IV

BEWEINT NICHT DIE TOTEN, ERSETZT SIE - die Worte auf der Hausflurwand sind frisch. Dritter Stock, denkt Erich, lächelt, die Genossen der WG, dabei fährt er unwillkürlich mit den Fingern durch die feuchte, auf die Flurwand aufgesprühte Farbe. Denn inzwischen hastet Erich durch das dunkle Treppenhaus, immer noch verfolgt vom Klopfen der zurückgelassenen Bullen und der endlos wiederholten kleinen Kindermelodie. Er klingelt, »los, beeilt euch!«, die Tür wird hastig aufgemacht - hallo, sagt Kai und lächelt, Corinna rülpst und grinst. Um gleich darauf zu schlucken, mit rosaroten Backen, pfui, pfui, die Leute sehn dich, trotzdem und gerade dann. Die also, denkt sich Erich, na dann. Und summt und summt verlegen, schon wieder alle Entchen - wir wolln, sagt Kai, was machen, kommst du mit? Aber als Kai ihn ansieht, alles ein Tick zu fröhlich, sie mit der feinen Hand vorm Mund, ahnt Erich, daß etwas nicht stimmt. Und folgt ihnen trotzdem.

Beweint nicht die Toten, ersetzt sie - wir warten noch, sagt Kai. Die laue Luft vermischt sich mit den verschiedenen Lampen, rot-gelb-grün, klammes Klatschen, die Ampeln, ewiges Gummi, zerkaun die nächste Nacht: Wir warten noch, sagt Kai. Die gelben und blauen Hinweisschilder, die Liste all der Namen - die wir nie vergessen wollen: Auschwitz, Stutthof, Birkenau - Danzig: x Kilometer, noch immer Maas bis Memel, noch immer Etsch bis Belt. Aber die Luft, die warm ist, läßt dich noch immer tänzeln, der feuchte Dampf vom Asphalt, macht dich noch immer locker, die Namen sind aus Asche, die Schilder sind aus Blech. Wir warten noch, sagt Kai, dort kommt ein Wagen.

Als die Ampel an der Akazienstraße von Grün auf Orange springt, schaltet der Fahrer vom vierten in den dritten Gang und gibt noch einmal Gas. Während ein ungewöhnlich großer, rabenschwarzer Rollschuhläufer mit weiten, ausholenden Schwüngen, ein Hüpfer an der Rinnsteinstufe, den Fußgängerampelüberweg an der Akazienstraße, dont worry, be happy, Richtung Woolworth überquert - im Schaufenster hängt Ibiza, der große Rollschuhläufer nickt nach dem lackierten Himmel, er zwinkert in den weißen Sand - stößt sich ein schwankender Fahrradfahrer von einer Ampel vor Bilka ab, kippelt und rudert mit den Armen, kommt unvermutet frei und tritt, die Zähne zusammengebissen, erschöpft in die Pedale, so daß er schräg auf das Auto zu und über die Fahrbahn und vor den Kühler des Ford Granada rollt. Es ist ein roter Ford Granada... Die blauen Dragoner, sie reiten mit klingendem Spiel durch das Tor. Der Fahrer versucht auszuweichen, schlenkert noch Richtung Mittelstreifen, erwischt den Mann am Hinterrad, bremst, kurzes Zögern, ab und rast die Hauptstraße hinunter. Der rabenschwarze Rollschuhfahrer, Ohren unter Ohrenstöpseln, dont worry, be happy, kippt aus dem sonnigen Plakat, zerrt an den Walkmanhörern, sieht sich erschrocken um. Wir warten noch, sagt Kai, die andern nicken.

Der Rollschuhläufer ruckt, rapp-tipp, der Stopper, Ratzefummel auf Granit, für einen Lidschlag, weil er sieht, der Mann vom Fahrrad krabbelt noch, nutzt dann den Schwung, eng vor der Brust: die Arme schließen sich zum Sprung, dreiviertel Drehung, der Schwarze verfolgt den Ford Granada, aber der Ford entkommt.

Als er sich jedoch dann umdreht, dem gestürzten Fahrradfahrer aufzuhelfen, »los 'opp 'och«, sieht er, wie der Mann auf Knien rückwärts Richtung Rinnstein kriecht, dabei sein verdelltes Fahrrad mit dem abgeknickten Lenker mürrisch nachzieht, hinter sich - »Kacke« - herzerrt, eine der Pedale schrappt, links - ich kriege Gänsehaut, sagt Kai, auf dem Asphalt: »Laß uns warten.«

Der Schwarze bückt sich unbeholfen, der Fahrradfahrer hangelt sich am Schwarzen hoch, richtet sich auf und wackelt noch, fällt gegen dessen Schulter, ein Dunst aus Bier und Kippen im rötlichen Gesicht. In den schimmernden Scheiben von Woolworth klicken die, tic-tac-toe, Ampelsignale, ewig, zeitlos, Wieder-

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