen nicht so recht, wie sie vor dem Hintergrund breiter Sympathiebekundungen der Öffentlichkeit mit den BesetzerInnen umgehen sollen. Im ebenfalls sozialdemokratisch regierten Frankfurt toben zur gleichen Zeit Häuserkämpfe und Mietstreiks. Auch das mag eine Rolle bei dem Entschluß der Düsseldorfer Sozialdemokratie spielen, den stärker werdenden studentischen Druck zu kanalisieren bzw. abzuschwächen und dem neugegründeten Verein ‘Aktion Wohnungsnot’ städtische Abbruchhäuser zur vorübergehenden Nutzung zu überlassen. Die sozialintegrative, ‘kooperative’ Linie der Düsseldorfer Sozialdemokratie - später auch ‘Düsseldorfer Linie’ genannt - wurde im Zusammenhang mit der Besetzung der Kronprinzenstr. 113 und der anschließenden Gründung des Vereins AWN ‘aus der Taufe gehoben’. Diese Linie hatte zum Ziel, Protestpotential zu befrieden und zu integrieren.
Die ‘Bewegung’ oder ‘Szene’ in Düsseldorf war - im Vergleich zu Städten wie Frankfurt, Hamburg oder Berlin - immer relativ klein. Das lag zum einen an der im Vergleich zur EinwohnerInnenzahl geringen Anzahl von StudentInnen - die auch in Frankfurt die ProtagonistInnen der Häuserkämpfe waren - und zum anderen daran, daß die Düsseldorfer Hochschulen durch ihre späte Entstehung keine über Jahrzehnte gewachsenen studentischen Strukturen ermöglichten. Auch der Standort der Universität - quasi ein eigener Stadtteil ohne Bezug zur Innenstadt - und die hohe Anzahl von nicht in Düsseldorf wohnenden StudentInnen waren keine Basis für die Herausbildung von studentischen, alternativen Strukturen. Düsseldorf war offensichtlich schon in den Siebzigern relativ unattraktiv für alternative oder subkulturelle Bewegungen. Es gab z.B. nie einen Stadtteil, der überwiegend von StudentInnen oder ‘Alternativen’ bewohnt wurde. Am ehesten bildeten sich solche Alternativstrukturen noch in Bilk heraus, allerdings in wesentlich geringerem Umfang als etwa im Berliner Stadtteil Kreuzberg oder im Hamburger Schanzenviertel.
Die politischen AktivistInnen und wohnungslosen StudentInnen, die etwa im Jahre 1970 anfingen, gegen ihre Situation, Leerstand und die verfehlte Wohnungspolitik zu protestieren, waren keine große Bewegung sondern eine relativ kleine Gruppe, [800] die keine politisierte, radikale Masse ‘im Rücken’ hatte. Welche Möglichkeiten hatten die wenigen Aktiven zu diesem Zeitpunkt, aus der Gruppe eine Bewegung zu machen, die Aktivitäten auszudehnen und den Druck auf private und öffentliche WohnraumvernichterInnen zu erhöhen? Wollten sie das überhaupt?
Die Diskussion darüber wurde unter den BesetzerInnen der Kronprinzenstr. 113 jedenfalls geführt. Peter Müller [801] faßt die Fragestellung ungefähr so zusammen: Arbeiten wir mit der Stadt zusammen, sichern das Erreichte ab und bauen das langsam aus oder machen wir weiter mit Hausbesetzungen? Diese Auseinandersetzung, die wir vereinfachend ‘Kooperation oder Konfrontation’ nennen wollen, tauchte im Verlauf der Geschichte der AWN immer wieder auf. Bis zum Aufkommen der Häuserkampfbewegung Anfang der achtziger Jahre setzte sich jedoch letzten Endes immer die Fraktion durch, die die Zusammenarbeit mit der Stadt und damit die Möglichkeit, weitere Abbruchhäuser zu erhalten, nicht gefährden wollte. Wahrscheinlich hielt diese Fraktion - angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse - die Gründung des Vereins AWN für das Maximum dessen, was sie zu diesem Zeitpunkt in Verhandlungen mit der Stadt erreichen konnte.
Der Erfolg schien ihr Recht zu geben: Ein Jahr nach der Gründung, 1974, waren es immerhin schon 16 Häuser, die der Verein an seine Mitglieder weitergeben konnte. Sieben Jahre später, 1981, hatte sich deren Anzahl mit 34 Häusern mehr als verdoppelt.
Ob durch andere Aktionsformen oder eine verschärfte Konfrontationslinie der Stadt gegenüber mehr erreicht worden wäre, darüber läßt sich nur spekulieren. Das Frankfurter Beispiel zeigt allerdings, daß auch eine wesentlich größere Bewegung, die militante Auseinandersetzungen nicht scheut, nicht unbedingt ‘erfolgreicher’ sein muß.
Was wollte die AWN überhaupt?
Hier wurden von Peter Müller sowohl ‘strategische Ziele’ als auch ‘Kurzzeit-Ziele’ genannt:
Die ‘strategischen Ziele’:
1. Aus dem ‘Dunstkreis’ der städtischen Häuser ‘rauszukommen’ und - z.B. durch Besetzungen - mehr auf das grundlegende Übel, die private Verfügungsgewalt an Grund, Boden und Hauseigentum, aufmerksam zu machen.
2. Städtische Planungen - ausgehend von den AWN-Häusern - zu verhindern.
Das erste Ziel wurde nicht erreicht. Beim zweiten Ziel konnte die AWN, insbesondere bei ihrem gemeinsam mit der BürgerInneninitiative ‘Rettet Bilk’ geführten Kampf gegen das STEP-U, Teilerfolge erzielen. Das STEP-U wurde zwar zu großen Teilen von der Stadt realisiert, jedoch konnte die vollständige Durchführung des Programms durch die Proteste verhindert werden. [802] Die einzelnen AWN-Häuser spielten bei diesen Protesten allerdings oft nur eine untergeordnete Rolle. Ergänzend sei hier noch festgehalten, daß die AWN maßgeblichen Anteil an der Gründung von ‘Rettet Bilk’ hatte. Im Zuge der Arbeit in Bilk konnte auch ein anderes Projekt gegründet werden, die ‘AusländerInnen Gruppe Bilk’ (AGB).

