Die AWN war während des gesamten Jahrzehnts
zweifellos die wichtigste Organisation, die zu wohnungs- und
planungspolitischen Themen gearbeitet hat. Sie existierte fast
zehn Jahre - länger als alle BürgerInneninitiativen in den
siebziger oder die HausbesetzerInnenbewegung in den achtziger
Jahren. In keiner anderen Stadt der BRD hat es je eine
vergleichbare Organisation gegeben, die derart viele städtische
Häuser über so einen langen Zeitraum verwaltete. In Frankfurt
hatte der dortige SPD-Stadtrat während der Häuserkämpfe im
Westend versucht, eine ähnliche Vereinbarung mit den
BesetzerInnen zu treffen, was aber angesichts der Stärke und des
Selbstbewußtseins der dortigen Bewegung nicht funktionierte. Der
Vergleich mit Frankfurt weist auf ein Düsseldorfer Spezifikum
hin, das auch später, etwa im Zusammenhang mit der
Kiefernstraße, noch von Bedeutung sein wird.
Die Aktionsform ‘Hausbesetzung’ ist zu diesem Zeitpunkt noch
relativ unbekannt und vor allem die in Düsseldorf regierenden
SozialdemokratInnen wissen nicht so recht, wie sie vor dem
Hintergrund breiter Sympathiebekundungen der Öffentlichkeit mit
den BesetzerInnen umgehen sollen. Im ebenfalls sozialdemokratisch
regierten Frankfurt toben zur gleichen Zeit Häuserkämpfe und
Mietstreiks. Auch das mag eine Rolle bei dem Entschluß der
Düsseldorfer Sozialdemokratie spielen, den stärker werdenden
studentischen Druck zu kanalisieren bzw. abzuschwächen und dem
neugegründeten Verein ‘Aktion Wohnungsnot’ städtische
Abbruchhäuser zur vorübergehenden Nutzung zu überlassen. Die
sozialintegrative, ‘kooperative’ Linie der Düsseldorfer
Sozialdemokratie - später auch ‘Düsseldorfer Linie’ genannt
- wurde im Zusammenhang mit der Besetzung der Kronprinzenstr. 113
und der anschließenden Gründung des Vereins AWN ‘aus der
Taufe gehoben’. Diese Linie hatte zum Ziel, Protestpotential zu
befrieden und zu integrieren.
Die ‘Bewegung’ oder ‘Szene’ in Düsseldorf war - im
Vergleich zu Städten wie Frankfurt, Hamburg oder Berlin - immer
relativ klein. Das lag zum einen an der im Vergleich zur
EinwohnerInnenzahl geringen Anzahl von StudentInnen - die auch in
Frankfurt die ProtagonistInnen der Häuserkämpfe waren - und zum
anderen daran, daß die Düsseldorfer Hochschulen durch ihre
späte Entstehung keine über Jahrzehnte gewachsenen
studentischen Strukturen ermöglichten. Auch der Standort der
Universität - quasi ein eigener Stadtteil ohne Bezug zur
Innenstadt - und die hohe Anzahl von nicht in Düsseldorf
wohnenden StudentInnen waren keine Basis für die Herausbildung
von studentischen, alternativen Strukturen. Düsseldorf war
offensichtlich schon in den Siebzigern relativ unattraktiv für
alternative oder subkulturelle Bewegungen. Es gab z.B. nie einen
Stadtteil, der überwiegend von StudentInnen oder ‘Alternativen’
bewohnt wurde. Am ehesten bildeten sich solche
Alternativstrukturen noch in Bilk heraus, allerdings in
wesentlich geringerem Umfang als etwa im Berliner Stadtteil
Kreuzberg oder im Hamburger Schanzenviertel.
