Diese Zeitung ist eine Dokumentation der Ereignisse rund um den Berlinbesuch von US-Präsident Reagan und der Zustände in Kreuzberg. Sie ist notwendig, denn bislang sind die Informationen über das ganze Ausmaß an staatlicher Willkür und Brutalität, die an diesen Tagen und Nächten zutagetraten, viel zu spärlich gewesen. Sie ist notwendig, denn die Handlungen von Polizei und Senat gingen weit über das hinaus, was sich noch als demokratisch und rechtsstaatlich bezeichnen ließe.

Gerade an den Tag, an dem der Präsident der USA Berlin besuchte, um in einer Rede vor dem Brandenburger Tor ein Bekenntnis zur Freiheit Berlins abzulegen, herrschte in unserer Stadt faktisch der Ausnahmezustand. Während die Redner in der protestfrei gehaltenen Hochsicherheitszone im Tiergarten erklärten, man müsse erkennen, daß nur die westliche Ordnung die Freiheit zu protestieren und zu demonstrieren garantiere, wurde in der Innenstadt jeglicher Versuch diese Freiheiten wahrzunehmen verboten und im Keim erstickt.

Dieser Ausnahmezustand richtete sich nicht nur gegen diejenigen, die gegen die Rüstungs- und Außenpolitik der US-Regierung demonstrieren wollten und dafür am 12.6. stundenlang in einem Polizeikessel a la Hamburg gefangengehalten wurden. Seine Opfer waren nicht nur die Hunderte, die oft allein aufgrund ihres Aussehens festgenommen und 24 und mehr Stunden im Gefängnis verbringen mußten. Er richtete sich auch gegen alle, die in Kreuzberg wohnen und arbeiten.

Wie ein Ghetto ließ der Innensenator Kreuzberg abriegeln. Das Grundrecht, sich jederzeit und ungehindert von Ort zu Ort bewegen zu können, galt nicht mehr. Am schlimmsten waren jedoch die Nächte rund um den Reaganbesuch in Kreuzberg 36.

Ein immenses Aufgebot an Polizeikräften hielt den Stadtteil besetzt und ging brutal gegen alle vor, die es noch wagten, auf den Straßen zu sein. Die Polizei veranstaltete regelrechte Menschenjagden, stürmte Wohnungen und verprügelte willkürlich und wahllos alle, die nicht schnell genug weglaufen konnten.

Ein junger Mann wurde so zugerichtet, daß er mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte.

Der Krawall, gegen den die Polizei vergeblich eingeschritten ist, bestand aus vereinzelten Steinewürfen gegen vergitterte Polizeifahrzeuge und einigen kleineren Versuchen, Straßensperren zu errichten. Die Praktiken der Polizei standen in keinem Verhältnis zu den Vorgängen. In dieser Stadt herrschten Zustände, die mehr an ein diktatorisches Regime als an einen demokratischen Rechtsstaat erinnerten.

Kewenig wollte Krawall

Das Vorgehen der Polizei war planmäßig und von langer Hand vorbereitet. Die eklatanten Grundrechtsbrüche und die brutale Willkür sind von Kewenig bewußt geplant und auch so gewollt worden. Dafür ließ er - den Sonderstatus von West-Berlin grob mißachtend - eine rund 1000 Mann starke Truppe von Sondereinheiten aus Westdeutschland heranschaffen. Mit ihnen wurde schweres Gerät, Räumpanzer und Wasserwerfer eingeflogen. Ohnehin waren schon 10.000 Polizisten im Einsatz. Nachher dankte er der Polizei für ihren Einsatz und »entschuldigtete« sich bei den eingeschlossen Kreuzbergern ohne von der Ungeheuerlichkeit der Abriegelung auch nur einen Millimeter abzurücken. Solche Aktionen können sich also jederzeit wiederholen!

Zur Rechtfertigung des geplanten Ausnahmezustands brauchte der Senat den Krawall und führte ihn bewußt herbei. In der Woche vor dem Besuch des US-Präsidenten wurde systematisch Scharfmache gegen die geplanten Demonstrationen betrieben, indem das Schreckensbild anreisender wüster Horden von Vandalen verbreitet wurde.

Für die Demonstration am 11.6.1987, am Vorabend des Besuchs, hatten über 150 Parteien, Organisationen und Vereine aufgerufen. Rund 50.000 Menschen demonstrierten gegen die Rüstungspolitik der USA, gegen den von den USA betriebenen schmutzigen Krieg in Mittelamerika und für Berlin (West) als Stadt des Friedens und der Entspannung.

Sie demonstrierten dagegen, daß Ronald Reagan in West-Berlin Gelegenheit erhält, mit seinen Parolen des kalten Kriegs aufzutreten. Die Demonstration verlief bis kurz vor dem Abschluß weitgehend friedlich.

