sehr das Plenum wie die gesamte Bewegung beherrscht hatte. Der Kampf zweier Linien - verhandeln oder nicht verhandeln - wurde leidenschaftlich und mit wechselnden Mehrheiten bis an den Rand der Schlägerei geführt. Entlang der Frage, ob die Besetzer für ihre Legalisierung Kompromisse eingehen sollten, entstand eine uferlose Debatte über Staat, Widerstand und politische Identität. Dauerthema Nummer zwei ist die mühselige Organisation des Alltags - der Instandsetzung, der Finanzen und der Hausarbeit. Tommi hat heute schon den dritten Tag hintereinander am Herd gestanden, seit zehn Tagen gibt es keinen Kochplan mehr. Der Fußboden im Gemeinschaftsraum, in dem gekocht und gegessen wird, ist von einem klebrigen Film überzogen, der Berg aus dreckigem Geschirr hat eine entmutigende Höhe erreicht. Der Syph, wie die Verwahrlosung bis zur Ekelschwelle bei Besetzern genannt wird, hat mal wieder überhandgenommen. »Mann, wie oft wir darüber schon geredet haben«, hatte Olli vor der Debatte gelästert. »Nach zwei Wochen sieht es wieder genauso aus. « Was hilft's? Nach einer erfolglosen Attacke zweier Maschinenstürmer, die in der Geschirrspülmaschine eine Hauptursache für die Verantwortungslosigkeit gegenüber der Küchenkultur sehen und sie sofort rauswerfen wollen, gibt es einen kurzen moralischen Appell und einen neuen Kochplan. Ob der Plan wirklich das abendliche warme Essen beschert, ist damit noch nicht sichergestellt, denn das Budget der Essenskasse ist mit der Zahlungsmoral gesunken. Noch schlechter ist es allerdings um die Hauskasse bestellt, aus der Renovierung, Strom oder Müllabfuhr bestritten werden. Nur ganze sechs Leute haben für die letzten drei Monate die beschlossenen 100 Mark pro Nase und Monat eingezahlt. Nicht unbedingt aus asozialem Eigennutz, denn der Student, der von seinen Eltern monatlich 700 Mark überwiesen bekommt, gehört schon zu den Reichen unter ihnen. Sozi-Empfänger und Lehrlinge haben deutlich weniger. Nach zwei Stunden erkämpft sich Regina das Wort: »Ich werde am Montag ausziehen.« Ihre Mitteilung schafft spürbares Unbehagen und wird deshalb zunächst einfach überhört. Niemand weiß es genau, aber es müssen an die vierzig sein, die in den zwei Jahren wieder gegangen sind. Warum sie geht, darüber wird nicht gesprochen, und sie selbst gibt sich auch damit zufrieden, daß sich ein paar Freiwillige melden, die beim Transport des Klavieres in ihre neue Zwei-Zimmerwohnung helfen wollen. »Gefühl und Härte« hieß eine der alten Parolen, und es ist oft ganz schön hart bei ihnen. Nicht nur für den jüngsten, der einmal aus Einsamkeit in der Masse mit Spiritus und Lack die Küche in Brand gesetzt hat. Liebe, Nähe und Geborgenheit können so schnell zerfallen, wie sie entstanden sind, und das fast anonyme Nebeneinanderherleben ist bei 30 Menschen unvermeidlich. Zu ertragen ist es nur, weil die große von einem Geflecht von kleineren Gruppen zusammengehalten wird. Isabella nennt es »etwas Merkwürdiges, das es bei uns gibt. Daß du nämlich deine Gefühle abgibst, wenn du hier mal weggehst, wenn du mal in Urlaub fährst, und wirst von allen geliebt, Und du kommst wieder und hast nichts mehr zu melden und bist völlig fehl am Platze. Du mußt erst mal wieder für Liebe und Anerkennung kämpfen. Im Gemeinschaftsraum da wird darüber geredet, was renoviert werden muß, was die Bullen wieder gemacht haben oder was in der Zeitung steht. Du bekommst Aufmerksamkeit, wenn du mit Infos kommst, die für die ganze Gruppe interessant sind. Ich habe schon mit so vielen Leuten intensiver was gemacht, und das ist wieder abgebrochen. Dafür lief wieder was mit anderen Leuten, das geht so schnellebig, wie wir sind. Was uns verbindet, ist, daß wir wie alle Jugendliche auf der Suche nach unserer Identität sind. Warum gehen Jugendliche in Cliquen und suchen da ihren Halt, ihre Identität, die nicht die ihrer Eltern ist. Ihre eigene, die aber letzten Endes überhaupt nicht ihre eigene ist? Wenn du dir unsere Sprüche anhörst, dann fallen wir manchmal hier richtig in so ein Teeny-Verhalten zurück. Und trotzdem sind wir alle Außenseiter,und ich bin es manchmal noch ein bißchen mehr, aber die Rolle gefällt mir auch.« Isabella, ihr Name erinnert mich immer an Königin Isabella von Kastilien, die vor knapp 500 Jahren dem Seefahrer Christopherus Columbus drei Schiffe gab, damit er nach Indien segeln konnte. Wenn die kühnsten Phantasien der Besetzer jemals Wirklichkeit werden sollten, ließe es sich eines Tages auch durch die Potsdamer Straße segeln, die dann freilich ein großer Kanal wäre, auf dem statt stinkender Blechkästen Boote und Gondeln verkehren. Dann wäre es auch ein uneingeschränkter Genuß" am Sonntagnachmittag vor dem K. 0. B. zu sitzen: anstelle des Asphalts grünes Wasser, in dem die Frühlingssonne glitzerte, statt der dröhnenden Motoren die sanften Schläge der Wellen, die unser Gespräch untermalten - und noch immer ein süßlich fauler Geruch in der Luft. Floyd hat sich gerade an unseren Tisch gesetzt, und es ist auch ohne Kanal ganz schön. Er will gleich den Laden im Haus nebenan renovieren, den er zusammen mit fünf anderen Besetzern seit kurzem gemietet hat. Sie wollen eine Galerie drin aufziehen, erzählt er. »Ein Name für sie fehlt uns noch, es ist echt schwierig, einen guten Namen zu finden. Zuerst dachten wir >Galleria Diffusa<, aber das ist zu scenemäßig. Ihr könnt ja auch mal überlegen, wer den Namen findet, den wir nehmen, kriegt 'ne Flasche Deinhardt. « Isabella, die gerade die Tische abräumt, wundert sich: »Bei dem Streß ha- |