Die politischen AktivistInnen und wohnungslosen StudentInnen, die
etwa im Jahre 1970 anfingen, gegen ihre Situation, Leerstand und
die verfehlte Wohnungspolitik zu protestieren, waren keine große
Bewegung sondern eine relativ kleine Gruppe, [800] die keine politisierte, radikale Masse
‘im Rücken’ hatte. Welche Möglichkeiten hatten die wenigen
Aktiven zu diesem Zeitpunkt, aus der Gruppe eine Bewegung zu
machen, die Aktivitäten auszudehnen und den Druck auf private
und öffentliche WohnraumvernichterInnen zu erhöhen? Wollten sie
das überhaupt?
Die Diskussion darüber wurde unter den BesetzerInnen der
Kronprinzenstr. 113 jedenfalls geführt. Peter Müller [801] faßt die Fragestellung
ungefähr so zusammen: Arbeiten wir mit der Stadt zusammen,
sichern das Erreichte ab und bauen das langsam aus oder machen
wir weiter mit Hausbesetzungen? Diese Auseinandersetzung, die wir
vereinfachend ‘Kooperation oder Konfrontation’ nennen wollen,
tauchte im Verlauf der Geschichte der AWN immer wieder auf. Bis
zum Aufkommen der Häuserkampfbewegung Anfang der achtziger Jahre
setzte sich jedoch letzten Endes immer die Fraktion durch, die
die Zusammenarbeit mit der Stadt und damit die Möglichkeit,
weitere Abbruchhäuser zu erhalten, nicht gefährden wollte.
Wahrscheinlich hielt diese Fraktion - angesichts der bestehenden
Kräfteverhältnisse - die Gründung des Vereins AWN für das
Maximum dessen, was sie zu diesem Zeitpunkt in Verhandlungen mit
der Stadt erreichen konnte.
Der Erfolg schien ihr Recht zu geben: Ein Jahr nach der
Gründung, 1974, waren es immerhin schon 16 Häuser, die der
Verein an seine Mitglieder weitergeben konnte. Sieben Jahre
später, 1981, hatte sich deren Anzahl mit 34 Häusern mehr als
verdoppelt.
Ob durch andere Aktionsformen oder eine verschärfte
Konfrontationslinie der Stadt gegenüber mehr erreicht worden
wäre, darüber läßt sich nur spekulieren. Das Frankfurter
Beispiel zeigt allerdings, daß auch eine wesentlich größere
Bewegung, die militante Auseinandersetzungen nicht scheut, nicht
unbedingt ‘erfolgreicher’ sein muß.
Was wollte die AWN überhaupt?
Hier wurden von Peter Müller sowohl ‘strategische Ziele’ als
auch ‘Kurzzeit-Ziele’ genannt:
• Die ‘strategischen Ziele’:
1. Aus dem ‘Dunstkreis’ der städtischen Häuser ‘rauszukommen’
und - z.B. durch Besetzungen - mehr auf das grundlegende Übel,
die private Verfügungsgewalt an Grund, Boden und Hauseigentum,
aufmerksam zu machen.
2. Städtische Planungen - ausgehend von den AWN-Häusern - zu
verhindern.
Das erste Ziel wurde nicht erreicht. Beim zweiten Ziel konnte die
AWN, insbesondere bei ihrem gemeinsam mit der
BürgerInneninitiative ‘Rettet Bilk’ geführten Kampf gegen
das STEP-U, Teilerfolge erzielen. Das STEP-U wurde zwar zu
großen Teilen von der Stadt realisiert, jedoch konnte die vollständige
Durchführung des Programms durch die Proteste verhindert werden.
[802] Die einzelnen
AWN-Häuser spielten bei diesen Protesten allerdings oft nur eine
untergeordnete Rolle. Ergänzend sei hier noch festgehalten, daß
die AWN maßgeblichen Anteil an der Gründung von ‘Rettet Bilk’
hatte. Im Zuge der Arbeit in Bilk konnte auch ein anderes Projekt
gegründet werden, die ‘AusländerInnen Gruppe Bilk’ (AGB).