  1. Erfolge bei der Beschaffung von preisgünstigem Wohnraum für Geringverdienende zu erzielen und
  2. In den AWN-Häusern die Freiräume gestalten, die diese Art von Wohnen bot. Andere Formen des Zusammenlebens und der Selbstverwaltung ausprobieren. [803]

Hier war die AWN erfolgreich:

Zu Beginn der achtziger Jahre verschärfte sich die Kritik an der Politik und den Strukturen der AWN. Vor allem die ‘Sponti-Fraktion’ kritisierte, daß die meisten der BewohnerInnen von AWN-Häusern eben nur noch an dem billigen Wohnen interessiert waren und sich die politische Arbeit im ‘hierarchischen Verein’ AWN immer mehr auf den Vorstand konzentriert habe. Dafür verantwortlich gemacht wurde unter anderem die ‘reformistische, taktierende’ Politik des - von MSB und DKP dominierten - Vorstandes. Die Überschrift eines Artikels in der ‘Szene’-Zeitung ‘Sägespan’ lautete: ‘Modell AWN für die ganze BRD? Bloß nicht!’
Diese Kritik hatte zum Teil ihre Berechtigung. So fallen bei der näheren Betrachtung der AWN-Politik zwei gravierende Widersprüche ins Auge:

Bezogen auf diese Widersprüche stellt sich die Frage, ob die AWN nicht ein Jahrzehnt lang dafür gesorgt hat, daß das reale Problem der Wohnungsnot nicht allzu drückend für PolitikerInnen und Verwaltung wurde, daß es ruhig blieb in der Stadt?
Auf dem Punkt gebracht: ‘Hat die AWN die soziale(n) Bewegung(en) in Düsseldorf eher nach vorne gebracht oder eher gehemmt?’
Die Frage läßt sich unserer Meinung nach nicht innerhalb eines simplen ‘Richtig-Falsch-Schemas’ beantworten. Vielmehr ist eine dialektische Betrachtungsweise notwendig, die sowohl die Erfolge der AWN als auch ihre Schwächen und Fehler berücksichtigt. Außerdem muß immer analysiert werden: Wie sehen die ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse in einer spezifischen Periode aus: in der Stadt und in der Gesellschaft überhaupt? Wieviele von meinen Zielen kann ich gegen welche Interessen überhaupt durchsetzen?
Nach unserer Einschätzung hat die AWN - mit Abstrichen - die soziale(n) Bewegung(en) in den siebziger Jahren weitergebracht. Allerdings darf das ‘Modell AWN’ nicht als Endpunkt einer Entwicklung begriffen werden. Es war für zahlreiche Menschen vielmehr eine Basis, von der aus sich der Protest weiterentwickelt hat. Auch die HausbesetzerInnen der frühen achtziger Jahre konnten an vieles anknüpfen, was von der AWN entwickelt worden war.
Klar ist aber auch, daß die Politik der AWN - trotz teilweise antikapitalistischer Forderungen und Ziele - eine reformistische war, die ein starkes Interesse daran hatte, das einmal Erreichte zu sichern und vorsichtig auszubauen. Sie bewegte sich über weite Strecken im Rahmen von Vereinbarungen mit der Stadt. Auch ihre objektive Funktion bei der Befriedung vor allem studentischen Protestpotentials kann nicht verleugnet werden. Im Gegensatz zu Frankfurt gab es in Düsseldorf während der siebziger Jahre keine militanten Häuserkämpfe. Das ganze Jahrzehnt war so etwas wie eine lange ‘Ruhephase’.
Was bleibt, ist die Frage, ob die ‘andere Seite’ - die KritikerInnen der AWN - tatsächlich das bessere, vorwärtsbringende Konzept parat hatten. Dieser Frage werden wir uns bei der Untersuchung der achtziger und neunziger Jahre noch ausführlicher widmen.
Eine eigene Untersuchung wert wäre übrigens die Rolle, die das MSB/DKP-Spektrum in der AWN gespielt haben, vor allem was die Einordnung der AWN in ein Gesamtkonzept gesellschaftlicher Umgestaltung angeht. Da uns jedoch keine Unterlagen (und nur relativ wenige, mit Vorsicht zu ‘genießende’, mündliche Aussagen) zu diesem Themenkomplex zur Verfügung stehen, können wir dieser Frage hier nicht weiter nachgehen.