Es gibt mehrere Indizien, die darauf hindeuten, daß die polizeiliche Einsatzleitung den Glasbruch gegen Ende der Demonstration vom KaDeWe bis zum Nollendorfplatz gesteuert, wenn nicht gar bewußt provoziert hat. So befand sich zum Zeitpunkt, an dem der autonome Block das KaDeWe passierte, eine Gruppe von neonazistischen Schlägern, Skins, mitten unter den Polizisten. Es flogen Steine in den autonomen Block, wer sie warf ist aber unklar. Das KaDeWe selbst war im Unterschied zum Aufgebot bei vergleichbaren Anlässen auffallend gering geschützt. Dieses Zusammenspiel von Provokation und gebotener Gelegenheit mag es gewesen sein, die zu den Steinwürfen führte, auf die die Polizei mit einem massiven Knüppeleinsatz gegen umstehende Demonstranten antwortete. Die Eskalation war da und der Weg frei. Denn während bis dahin die Demonstration von einem massiven sog. mobilen Objektschutz begleitet wurde, war vom Wittenbergplatz bis zum Nollendorfplatz keine Polizei zu sehen - zumindest bis zum Beginn des Glasbruchs.

Ob gesteuert oder nicht, die Scherben passten ins Konzept. Kewenig und die Polizeiführung hatten sie sogar bitter nötig. Denn sie brauchten sie um damit das weitere polizeiliche Vorgehen zu rechtfertigen.

In den Tagen vor dem Besuch waren Polizisten höherer Ränge mit Bebauungsplänen im Kiez um die Oranienstraße unterwegs, wohl um ihre nächtlichen Einsätze vorzubereiten. Anwohnern zufolge standen dann in den Nächten von Donnerstag, Freitag und Samstag in bestimmten Ecken versteckte Greiftrupps bereit. Ihre Aufgabe war es offensichtlich, Menschen festzunehmen oder zu verprügeln, die vor den Schlagstockeinsätzen der Polizei über die Hinterhöfe flüchteten.

So etwas spricht nicht gerade dafür, daß es sich bei der brutalen polizeilichen Willkür in den Kreuzberger Nächten »nur« um Übergriffe einzelner überarbeiteter Polizisten gehandelt hat. Es ist ein deutliches Indiz für eine systematisch vorbereitete Eskalation von Seiten der Polizei. Auch die Polizeimauer um Kreuzberg war mit Sicherheit nicht das Produkt eines Tages. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen mußten die lange prophezeiten und regelrecht herbeigeredeten Ausschreitungen am Vorabend des Reagan-Besuchs einfach stattfinden.

Wenn solche Rechtfertigungen nicht vorhanden waren, mußte eben schlicht gelogen werden. So behauptete die Polizei gegenüber der Presse, aus der Spontandemonstration am Tauentzien vom 12.6. seien Steine geflogen, daher habe man sie eingekesselt. Dies ist nachweislich falsch. Der kurze Demonstrationszug verlief vollkommen friedlich. Im Nachhinein auf diesen Punkt angesprochen, hüllte sich die Polizei in Schweigen. Aber daß über 500 Menschen bis zu 5 1/2 Stunden in einem Kessel gefangengehalten wurden, daß auf sie und Umherstehende wahllos eingeprügelt wurde, daß bleibt bestehen.

Die brutale Willkür traf viele - Ziel waren alle Oppositionellen!

Am Tag des Reagan-Besuchs ging es dem Innensenator nicht darum, Krawalle zu verhindern. Jeglicher Protest gegen den Besuch von Reagan sollte verhindert werden. Dazu wurden drei, vom Bündnis der großen Demo am Vorabend angemeldete Kundgebungen am Kudamm kurzfristig verboten. Alle, die auch nur entfernt demonstrationswillig aussahen, wurden durchsucht. Es genügte eine schwarze Lederjacke zu tragen oder ein falsches Flugblatt dabei zu haben, um bis zum darauffolgenden Abend im Gefängnis zu landen.

Der Einsatz der Polizei zielte darauf ab, Protest gegen den Reagen-Besuch schon lange vor seinem eigentlichen Zustandekommen zu unterbinden. Die demokratischen Grundrechte der Freizügigkeit, der körperlichen Unversehrtheit, der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht wurden dem polizeilichen Kalkül untergeordnet. Mehr noch: Die Grundrechte waren auf Anordnung des Senats aufgehoben.

Kewenig hatte »Rigorosität und Härte« im Umgang mit oppositionellen Bewegungen in der Stadt angekündigt. Die Tage um den Reagan-Besuch haben gezeigt, daß er und die Polizeiführung dabei vor nichts zurückschrecken. Für sie scheint es erst dann »Ruhe und Ordnung« zu geben, wenn jegliche Opposition auf der Straße unterbunden worden ist.

Bislang deutet nichts darauf hin, daß der Senat von dieser Politik Abstand genommen hat. Es ist also zu erwarten, daß sich die Ereignisse jederzeit wiederholen können, vermutlich in einer noch extremeren Form. Diese Politik muß sofort unterbunden werden, sonst stehen unserer Stadt schlimme Zeiten bevor, in der keiner mehr vor staatlicher Willkür sicher ist.


Bilanz | EA | Ereignisse 2 3 | Kessel | Kreuzberger Nächte | Lebensgefahr | Polizeifunk | Sani | Ströbele