Hier war die AWN erfolgreich:
Zu Beginn der achtziger Jahre verschärfte sich
die Kritik an der Politik und den Strukturen der AWN. Vor allem
die ‘Sponti-Fraktion’ kritisierte, daß die meisten der
BewohnerInnen von AWN-Häusern eben nur noch an dem
billigen Wohnen interessiert waren und sich die politische Arbeit
im ‘hierarchischen Verein’ AWN immer mehr auf den Vorstand
konzentriert habe. Dafür verantwortlich gemacht wurde unter
anderem die ‘reformistische, taktierende’ Politik des - von
MSB und DKP dominierten - Vorstandes. Die Überschrift eines
Artikels in der ‘Szene’-Zeitung ‘Sägespan’ lautete: ‘Modell
AWN für die ganze BRD? Bloß nicht!’
Diese Kritik hatte zum Teil ihre Berechtigung. So fallen bei der
näheren Betrachtung der AWN-Politik zwei gravierende
Widersprüche ins Auge:
Bezogen auf diese Widersprüche stellt sich die
Frage, ob die AWN nicht ein Jahrzehnt lang dafür gesorgt hat,
daß das reale Problem der Wohnungsnot nicht allzu drückend für
PolitikerInnen und Verwaltung wurde, daß es ruhig blieb in der
Stadt?
Auf dem Punkt gebracht: ‘Hat die AWN die soziale(n)
Bewegung(en) in Düsseldorf eher nach vorne gebracht oder eher
gehemmt?’
Die Frage läßt sich unserer Meinung nach nicht innerhalb eines
simplen ‘Richtig-Falsch-Schemas’ beantworten. Vielmehr ist
eine dialektische Betrachtungsweise notwendig, die sowohl die
Erfolge der AWN als auch ihre Schwächen und Fehler
berücksichtigt. Außerdem muß immer analysiert werden: Wie
sehen die ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse in
einer spezifischen Periode aus: in der Stadt und in der
Gesellschaft überhaupt? Wieviele von meinen Zielen kann ich
gegen welche Interessen überhaupt durchsetzen?
Nach unserer Einschätzung hat die AWN - mit Abstrichen - die
soziale(n) Bewegung(en) in den siebziger Jahren weitergebracht.
Allerdings darf das ‘Modell AWN’ nicht als Endpunkt einer
Entwicklung begriffen werden. Es war für zahlreiche Menschen
vielmehr eine Basis, von der aus sich der Protest
weiterentwickelt hat. Auch die HausbesetzerInnen der frühen
achtziger Jahre konnten an vieles anknüpfen, was von der AWN
entwickelt worden war.
Klar ist aber auch, daß die Politik der AWN - trotz teilweise
antikapitalistischer Forderungen und Ziele - eine reformistische
war, die ein starkes Interesse daran hatte, das einmal Erreichte
zu sichern und vorsichtig auszubauen. Sie bewegte sich über
weite Strecken im Rahmen von Vereinbarungen mit der Stadt. Auch
ihre objektive Funktion bei der Befriedung vor allem
studentischen Protestpotentials kann nicht verleugnet werden. Im
Gegensatz zu Frankfurt gab es in Düsseldorf während der
siebziger Jahre keine militanten Häuserkämpfe. Das ganze
Jahrzehnt war so etwas wie eine lange ‘Ruhephase’.
Was bleibt, ist die Frage, ob die ‘andere Seite’ - die
KritikerInnen der AWN - tatsächlich das bessere,
vorwärtsbringende Konzept parat hatten. Dieser Frage werden wir
uns bei der Untersuchung der achtziger und neunziger Jahre noch
ausführlicher widmen.
Eine eigene Untersuchung wert wäre übrigens die Rolle, die das
MSB/DKP-Spektrum in der AWN gespielt haben, vor allem was die
Einordnung der AWN in ein Gesamtkonzept gesellschaftlicher
Umgestaltung angeht. Da uns jedoch keine Unterlagen (und nur
relativ wenige, mit Vorsicht zu ‘genießende’, mündliche
Aussagen) zu diesem Themenkomplex zur Verfügung stehen, können
wir dieser Frage hier nicht weiter nachgehen.