Zum Abschluß unseres Fazits dokumentieren wir einen Auszug aus unserem Gespräch mit Peter Müller, in dem die Widersprüche der AWN noch einmal zusammengefaßt und miteinander in Verbindung gebracht werden:
“P.M.: [Wahr ist] , daß es natürlich immer die Diskussion gibt - aber die ist so alt wie die sozialen Bewegungen oder Bewegungen überhaupt - zwischen der Verelendungsstrategie, so nach dem Motto: Wenn die Leute nur wenig zu fressen haben und es denen so richtig dreckig geht, dann werden sie schon kämpfen und wenn man Erfolge organisiert dann werden die satt und träge und tun nichts mehr. [Auf der anderen Seite steht] die Meinung, daß man eben schon seine Sache in die Hand nehmen sollte und Erfolge organisiert. Und diese Diskussion zieht sich wie ein roter Faden durch die AWN-Geschichte. (...) [Die beiden Fraktionen] waren auch immer ungefähr gleich stark, aber es war immer so, daß entweder die eine oder die andere leichtes Übergewicht hatte. In der Zeit, in der ich dann in der AWN war, war die Fraktion, die meinte, man muß die Erfolge organisieren und man muß sie versuchen auch zu halten, man muß auch was durchhalten, stärker. Aber es gab die andere Fraktion auch immer und die war auch nicht schwach.
V.R.: Aber Tatsache ist doch, daß auch der Vorstand später zumindest Teilen der Kritik zustimmen mußte, insofern daß gesagt wurde: Klar die Masse tut wirklich nichts (...) In den meisten Häusern wurde nichts mehr gemacht. Die Leute saßen da fett drin, hatten da ihr günstiges Zimmerchen. Politisch ging ja nichts mehr nach vorne, das war fixiert auf den Vorstand.
P.M.: Ja natürlich. Wenn nicht beide Meinungen gewissermaßen etwas Recht hätten, dann hätte sich die Sache ja schon seit hundert Jahren erledigt. Das ist ja eben ein unlösbarer Konflikt. Beides hat eine gewisse Berechtigung. Beides stimmt, das ist ja klar. (...)
V.R.: Ich denke, es geht ja nicht darum, daß zwei Sachen unversöhnlich gegeneinanderstehen, sondern daß sie weiterentwickelt werden zu was Neuem...
P.M.: Das sind zwei Waagschalen, die immer wieder umeinander pendeln. Es gibt Phasen, wo das Eine überwiegt, wo natürlich dadurch, daß man Erfolge organisiert, die Leute dann auch sehr träge werden und nichts mehr tun und dann gibt es wieder Phasen, wo es dann langsam wieder anfängt zu gären. Man muß das ja auch so sehen: Da war ja auch ein Pfund, mit dem man wuchern konnte und da hat sich auch was draus ergeben, man fing ja dann nicht wieder von Null an (...). Also insofern entwickelt sich das schon so ein bißchen in Richtung von was Höherem. Aber es ist so, daß eben diese beiden Linien immer da sind und daß die auch beide sich auf reale Argumente stützen können, die einen nicht nur Unrecht haben und die anderen nur Recht.” [805]


[800] An der Besetzung des Hauses Kronprinzenstr. 113 nahmen ungefähr 20 Personen teil.
[801] Peter Müller war einer der Besetzer des Hauses Kronprinzenstr. 113 und Anfang der siebziger Jahre im AWN-Vorstand. Wir führten am 21.9.95 ein Interview mit ihm.
[802] Vgl. Kap. C. III. 2.
[803] Vgl. Interview mit P. Müller, 21.9.95.
[804] Nagel, T., Die Häuser gehören uns, S. 39.
[805] Interview mit P. Müller, 21.9.95, S. 10 ff.


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