Zum Abschluß unseres Fazits dokumentieren wir einen Auszug aus
unserem Gespräch mit Peter Müller, in dem die Widersprüche der
AWN noch einmal zusammengefaßt und miteinander in Verbindung
gebracht werden:
“P.M.: [Wahr ist] , daß es natürlich immer die
Diskussion gibt - aber die ist so alt wie die sozialen Bewegungen
oder Bewegungen überhaupt - zwischen der Verelendungsstrategie,
so nach dem Motto: Wenn die Leute nur wenig zu fressen haben und
es denen so richtig dreckig geht, dann werden sie schon kämpfen
und wenn man Erfolge organisiert dann werden die satt und träge
und tun nichts mehr. [Auf der anderen Seite steht] die
Meinung, daß man eben schon seine Sache in die Hand nehmen
sollte und Erfolge organisiert. Und diese Diskussion zieht sich
wie ein roter Faden durch die AWN-Geschichte. (...) [Die
beiden Fraktionen] waren auch immer ungefähr gleich stark,
aber es war immer so, daß entweder die eine oder die andere
leichtes Übergewicht hatte. In der Zeit, in der ich dann in der
AWN war, war die Fraktion, die meinte, man muß die Erfolge
organisieren und man muß sie versuchen auch zu halten, man muß
auch was durchhalten, stärker. Aber es gab die andere Fraktion
auch immer und die war auch nicht schwach.
V.R.: Aber Tatsache ist doch, daß auch der Vorstand später
zumindest Teilen der Kritik zustimmen mußte, insofern daß
gesagt wurde: Klar die Masse tut wirklich nichts (...) In den
meisten Häusern wurde nichts mehr gemacht. Die Leute saßen da
fett drin, hatten da ihr günstiges Zimmerchen. Politisch ging ja
nichts mehr nach vorne, das war fixiert auf den Vorstand.
P.M.: Ja natürlich. Wenn nicht beide Meinungen gewissermaßen
etwas Recht hätten, dann hätte sich die Sache ja schon seit
hundert Jahren erledigt. Das ist ja eben ein unlösbarer
Konflikt. Beides hat eine gewisse Berechtigung. Beides stimmt,
das ist ja klar. (...)
V.R.: Ich denke, es geht ja nicht darum, daß zwei Sachen
unversöhnlich gegeneinanderstehen, sondern daß sie
weiterentwickelt werden zu was Neuem...
P.M.: Das sind zwei Waagschalen, die immer wieder umeinander
pendeln. Es gibt Phasen, wo das Eine überwiegt, wo natürlich
dadurch, daß man Erfolge organisiert, die Leute dann auch sehr
träge werden und nichts mehr tun und dann gibt es wieder Phasen,
wo es dann langsam wieder anfängt zu gären. Man muß das ja
auch so sehen: Da war ja auch ein Pfund, mit dem man wuchern
konnte und da hat sich auch was draus ergeben, man fing ja dann
nicht wieder von Null an (...). Also insofern entwickelt sich das
schon so ein bißchen in Richtung von was Höherem. Aber es ist
so, daß eben diese beiden Linien immer da sind und daß die auch
beide sich auf reale Argumente stützen können, die einen nicht
nur Unrecht haben und die anderen nur Recht.” [805]
[800] An der Besetzung des Hauses Kronprinzenstr. 113 nahmen
ungefähr 20 Personen teil.
[801] Peter Müller war einer der Besetzer des Hauses
Kronprinzenstr. 113 und Anfang der siebziger Jahre im
AWN-Vorstand. Wir führten am 21.9.95 ein Interview mit ihm.
[802] Vgl. Kap. C. III. 2.
[803] Vgl. Interview mit P. Müller, 21.9.95.
[804] Nagel, T., Die Häuser gehören uns, S. 39.
[805] Interview mit P. Müller, 21.9.95, S. 10 ff.